1602 in Thüringen geboren, erlangte der Jesuitenpater Athanasius Kircher in ganz Europa einen legendären Ruf als wissenschaftliches Orakel. Nach Rom berufen, errichtete er nicht nur das erste öffentlich zugängliche Kuriositätenkabinett, sondern erfand unter anderem Abhöranlagen, Musik komponierende Maschinen und eine Sonnenblumenuhr. All die Wunder der Welt waren Kircher zu entziffernde Hinweise auf die Ordnung und die Güte Gottes. Doch während er mit seinen schier grenzenlosen Interessen vom Vulkanismus bis zur chinesischen Kultur lange als Virtuose barocker Gelehrsamkeit galt, geriet sein Wirken mit dem Aufkommen des modernen wissenschaftlichen Denkens noch zu seinen Lebzeiten in den Ruch der Scharlatanerie. Andreas Bähr erzählt die atemberaubende Biografie Kirchers, die Romanautoren wie Daniel Kehlmann und Umberto Eco inspirierte, auf kunstvolle Art - anhand von Begriffen wie »Waffen«, »Schiffbruch«, »Wunderkinder«, »Rattenfänger« oder »Schokolade«. So entsteht eine Form der barocken Enzyklopädie, die nicht nur ein neues Licht auf den Weltenleser wirft, sondern auch seine Lebenswelt auf beispiellose Weise anschaulich werden lässt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2023An der Muschel entziffert sich die Schöpfung
Mit der richtigen
Schokolade sind die Weltgeheimnisse fast schon gelöst: Andreas Bähr stellt Athanasius Kircher vor.
Von Achim Landwehr
Von Achim Landwehr
Man wird Athanasius Kircher mit der Feststellung kaum unrecht tun, er sei der Gegenwart des 21. Jahrhunderts weitgehend abhandengekommen. Im Gegensatz zu anderen Wissenschaftlern des siebzehnten Jahrhunderts, im Gegensatz also zu Galilei, Kepler, Leibniz oder Newton, mit denen Kircher Phasen seiner Lebenszeit teilte, findet er sich heutzutage kaum als Straßenname oder für die Benennung wissenschaftlicher Institutionen verewigt. Und das nicht, weil er in seiner Wirkungszeit weniger bedeutsam oder weniger produktiv gewesen wäre (eher im Gegenteil), sondern weil sein Ansatz zur Entschlüsselung der Weltgeheimnisse heute kaum noch anschlussfähig erscheint.
In seinem hervorragenden Buch zu Athanasius Kircher versucht der Historiker Andreas Bähr erst gar nicht, diese Distanz zu leugnen. Er stellt uns den Jesuiten Kircher, 1602 in einem Dorf in der Rhön geboren, 1680 in der Weltstadt Rom weltberühmt gestorben, als einen Zeichendeuter vor. Kircher erweist sich als jemand, der bereit ist, überall Hinweise auf den universalen Schöpfungsplan zu entdecken. Er setzte dabei weniger auf Experimente oder Instrumente, sondern eher auf die Gewissheit eines Weltganzen, das zu entbergen war - und zwar vornehmlich in der Gelehrtenstube. Die Befragung der Bibel oder das Zwiegespräch mit der Jungfrau Maria konnte dabei ebenso bedeutsam sein wie das Studium antiker Texte.
Bähr führt uns einen enorm produktiven Kircher vor, der so viel schrieb, dass sich Zeitgenossen seinen Ausstoß an Veröffentlichungen nur durch das gleichzeitige Schreiben mit zwei Händen erklären konnten - und der mit seinem Publikationsfuror heutzutage kaum dem Plagiatsvorwurf entgehen würde. Er verfasste voluminöse Werke, die inzwischen nur noch mit Spezialkenntnissen in frühneuzeitlicher Wissenschaftsgeschichte sowie sehr gutem Latein zu bewältigen sind. Und nicht zuletzt baute er seine eigene Wunderkammer auf, das unter Zeitgenossen legendäre "Museum Kircherianum", mit dem er im Namen der katholischen Kirche das Wunderbare der Schöpfung vorführen wollte: gänzlich verständlich und letztlich doch unbegreiflich.
Bähr versucht in seinem sehr gut geschriebenen, konzentriert und essayistisch angelegten Buch nun nicht, dem kolossalen Werk dieses Universalgelehrten mit einer kolossalen Gesamtwürdigung zu begegnen. Er arbeitet sich auch nicht an der biographischen Chronologie ab. Das Irritierende und zugleich Faszinierende an Athanasius Kircher lässt er vielmehr aufscheinen durch den Blick auf zentrale Begrifflichkeiten. Neugierig machen beispielsweise Kapitel zu Schiffbruch, Träumen, Wunderkindern, Rattenfängern oder Schokolade. Dadurch kommt keine - ohnehin unerreichbare - Gesamtschau zustande. Aber der Blick wird geöffnet für die eigentümliche Verbindung von Leben und Arbeiten dieses Barockgelehrten, wenn die aus Südamerika angelieferte Schokolade für Kircher nicht nur arbeitsfördernder Genuss ist, sondern zugleich seine weltweiten wissenschaftlichen Verbindungen offenbart.
Dieser Zugang erfordert beim Lesen ein wenig Geduld. Eine Vorstellung von der Figur Kirchers setzt sich erst allmählich zusammen. Und die konzentrierte Vorgehensweise von Bähr fordert auch Verzicht, wenn beispielsweise die Hieroglyphen, die dem Zeichendeuter Kircher so wichtig waren, nicht gar so ausführlich behandelt werden oder wenn das große Interesse des Gelehrten an Nachrichten aus China eher im Hintergrund bleibt. Aber wer sich darauf einlässt, wird durch die Lektüre belohnt.
Bleibt die Frage, weshalb man sich im 21. Jahrhundert mit Kircher, dieser Kombination aus griechischer Gelehrtheit und provinzieller Frömmigkeit, beschäftigen sollte. Ist es mehr als skurril, wenn wir bei Bähr lernen, wie Kircher einen Zusammenhang zwischen Kröten und Pest herstellte oder wie er Muscheln das Geheimnis der Metamorphose der Schöpfung zu entlocken meinte?
Man könnte versucht sein, Kircher entweder durch den Bezug zu aktuellen Wissenschaften zu modernisieren oder als Enigma der barocken Unverständlichkeit zu exotisieren. Bähr tut erfreulicherweise keines von beidem. Aber er macht mit seinem Buch deutlich, dass es sich bei Athanasius Kircher um eine Figur handelt, die auf der Schwelle zu einem Zeitraum europäischer Geschichte steht, der sich selbstbewusst als "Neuzeit" bezeichnen wird. Er reichte in sie bereits hinein und war doch nicht Teil von ihr. Er analysierte im Detail und suchte doch immer die Zusammenhänge im großen Ganzen. Er argumentierte rational und war sich doch sicher, dass da noch etwas Unbegreifliches am Werk war.
Das Buch von Bähr hält einer Gegenwart den Spiegel vor, die sich ebenfalls als Schwelle begreift und in der Vorgänge im Mikroskopischen auf verunsichernde Weise mit Entwicklungen im ganz Großen gekoppelt sind. Was Athanasius Kircher im siebzehnten Jahrhundert Zeichen lesend als Relationen zwischen unterschiedlichen Sphären der Schöpfung zu begreifen versuchte, hört heute methodisch auf den Namen eines ökologischen Denkens.
Andreas Bähr: "Athanasius Kircher". Ein Leben für die Entzifferung der Welt.
Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2023. 224 S., Abb., br., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit der richtigen
Schokolade sind die Weltgeheimnisse fast schon gelöst: Andreas Bähr stellt Athanasius Kircher vor.
Von Achim Landwehr
Von Achim Landwehr
Man wird Athanasius Kircher mit der Feststellung kaum unrecht tun, er sei der Gegenwart des 21. Jahrhunderts weitgehend abhandengekommen. Im Gegensatz zu anderen Wissenschaftlern des siebzehnten Jahrhunderts, im Gegensatz also zu Galilei, Kepler, Leibniz oder Newton, mit denen Kircher Phasen seiner Lebenszeit teilte, findet er sich heutzutage kaum als Straßenname oder für die Benennung wissenschaftlicher Institutionen verewigt. Und das nicht, weil er in seiner Wirkungszeit weniger bedeutsam oder weniger produktiv gewesen wäre (eher im Gegenteil), sondern weil sein Ansatz zur Entschlüsselung der Weltgeheimnisse heute kaum noch anschlussfähig erscheint.
In seinem hervorragenden Buch zu Athanasius Kircher versucht der Historiker Andreas Bähr erst gar nicht, diese Distanz zu leugnen. Er stellt uns den Jesuiten Kircher, 1602 in einem Dorf in der Rhön geboren, 1680 in der Weltstadt Rom weltberühmt gestorben, als einen Zeichendeuter vor. Kircher erweist sich als jemand, der bereit ist, überall Hinweise auf den universalen Schöpfungsplan zu entdecken. Er setzte dabei weniger auf Experimente oder Instrumente, sondern eher auf die Gewissheit eines Weltganzen, das zu entbergen war - und zwar vornehmlich in der Gelehrtenstube. Die Befragung der Bibel oder das Zwiegespräch mit der Jungfrau Maria konnte dabei ebenso bedeutsam sein wie das Studium antiker Texte.
Bähr führt uns einen enorm produktiven Kircher vor, der so viel schrieb, dass sich Zeitgenossen seinen Ausstoß an Veröffentlichungen nur durch das gleichzeitige Schreiben mit zwei Händen erklären konnten - und der mit seinem Publikationsfuror heutzutage kaum dem Plagiatsvorwurf entgehen würde. Er verfasste voluminöse Werke, die inzwischen nur noch mit Spezialkenntnissen in frühneuzeitlicher Wissenschaftsgeschichte sowie sehr gutem Latein zu bewältigen sind. Und nicht zuletzt baute er seine eigene Wunderkammer auf, das unter Zeitgenossen legendäre "Museum Kircherianum", mit dem er im Namen der katholischen Kirche das Wunderbare der Schöpfung vorführen wollte: gänzlich verständlich und letztlich doch unbegreiflich.
Bähr versucht in seinem sehr gut geschriebenen, konzentriert und essayistisch angelegten Buch nun nicht, dem kolossalen Werk dieses Universalgelehrten mit einer kolossalen Gesamtwürdigung zu begegnen. Er arbeitet sich auch nicht an der biographischen Chronologie ab. Das Irritierende und zugleich Faszinierende an Athanasius Kircher lässt er vielmehr aufscheinen durch den Blick auf zentrale Begrifflichkeiten. Neugierig machen beispielsweise Kapitel zu Schiffbruch, Träumen, Wunderkindern, Rattenfängern oder Schokolade. Dadurch kommt keine - ohnehin unerreichbare - Gesamtschau zustande. Aber der Blick wird geöffnet für die eigentümliche Verbindung von Leben und Arbeiten dieses Barockgelehrten, wenn die aus Südamerika angelieferte Schokolade für Kircher nicht nur arbeitsfördernder Genuss ist, sondern zugleich seine weltweiten wissenschaftlichen Verbindungen offenbart.
Dieser Zugang erfordert beim Lesen ein wenig Geduld. Eine Vorstellung von der Figur Kirchers setzt sich erst allmählich zusammen. Und die konzentrierte Vorgehensweise von Bähr fordert auch Verzicht, wenn beispielsweise die Hieroglyphen, die dem Zeichendeuter Kircher so wichtig waren, nicht gar so ausführlich behandelt werden oder wenn das große Interesse des Gelehrten an Nachrichten aus China eher im Hintergrund bleibt. Aber wer sich darauf einlässt, wird durch die Lektüre belohnt.
Bleibt die Frage, weshalb man sich im 21. Jahrhundert mit Kircher, dieser Kombination aus griechischer Gelehrtheit und provinzieller Frömmigkeit, beschäftigen sollte. Ist es mehr als skurril, wenn wir bei Bähr lernen, wie Kircher einen Zusammenhang zwischen Kröten und Pest herstellte oder wie er Muscheln das Geheimnis der Metamorphose der Schöpfung zu entlocken meinte?
Man könnte versucht sein, Kircher entweder durch den Bezug zu aktuellen Wissenschaften zu modernisieren oder als Enigma der barocken Unverständlichkeit zu exotisieren. Bähr tut erfreulicherweise keines von beidem. Aber er macht mit seinem Buch deutlich, dass es sich bei Athanasius Kircher um eine Figur handelt, die auf der Schwelle zu einem Zeitraum europäischer Geschichte steht, der sich selbstbewusst als "Neuzeit" bezeichnen wird. Er reichte in sie bereits hinein und war doch nicht Teil von ihr. Er analysierte im Detail und suchte doch immer die Zusammenhänge im großen Ganzen. Er argumentierte rational und war sich doch sicher, dass da noch etwas Unbegreifliches am Werk war.
Das Buch von Bähr hält einer Gegenwart den Spiegel vor, die sich ebenfalls als Schwelle begreift und in der Vorgänge im Mikroskopischen auf verunsichernde Weise mit Entwicklungen im ganz Großen gekoppelt sind. Was Athanasius Kircher im siebzehnten Jahrhundert Zeichen lesend als Relationen zwischen unterschiedlichen Sphären der Schöpfung zu begreifen versuchte, hört heute methodisch auf den Namen eines ökologischen Denkens.
Andreas Bähr: "Athanasius Kircher". Ein Leben für die Entzifferung der Welt.
Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2023. 224 S., Abb., br., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Einen heute weithin vergessenen Universalgelehrten stellt Andreas Bähr in seinem Buch vor, führt Rezensent Achim Landwehr aus. Der seinerzeit enorm einflussreiche Athanasius Kircher suchte die Welt nach Zeichen des Wirken Gottes ab, erläutert Landwehr, allerdings nicht im Sinne empirischer Forschung, sondern vom eigenen Schreibtisch aus, in Gewissheit der religiösen Totalität. Bähr hat ein sehr schönes Buch über Kirchner geschrieben, findet der Rezensent, unter anderem weil er nicht versucht, das Werk des Gelehrten komplett zu würdigen, sondern von einzelnen Gegenstandsbereichen ausgeht, zum Beispiel Kirchners Beschäftigung mit Schokolade. Es dauert ein wenig, bis man sich ein Bild machen kann von Kirchner, konzediert Bähr, aber dranbleiben lohnt sich. Warum aber sollen wir uns heute noch mit diesem religiösen Zeichenleser beschäftigen? Bähr versucht weder, Kirchner zwanghaft in die Gegenwart zu holen, noch kapselt er ihn in der Vergangenheit ein, freut sich Landwehr. Vielmehr zeichne er das Bild eines Forschers, dessen Werk bereits auf die Neuzeit verweist ohne schon Teil von ihr zu sein; und das durchaus mit heutigen Gedanken über Ökologie kommuniziere.
© Perlentaucher Medien GmbH
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