Gott ist tot! Nur welcher? Schon lange sind die Traueranzeigen für einen Gott im Umlauf, den wir uns als übermächtigen Agenten oder als souverän existierenden Geist im quasi-raumzeitlichen Jenseits vorstellen. Eine sich atheistisch verstehende Theologie macht gegen alle zeitgenössischen Versuche theistischer Revisionen mit der Grablegung Gottes ernst. Zugleich wendet sie sich gegen Programme, die den religiösen Glauben auf eine moralische Lebensführung, einen seelischen Zustand oder ein ganz bei sich bleibendes Selbstverhältnis reduzieren. Die atheistische Alternative wird sichtbar, wenn der religiöse Glaube als eine konkrete Perspektive auf alles, was uns umgibt, verstanden wird. Nichts Neues jenseits der Welt wird dann behauptet, sondern eine ganz neue Sicht auf diese eine Welt eingeübt. Was das konkret heißen kann, veranschaulicht dieser Essay und macht deutlich, dass der Atheismus nicht den Sinn des Glaubens verneint - im Gegenteil: Atheismus und der Glaube an Gott schließen sich nicht aus. Vielmehr präzisiert der Atheismus, was es mit Gott noch heute auf sich haben kann.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.05.2023In der Schwebe einer Theologie des Sonnabends
Auf dem modernen Markt der Sinnstiftungen: Hartmut von Sass macht sich Gedanken über einen zeitgemäßen Gottesglauben
"Glaubensangebot" ist ein Wort, das sich in christlichen Kreisen einer gewissen Beliebtheit erfreut. Es signalisiert eine Bescheidenheit, die zeitgemäß erscheint angesichts des allenthalben registrierten "Glaubensverlusts" - das komplementäre Kompositum gehört gleichfalls zum theologischen Grundwortschatz der Gegenwart. Nicht minder zeitgemäß mag die mit dem Wort einhergehende Assoziation eines Marktes sein, auf dem Anbieter auf Nachfrage zu stoßen hoffen. Hartmut von Sass hat ein Büchlein übers Glauben verfasst, das als Glaubensangebot eigener Art gelesen werden kann, auch wenn der Ausdruck als solcher darin nicht auftaucht. Der "theologische Essay" wendet sich erklärtermaßen an eine "breitere Leserschaft", an religiös Musikalische wie Unmusikalische. Im Sinn, schreibt der Theologe und Religionsphilosoph eingangs, habe er konkrete Personen gehabt: einen "wohlwollenden Zweifler", der nach Antworten suche, eine "gläubige Theologin" im Pfarramt und eine "etwas spöttische Schriftstellerin", die "bestenfalls amüsiert" beobachte, was sich in der Welt des Glaubens so alles zutrage.
Amüsant bis komisch könnte in manchen Ohren der (auf eine Sammlung von Aufsätzen Dorothee Sölles anspielende) Titel klingen: "Atheistisch glauben". Zielt er etwa auf den weltanschaulichen Eifer von Atheisten, die insoweit "gläubig" sind, als sie gleichsam auf dem Altar der Gottlosigkeit opfern? Nein, so ist der Titel nicht gemeint. Es geht dem Autor durchaus um christlichen Glauben. "Atheistisch" kann also in der titelgebenden Verbindung nicht gleichbedeutend sein mit "irreligiös" oder "ungläubig". Und es soll damit auch nicht das gerade Gegenteil von "theistisch" ausgedrückt sein, denn für Sass bilden Theismus und Atheismus keine erschöpfende Alternative; gibt es auf dem Terrain des religiösen Glaubens mehr als nur diese beiden Möglichkeiten. Er möchte etwas "jenseits dieses binären Codes" ins Auge fassen; darum verblüfft ein wenig, dass er das Gesuchte gleichwohl unter die Überschrift "Atheistisch glauben" stellt.
Sollen damit Zweifler und Spötter angelockt, soll die Glaubensnachfrage stimuliert werden? Ist der Impuls im Spiel, den echten Atheisten, die jeden Gottesglauben für inhaltslosen (und womöglich gefährlichen) Nonsens halten, ihren Kampfbegriff zu entwenden und durch Umprägung einzugemeinden? In Sassens Verwendung des Ausdrucks "atheistisch" verneint das "a" in der Hauptsache jedenfalls die Vorstellung, Gott sei so etwas wie eine "Quasi-Person" oder "Super-Person", ein "Agent", der hinter allem Weltgeschehen ausfindig zu machen sei. Auch die bildhafte Charakterisierung Gottes als "Hirte", "Herr" oder "Vater" erscheint in dieser Blickrichtung mindestens als naiv.
Und das möchte der Glaube, wie Sass ihn beschreibt, erkennbar keinesfalls sein: naiv. Er soll in unser "nach-metaphysisches Zeitalter" passen. Wie in dieser Epoche der Glaube an Gott "überhaupt aussehen könnte", das sei die Grundfrage. Das Zeitalter ist mithin die maßgebliche, die normierende Instanz, die als solche - als Quasi-Akteur? - freilich nicht zum Thema wird. Es diktiert anscheinend - als oberste Regulierungsbehörde? - die "post-theistischen Konditionen", von denen Sass an anderer Stelle spricht. Es wären dies, um im ökonomischen Sprachbild zu bleiben, die Bedingungen, deren Erfüllung einem religiösen Glaubensangebot den Zugang zum modernen Markt der Weltanschauungen und Sinnorientierungen eröffnet.
So wie Gott kein alter, weiser Mann mit langem Bart, so soll der Gottesglaube keine ungenügende Form des Wissens sein, sondern eine Art und Weise zu leben und die Welt zu sehen, sie "anders" zu sehen. Und die "Tätigkeit" des Glaubens soll, wiewohl sie in religiösen Riten, in Liturgien, Gebeten und Gesängen besondere Ausdrucksgestalten finden kann, kein eigener "Akt" sein, sondern eine Weltsicht, die die Existenz des glaubenden Menschen im Ganzen bestimme und durchstimme. Zu diesem Ganzen gehöre wesentlich auch der wiederkehrende Glaubenszweifel (Stichwort "Anfechtung"), ohne den der Glaube sozusagen unglaubwürdig würde: "Ein Glaube, der sich selbst in angeblich sicheren Gewissheiten wähnt, ist ein Widerspruch in sich". Stattdessen gelte es, "Gottes Wirken [...] innerhalb des Glaubens zur Frage werden zu lassen". Die umständliche Formulierung erinnert von nicht ganz fern an das, was einst Friedrich Nietzsche - leicht maliziös - über Agnostiker bemerkte, die die Frage nach der Existenz Gottes für unbeantwortbar erachten: Manche von ihnen neigten dazu, das Fragezeichen als ihren Gott anzubeten.
So weit will der Autor es wohl doch nicht kommen lassen. Einstweilige Rettung verspricht, am Ende des Büchleins, der Karsamstag. In der Dramaturgie des Osterwochenendes steht in der Zeit zwischen Kreuz und Auferstehung die Heilsgeschichte still. Der Karsamstag ist der Augenblick, in dem, wie Hartmut von Sass schreibt, "die Dinge nicht entschieden sind und ihre Ambivalenz auszuhalten wäre". Offen bleibt, ob die geforderte "Theologie des Sonnabends" diesen Augenblick der Unentschiedenheit nicht doch zur - heillosen - Ewigkeit ausdehnt. UWE JUSTUS WENZEL
Hartmut von Sass: "Atheistisch glauben". Ein theologischer Essay.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2022. 150 S., br., 14,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf dem modernen Markt der Sinnstiftungen: Hartmut von Sass macht sich Gedanken über einen zeitgemäßen Gottesglauben
"Glaubensangebot" ist ein Wort, das sich in christlichen Kreisen einer gewissen Beliebtheit erfreut. Es signalisiert eine Bescheidenheit, die zeitgemäß erscheint angesichts des allenthalben registrierten "Glaubensverlusts" - das komplementäre Kompositum gehört gleichfalls zum theologischen Grundwortschatz der Gegenwart. Nicht minder zeitgemäß mag die mit dem Wort einhergehende Assoziation eines Marktes sein, auf dem Anbieter auf Nachfrage zu stoßen hoffen. Hartmut von Sass hat ein Büchlein übers Glauben verfasst, das als Glaubensangebot eigener Art gelesen werden kann, auch wenn der Ausdruck als solcher darin nicht auftaucht. Der "theologische Essay" wendet sich erklärtermaßen an eine "breitere Leserschaft", an religiös Musikalische wie Unmusikalische. Im Sinn, schreibt der Theologe und Religionsphilosoph eingangs, habe er konkrete Personen gehabt: einen "wohlwollenden Zweifler", der nach Antworten suche, eine "gläubige Theologin" im Pfarramt und eine "etwas spöttische Schriftstellerin", die "bestenfalls amüsiert" beobachte, was sich in der Welt des Glaubens so alles zutrage.
Amüsant bis komisch könnte in manchen Ohren der (auf eine Sammlung von Aufsätzen Dorothee Sölles anspielende) Titel klingen: "Atheistisch glauben". Zielt er etwa auf den weltanschaulichen Eifer von Atheisten, die insoweit "gläubig" sind, als sie gleichsam auf dem Altar der Gottlosigkeit opfern? Nein, so ist der Titel nicht gemeint. Es geht dem Autor durchaus um christlichen Glauben. "Atheistisch" kann also in der titelgebenden Verbindung nicht gleichbedeutend sein mit "irreligiös" oder "ungläubig". Und es soll damit auch nicht das gerade Gegenteil von "theistisch" ausgedrückt sein, denn für Sass bilden Theismus und Atheismus keine erschöpfende Alternative; gibt es auf dem Terrain des religiösen Glaubens mehr als nur diese beiden Möglichkeiten. Er möchte etwas "jenseits dieses binären Codes" ins Auge fassen; darum verblüfft ein wenig, dass er das Gesuchte gleichwohl unter die Überschrift "Atheistisch glauben" stellt.
Sollen damit Zweifler und Spötter angelockt, soll die Glaubensnachfrage stimuliert werden? Ist der Impuls im Spiel, den echten Atheisten, die jeden Gottesglauben für inhaltslosen (und womöglich gefährlichen) Nonsens halten, ihren Kampfbegriff zu entwenden und durch Umprägung einzugemeinden? In Sassens Verwendung des Ausdrucks "atheistisch" verneint das "a" in der Hauptsache jedenfalls die Vorstellung, Gott sei so etwas wie eine "Quasi-Person" oder "Super-Person", ein "Agent", der hinter allem Weltgeschehen ausfindig zu machen sei. Auch die bildhafte Charakterisierung Gottes als "Hirte", "Herr" oder "Vater" erscheint in dieser Blickrichtung mindestens als naiv.
Und das möchte der Glaube, wie Sass ihn beschreibt, erkennbar keinesfalls sein: naiv. Er soll in unser "nach-metaphysisches Zeitalter" passen. Wie in dieser Epoche der Glaube an Gott "überhaupt aussehen könnte", das sei die Grundfrage. Das Zeitalter ist mithin die maßgebliche, die normierende Instanz, die als solche - als Quasi-Akteur? - freilich nicht zum Thema wird. Es diktiert anscheinend - als oberste Regulierungsbehörde? - die "post-theistischen Konditionen", von denen Sass an anderer Stelle spricht. Es wären dies, um im ökonomischen Sprachbild zu bleiben, die Bedingungen, deren Erfüllung einem religiösen Glaubensangebot den Zugang zum modernen Markt der Weltanschauungen und Sinnorientierungen eröffnet.
So wie Gott kein alter, weiser Mann mit langem Bart, so soll der Gottesglaube keine ungenügende Form des Wissens sein, sondern eine Art und Weise zu leben und die Welt zu sehen, sie "anders" zu sehen. Und die "Tätigkeit" des Glaubens soll, wiewohl sie in religiösen Riten, in Liturgien, Gebeten und Gesängen besondere Ausdrucksgestalten finden kann, kein eigener "Akt" sein, sondern eine Weltsicht, die die Existenz des glaubenden Menschen im Ganzen bestimme und durchstimme. Zu diesem Ganzen gehöre wesentlich auch der wiederkehrende Glaubenszweifel (Stichwort "Anfechtung"), ohne den der Glaube sozusagen unglaubwürdig würde: "Ein Glaube, der sich selbst in angeblich sicheren Gewissheiten wähnt, ist ein Widerspruch in sich". Stattdessen gelte es, "Gottes Wirken [...] innerhalb des Glaubens zur Frage werden zu lassen". Die umständliche Formulierung erinnert von nicht ganz fern an das, was einst Friedrich Nietzsche - leicht maliziös - über Agnostiker bemerkte, die die Frage nach der Existenz Gottes für unbeantwortbar erachten: Manche von ihnen neigten dazu, das Fragezeichen als ihren Gott anzubeten.
So weit will der Autor es wohl doch nicht kommen lassen. Einstweilige Rettung verspricht, am Ende des Büchleins, der Karsamstag. In der Dramaturgie des Osterwochenendes steht in der Zeit zwischen Kreuz und Auferstehung die Heilsgeschichte still. Der Karsamstag ist der Augenblick, in dem, wie Hartmut von Sass schreibt, "die Dinge nicht entschieden sind und ihre Ambivalenz auszuhalten wäre". Offen bleibt, ob die geforderte "Theologie des Sonnabends" diesen Augenblick der Unentschiedenheit nicht doch zur - heillosen - Ewigkeit ausdehnt. UWE JUSTUS WENZEL
Hartmut von Sass: "Atheistisch glauben". Ein theologischer Essay.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2022. 150 S., br., 14,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Uwe Justus Wenzel wird nicht recht schlau aus dem Buch von Hartmut von Sass. Will der Autor in seinem "theologischen Essay", das er als Glaubensangebot versteht, nun dem Theismus oder dem Atheismus das Wort reden? Wohl keins von beiden, stellt Wenzel schließlich fest. Vielmehr sucht Sass nach einem dritten Weg, ahnt der Rezensent, einem, der sowohl zeitgemäß ist als auch Platz für den Zweifel lässt. Ob sich die "breite Leserschaft", die der Autor damit anpeilt, gewinnen lässt, möchte Wenzel nicht beurteilen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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