Angelpunkt des Romans ist der 13. Dezember 1943, an dem die deutsche Wehrmacht als sogenannte "Sühnemaßnahme" für Partisanenüberfälle die gesamte männliche Bevölkerung des griechischen Bergdorfs Kalavryta auf der Peloponnes ermorden ließ. Anders als das französische Oradour-sur-Glane, das der Nachwelt vollständig als Ruine erhalten blieb, wurde Kalavryta von den zurückgebliebenen Frauen über den Trümmern wiederaufgebaut. - Stefanopoulous Roman stellt das Trauma der Überlebenden in der Perspektive von vier Frauen dar; sie repräsentieren die Auseinandersetzung mit dem Erinnern über die Generationen: die Großmutter, die in ihrem Hass auf Deutsche wie auf Partisanen und in ihrer Trauer um Mann und Sohn verstummt ist; die Tochter, die in der Großstadt alles vergessen will; die Enkelin, die nach Kalavryta zurückkehrt; und die Urenkelin, die sich schließlich aus dem Zirkel der Trauer lösen kann. - Die Publikation der deutschen Übersetzung wird mit Mitteln des Auswärtigen Amts gefördert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.01.2020Als Iokaste ins Zweifeln geriet
Erinnerung, sprich: Maria Stefanopoulou erzählt in ihrem Roman "Athos, der Förster" von den weiten Kreisen, die das Massaker von Kalavryta bis heute zieht.
Kurz vor Weihnachten 1943 verübten Soldaten der Wehrmacht auf der griechischen Peloponnes ein Massaker. Eine Vergeltungsaktion. Nur wenige Tage zuvor hatten griechische Partisanen knapp achtzig gefangene deutsche Soldaten erschossen. Nun nahmen die Deutschen in jenen Dörfern Rache, in denen sie die größte Unterstützung für die Partisanen vermuteten. Eines davon war Kalavryta, dessen männliche Einwohner, auch Kinder, auf einen Hügel nahe des Waldrandes geführt und ermordet wurden. Die Frauen hatten die Deutschen in eine Kirche gesperrt, die sie in Brand steckten. Allerdings konnten alle Frauen aus der brennenden Kirche fliehen.
Wenn später in Griechenland von dem Massaker erzählt wurde, dann also entweder aus weiblicher Perspektive oder aus Sicht der wenigen Überlebenden, denn von den zwischen 500 und 800 Männern aus Kalavryta (über die genaue Zahl der Hingerichteten gibt es unterschiedliche Angaben) überlebten genau dreizehn das Massaker. Einer von ihnen, Athos, tritt als Ich-Erzähler in dem Roman "Athos, der Förster" von Maria Stefanopoulou auf. Neben ihm tragen die Erzählstimmen seiner Frau, seiner Tochter, Enkelin und Urenkelin das Geschehen aus der Vergangenheit in die Gegenwart weiter. Dabei verfügt jede Figur über eine eigene, unverkennbare Stimme. Je weiter entfernt sie vom Massaker steht, desto klarer wird ihre Sprache.
Während Athos noch orientierungslos durch den Wald irrt, in dem er letztlich Zuflucht findet, sucht seine Frau Marianthi das Trauma über den Verlust von Mann und Sohn durch klare Gedanken über Schuld und Sühne zu bannen. Wobei sie die Schuldigen erstaunlicherweise nicht nur unter Deutschen findet, sondern auch unter denen, derer sie besser habhaft werden kann, den Partisanen. Sie hätten mit ihren Angriffen die Deutschen provoziert, meint Marianthi und offenbart in ihrem Denken einen Hinweis auf die innergriechische Zerrissenheit, die das Land nach dem Ende des Weltkrieges in einen Bürgerkrieg führte. Wie fast alle Figuren in dem Roman steht auch Marianthi nicht für sich allein, sondern ist als Repräsentantin einer Generation zu sehen, die ihre jeweils eigene Art des Erinnerns pflegt. Marianthi lassen Schrecken und Gewalt versteinern. Ihre Tochter Margarita, die zum Zeitpunkt des Massakers elf Jahre alt war, kann sich lange Jahre überhaupt nicht erinnern. Erst deren Tochter Lefki nimmt die Trauerarbeit an, zieht nach ihrer Ausbildung an der amerikanischen Ostküste zurück nach Kalavryta und widmet ihr Leben im dortigen Krankenhaus der Schmerztherapie. Der vierten Generation wird das Geschehen in Kalavryta wiederum so fremd, dass Iokaste, Literaturwissenschaftlerin und Urenkelin, schon zweifelt, ob es sich bei der Geschichte ihrer Familie überhaupt um Wahrheit oder doch um Fiktion handelt.
Fest steht, dass es diese letztgeborene Iokaste ist, die den Roman aus den Aufzeichnungen zusammenfügt, die sie im Nachlass ihrer Mutter findet. In vierzehn multiperspektivischen Kapiteln setzt sie das Geschehen zusammen: Nach dem Massaker floh Athos verwundet in den Wald, aus dem er nie mehr zurückkehrte. Jahrzehntelang lebte er in einer Hütte oben im Chelmos-Gebirge, ein paar Jahre sogar in Gesellschaft von Kurt, einem ehemaligen deutschen Wehrmachtssoldaten, der seinerseits das Massaker der Partisanen überlebt hatte. Diese zwei Männer, die tot sein sollten und einander nun am Leben hielten, bilden das interessanteste Paar des Buches. Jeder kennt sie, niemand greift sie an. Man respektiert ihre Entscheidung, in Einsamkeit und Schweigen zu leben, schutzsuchend in einer Natur, die ihnen erlaubt, die Dinge zu durchdenken und erst allmählich Position zu beziehen.
Als Protagonist zu den menschlichen Figuren tritt auf diese Weise die Natur hinzu, die den Roman mit einem mythischen Schleier umhüllt. "Ich wollte, dass mein Tod und meine Errettung Innenleben werden, ähnlich den Säften eines Baumstamms", sagt Athos an einer Stelle und weist damit jede Form von politischer Instrumentalisierung des Massakers zurück. So wird er zur moralischen Autorität, zu einer integren Instanz, die vom Gipfel des Berges herab den Menschen bei ihrer Suche nach Antworten nicht zuletzt auf eine der zentralen Fragen des Buches hilft: Wie soll man gedenken? Mit einem monumentalen Denkmal, wie es am Ort der Hinrichtung in Kalavryta entstanden ist? Mit schlichten Gräbern, die daran erinnern, dass es ein Verbrechen war, das die Männer das Leben kostete? Ein Verbrechen macht niemanden zum Märtyrer. Es produziert auch keine Helden. Aber es überdauert sich, weil die Erinnerung menschliche Beziehungen, gemeinschaftliche Strukturen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt über Generationen zerstören kann. Weil es, wie in dem einfühlsamen, klaren Roman von Maria Stefanopoulou, enorm weite Kreise zieht durch Raum und Zeit.
LENA BOPP
Maria Stefanopoulou: "Athos, der Förster".
Roman.
Aus dem Griechischen von Michaela Prinzinger.
Elfenbein Verlag, Berlin 2019. 245 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erinnerung, sprich: Maria Stefanopoulou erzählt in ihrem Roman "Athos, der Förster" von den weiten Kreisen, die das Massaker von Kalavryta bis heute zieht.
Kurz vor Weihnachten 1943 verübten Soldaten der Wehrmacht auf der griechischen Peloponnes ein Massaker. Eine Vergeltungsaktion. Nur wenige Tage zuvor hatten griechische Partisanen knapp achtzig gefangene deutsche Soldaten erschossen. Nun nahmen die Deutschen in jenen Dörfern Rache, in denen sie die größte Unterstützung für die Partisanen vermuteten. Eines davon war Kalavryta, dessen männliche Einwohner, auch Kinder, auf einen Hügel nahe des Waldrandes geführt und ermordet wurden. Die Frauen hatten die Deutschen in eine Kirche gesperrt, die sie in Brand steckten. Allerdings konnten alle Frauen aus der brennenden Kirche fliehen.
Wenn später in Griechenland von dem Massaker erzählt wurde, dann also entweder aus weiblicher Perspektive oder aus Sicht der wenigen Überlebenden, denn von den zwischen 500 und 800 Männern aus Kalavryta (über die genaue Zahl der Hingerichteten gibt es unterschiedliche Angaben) überlebten genau dreizehn das Massaker. Einer von ihnen, Athos, tritt als Ich-Erzähler in dem Roman "Athos, der Förster" von Maria Stefanopoulou auf. Neben ihm tragen die Erzählstimmen seiner Frau, seiner Tochter, Enkelin und Urenkelin das Geschehen aus der Vergangenheit in die Gegenwart weiter. Dabei verfügt jede Figur über eine eigene, unverkennbare Stimme. Je weiter entfernt sie vom Massaker steht, desto klarer wird ihre Sprache.
Während Athos noch orientierungslos durch den Wald irrt, in dem er letztlich Zuflucht findet, sucht seine Frau Marianthi das Trauma über den Verlust von Mann und Sohn durch klare Gedanken über Schuld und Sühne zu bannen. Wobei sie die Schuldigen erstaunlicherweise nicht nur unter Deutschen findet, sondern auch unter denen, derer sie besser habhaft werden kann, den Partisanen. Sie hätten mit ihren Angriffen die Deutschen provoziert, meint Marianthi und offenbart in ihrem Denken einen Hinweis auf die innergriechische Zerrissenheit, die das Land nach dem Ende des Weltkrieges in einen Bürgerkrieg führte. Wie fast alle Figuren in dem Roman steht auch Marianthi nicht für sich allein, sondern ist als Repräsentantin einer Generation zu sehen, die ihre jeweils eigene Art des Erinnerns pflegt. Marianthi lassen Schrecken und Gewalt versteinern. Ihre Tochter Margarita, die zum Zeitpunkt des Massakers elf Jahre alt war, kann sich lange Jahre überhaupt nicht erinnern. Erst deren Tochter Lefki nimmt die Trauerarbeit an, zieht nach ihrer Ausbildung an der amerikanischen Ostküste zurück nach Kalavryta und widmet ihr Leben im dortigen Krankenhaus der Schmerztherapie. Der vierten Generation wird das Geschehen in Kalavryta wiederum so fremd, dass Iokaste, Literaturwissenschaftlerin und Urenkelin, schon zweifelt, ob es sich bei der Geschichte ihrer Familie überhaupt um Wahrheit oder doch um Fiktion handelt.
Fest steht, dass es diese letztgeborene Iokaste ist, die den Roman aus den Aufzeichnungen zusammenfügt, die sie im Nachlass ihrer Mutter findet. In vierzehn multiperspektivischen Kapiteln setzt sie das Geschehen zusammen: Nach dem Massaker floh Athos verwundet in den Wald, aus dem er nie mehr zurückkehrte. Jahrzehntelang lebte er in einer Hütte oben im Chelmos-Gebirge, ein paar Jahre sogar in Gesellschaft von Kurt, einem ehemaligen deutschen Wehrmachtssoldaten, der seinerseits das Massaker der Partisanen überlebt hatte. Diese zwei Männer, die tot sein sollten und einander nun am Leben hielten, bilden das interessanteste Paar des Buches. Jeder kennt sie, niemand greift sie an. Man respektiert ihre Entscheidung, in Einsamkeit und Schweigen zu leben, schutzsuchend in einer Natur, die ihnen erlaubt, die Dinge zu durchdenken und erst allmählich Position zu beziehen.
Als Protagonist zu den menschlichen Figuren tritt auf diese Weise die Natur hinzu, die den Roman mit einem mythischen Schleier umhüllt. "Ich wollte, dass mein Tod und meine Errettung Innenleben werden, ähnlich den Säften eines Baumstamms", sagt Athos an einer Stelle und weist damit jede Form von politischer Instrumentalisierung des Massakers zurück. So wird er zur moralischen Autorität, zu einer integren Instanz, die vom Gipfel des Berges herab den Menschen bei ihrer Suche nach Antworten nicht zuletzt auf eine der zentralen Fragen des Buches hilft: Wie soll man gedenken? Mit einem monumentalen Denkmal, wie es am Ort der Hinrichtung in Kalavryta entstanden ist? Mit schlichten Gräbern, die daran erinnern, dass es ein Verbrechen war, das die Männer das Leben kostete? Ein Verbrechen macht niemanden zum Märtyrer. Es produziert auch keine Helden. Aber es überdauert sich, weil die Erinnerung menschliche Beziehungen, gemeinschaftliche Strukturen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt über Generationen zerstören kann. Weil es, wie in dem einfühlsamen, klaren Roman von Maria Stefanopoulou, enorm weite Kreise zieht durch Raum und Zeit.
LENA BOPP
Maria Stefanopoulou: "Athos, der Förster".
Roman.
Aus dem Griechischen von Michaela Prinzinger.
Elfenbein Verlag, Berlin 2019. 245 S., geb., 22,- [Euro].
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