Produktdetails
- Verlag: Oktagon
- ISBN-13: 9783896110282
- Artikelnr.: 24363060
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.08.1997Malen, was Spaß macht
Durch Amnesie zur Freiheit der Kunst: Gerhard Richters "Atlas der Fotos, Collagen und Skizzen" · Von Thomas Wagner
Bei Hesiod hält Atlas, von Zeus gezwungen, stehend den breiten Himmel auf dem Haupt und den unermüdlichen Händen, am westlichen Ende der Erde, wo Tag und Nacht sich begegnen. Die Mythen sind seitdem alltäglich geworden, und Düsseldorf liegt geographisch nicht annähernd so weit im Westen. Doch scheint der im Rheinland ansässige Maler Gerhard Richter wenigstens den breiten Himmel der westlichen Malerei auf dem Haupt und den Händen zu tragen, indem er unermüdlich den Pinsel schwingt. Dieser bundesrepublikanische Atlas der Malerei gab dem Fundus, aus dem seine Bilderproduktion schöpft, denn auch den Titel: "Atlas der Fotos, Collagen und Skizzen".
Gegenwärtig wird Richters "Atlas" an zentraler Stelle der documenta X im Kasseler Fridericianum ausgestellt. Die Malerei aber bleibt außen vor. Im Vorgriff auf eine Präsentation des Bilder-Repertoires im Zusammenhang mit ausgewählten Werkgruppen aus allen Schaffensperioden Richters, die für das kommende Jahr im Kunstbau des Münchner Lenbachhauses geplant ist, das den "Atlas" erworben hat, erschien jetzt im Kölner Oktagon Verlag ein Band, der das halb öffentliche, halb private Bild-Archiv wieder in Buchform zugänglich macht. Der von Helmut Friedel und Ulrich Wilmes herausgegebene Foliant dokumentiert alle zwischen 1962 und 1997 entstandenen Tafeln in Farbe, erstmals ergänzt durch ein Werkverzeichnis des derzeitigen Bestandes. Für dessen Erstellung hat Richter eine Neuordnung vorgenommen, die eine verbindliche Reihenfolge festschreibt.
Zunächst sind es vor allem Schwarzweißfotos, nur vereinzelt Farbaufnahmen, die den Grundstock des "Atlas" bilden - Amateurfotos aus Familienalben oder Fotos von "Durchschnittsreportern" aus Zeitungen und Zeitschriften. Bilder, die über historische, politische oder gesellschaftliche Ereignisse informieren, die Stars und Statussymbole, Reiseziele, Autos, Flugzeuge, aber ebenso Menschen, Tiere, Sensationen neben Bergen, Wasser, Wolken, neben Sekretärinnen, Krankenschwestern, gekrönten Häuptern, Soldaten und Sportlern zeigen. In hartem Kontrast folgen auf Fotos ausgemergelter Menschen aus Konzentrationslagern pornographische Aufnahmen, an Fotos von Freunden schließen sich die Köpfe von 288 berühmten Männern an, dem Fundus für Richters "48 Porträts".
Der Gegensatz zwischen öffentlichen und privaten Bildern, ohnehin prägend für den "Atlas", springt überdeutlich Ende der achtziger Jahre ins Auge: Auf Farbfotos aus dem Familienalbum, Landschaften und Stilleben folgt das diffuse Schwarzweiß der von Richter bearbeiteten "Bader-Meinhof-Fotos". Betrachtet man den "Atlas" als eigenständiges Werk, so läßt sich in ihm ein Panoptikum der bundesrepublikanischen Gesellschaft von den sechziger Jahren bis heute ausmachen, freilich eines, das sich, je näher die Gegenwart rückt, desto mehr im Familiären und Partikularen verliert.
Wer mit dem Werk Richters vertraut ist, wird auf zahlreiche Vorlagen stoßen, die der Maler als Gemälde auf Leinwand realisierte - ob "Trockner", "Bomber", "Geweih" oder "Sekretärin". Ebenso wichtig ist freilich, was Richter nicht aufgenommen hat, was er - als Maler - liegenließ. Denn der "Atlas" stellt eine Vorauswahl und einen Fundus öffentlicher und privater Bilder dar, aus dem der Künstler dann jene Motive und thematischen Schwerpunkte selektierte, die er weiterbearbeitete. Es ist dies eine Methode, wie der Künstler zu seinem Motiv kommt, die auf Marcel Duchamp verweist, der mit seinen Ready-mades das Auswählen anstelle des Erfindens zum Grundprinzip der Kunst erklärte.
"Wissen Sie", schreibt Gerhard Richter in seinen "Notizen 1964 - 1965", "was prima war? - Zu merken, daß solch eine blödsinnige, absurde Sache wie das simple Abmalen einer Postkarte ein Bild ergeben kann. Und dann die Freiheit, malen zu können, was Spaß macht. Hirsche, Flugzeuge, Könige, Sekretärinnen. Nichts mehr erfinden zu müssen, alles zu vergessen, was man unter Malerei versteht, Farbe, Komposition, Räumlichkeit, und was man so alles wußte und dachte. Das war plötzlich nicht mehr Voraussetzung für Kunst." So zapft Richter mit seinem "Atlas" das Bild-Gedächtnis der Welt an. Die gewollte Amnesie verspricht Befreiung. Der neue Mythos der Malerei Richters aber heißt Informationsverarbeitung.
Gerhard Richter: "Atlas der Fotos, Collagen und Skizzen". Hrsg. von Helmut Friedel und Ulrich Wilmes. Oktagon Verlag, Köln 1997. 390 S., geb., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Durch Amnesie zur Freiheit der Kunst: Gerhard Richters "Atlas der Fotos, Collagen und Skizzen" · Von Thomas Wagner
Bei Hesiod hält Atlas, von Zeus gezwungen, stehend den breiten Himmel auf dem Haupt und den unermüdlichen Händen, am westlichen Ende der Erde, wo Tag und Nacht sich begegnen. Die Mythen sind seitdem alltäglich geworden, und Düsseldorf liegt geographisch nicht annähernd so weit im Westen. Doch scheint der im Rheinland ansässige Maler Gerhard Richter wenigstens den breiten Himmel der westlichen Malerei auf dem Haupt und den Händen zu tragen, indem er unermüdlich den Pinsel schwingt. Dieser bundesrepublikanische Atlas der Malerei gab dem Fundus, aus dem seine Bilderproduktion schöpft, denn auch den Titel: "Atlas der Fotos, Collagen und Skizzen".
Gegenwärtig wird Richters "Atlas" an zentraler Stelle der documenta X im Kasseler Fridericianum ausgestellt. Die Malerei aber bleibt außen vor. Im Vorgriff auf eine Präsentation des Bilder-Repertoires im Zusammenhang mit ausgewählten Werkgruppen aus allen Schaffensperioden Richters, die für das kommende Jahr im Kunstbau des Münchner Lenbachhauses geplant ist, das den "Atlas" erworben hat, erschien jetzt im Kölner Oktagon Verlag ein Band, der das halb öffentliche, halb private Bild-Archiv wieder in Buchform zugänglich macht. Der von Helmut Friedel und Ulrich Wilmes herausgegebene Foliant dokumentiert alle zwischen 1962 und 1997 entstandenen Tafeln in Farbe, erstmals ergänzt durch ein Werkverzeichnis des derzeitigen Bestandes. Für dessen Erstellung hat Richter eine Neuordnung vorgenommen, die eine verbindliche Reihenfolge festschreibt.
Zunächst sind es vor allem Schwarzweißfotos, nur vereinzelt Farbaufnahmen, die den Grundstock des "Atlas" bilden - Amateurfotos aus Familienalben oder Fotos von "Durchschnittsreportern" aus Zeitungen und Zeitschriften. Bilder, die über historische, politische oder gesellschaftliche Ereignisse informieren, die Stars und Statussymbole, Reiseziele, Autos, Flugzeuge, aber ebenso Menschen, Tiere, Sensationen neben Bergen, Wasser, Wolken, neben Sekretärinnen, Krankenschwestern, gekrönten Häuptern, Soldaten und Sportlern zeigen. In hartem Kontrast folgen auf Fotos ausgemergelter Menschen aus Konzentrationslagern pornographische Aufnahmen, an Fotos von Freunden schließen sich die Köpfe von 288 berühmten Männern an, dem Fundus für Richters "48 Porträts".
Der Gegensatz zwischen öffentlichen und privaten Bildern, ohnehin prägend für den "Atlas", springt überdeutlich Ende der achtziger Jahre ins Auge: Auf Farbfotos aus dem Familienalbum, Landschaften und Stilleben folgt das diffuse Schwarzweiß der von Richter bearbeiteten "Bader-Meinhof-Fotos". Betrachtet man den "Atlas" als eigenständiges Werk, so läßt sich in ihm ein Panoptikum der bundesrepublikanischen Gesellschaft von den sechziger Jahren bis heute ausmachen, freilich eines, das sich, je näher die Gegenwart rückt, desto mehr im Familiären und Partikularen verliert.
Wer mit dem Werk Richters vertraut ist, wird auf zahlreiche Vorlagen stoßen, die der Maler als Gemälde auf Leinwand realisierte - ob "Trockner", "Bomber", "Geweih" oder "Sekretärin". Ebenso wichtig ist freilich, was Richter nicht aufgenommen hat, was er - als Maler - liegenließ. Denn der "Atlas" stellt eine Vorauswahl und einen Fundus öffentlicher und privater Bilder dar, aus dem der Künstler dann jene Motive und thematischen Schwerpunkte selektierte, die er weiterbearbeitete. Es ist dies eine Methode, wie der Künstler zu seinem Motiv kommt, die auf Marcel Duchamp verweist, der mit seinen Ready-mades das Auswählen anstelle des Erfindens zum Grundprinzip der Kunst erklärte.
"Wissen Sie", schreibt Gerhard Richter in seinen "Notizen 1964 - 1965", "was prima war? - Zu merken, daß solch eine blödsinnige, absurde Sache wie das simple Abmalen einer Postkarte ein Bild ergeben kann. Und dann die Freiheit, malen zu können, was Spaß macht. Hirsche, Flugzeuge, Könige, Sekretärinnen. Nichts mehr erfinden zu müssen, alles zu vergessen, was man unter Malerei versteht, Farbe, Komposition, Räumlichkeit, und was man so alles wußte und dachte. Das war plötzlich nicht mehr Voraussetzung für Kunst." So zapft Richter mit seinem "Atlas" das Bild-Gedächtnis der Welt an. Die gewollte Amnesie verspricht Befreiung. Der neue Mythos der Malerei Richters aber heißt Informationsverarbeitung.
Gerhard Richter: "Atlas der Fotos, Collagen und Skizzen". Hrsg. von Helmut Friedel und Ulrich Wilmes. Oktagon Verlag, Köln 1997. 390 S., geb., 98,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main