Die zweibändige Publikation stellt 68 der städtebaulich wichtigsten Straßen, Plätze, Höfe und Uferpromenaden Europas vor. Planzeichnungen von der urbanen Gesamtsituation bis zum minutiösen Detail, knappe geschichtliche Abrisse und eigens angefertigten Fotografien bieten ein sachlich systematisiertes Panorama der entscheidenden Stationen einer damit aufwendig dokumentierten Geschichte des Städtebaus.
Mit ihrer überaus reichen Ausstattung von vermaßten Grund- und Aufrissen, Schnitten und materiellen Bestandsaufnahmen sind die Bände eine einzigartige Leistung architekturgeschichtlicher Dokumentation. Die darin angelegte Typologie entwickelt Kriterien für heutige Stadtentwürfe und lässt Anregungen und Gestaltungsgrundlagen für den Fachmann und Basiswissen für den Laien anschaulich werden. Die jeweils historisch und bestandserfassend angelegten Einführungstexte ergänzen das Bildmaterial um die entstehungsgeschichtlichen Fakten zu den präsentierten städtebaulichen Situationen.
Plätze
GRAND PLACE, BRUXELLES
STAROMESTSKÉ NÁMESTÍ, PRAG, PRAHA
PLAZA MAYOR, MADRID
PIAZZA DELL'UNITÀ D'ITALIA, TRIESTE
PIAZZA DELLE ERBE, VERONA
PIAZZA DUCALE, VIGEVANO
MARKT, DRESDEN HELLERAU
LUDOLFINGER PLATZ, BERLIN FROHNAU
PLACE VENDÔME, PARIS
PIAZZA SAN CARLO, TORINO
PIAZZA DELLA REPUBBLICA, FIRENZE
NÁMESTÍ MÍRU, PRAHA
MERCATORPLEIN, AMSTERDAM
GÄRTNERPLATZ, MÜNCHEN
EATON SQUARE, LONDON
IDAPLATZ, ZÜRICH
PLACE DES VOSGES, PARIS
PIAZZA FARNESE, ROMA
VANHA KIRKKO, HELSINKI
RÜDESHEIMER PLATZ, BERLIN
BEDFORD SQUARE, LONDON
CIRCUS, BATH
PEMBRIDGE SQUARE, LONDON
PIAZZA ELEONORA DUSE, MILANO
HACKESCHE HÖFE, BERLIN
ZENTRALHOF, ZÜRICH
RIEHMERS HOFGARTEN, BERLIN
REISMANNHOF, WIEN
IDEALPASSAGE, BERLIN
HORNBAEKHUS, KØBENHAVN
Straßen
KÄRNTNER RING, WIEN
UNTER DEN LINDEN, BERLIN
PASSEIG DE GRÀCIA, BARCELONA
RUE DE RIVOLI, PARIS
BAHNHOFSTRASSE, ZÜRICH
ESPLANADI, HELSINKI
KRAMGASSE, BERN
PRINZIPALMARKT, MÜNSTER
VIA ROMA, TURIN
BOULEVARD HAUSSMANN, PARIS
HERENGRACHT, AMSTERDAM
VIA ASSAROTTI, GENUA
VIA ZAMBONI, BOLOGNA
HOOFDWEG, AMSTERDAM
RUA DE CEDOFEITA, PORTO
NEUMARKT, ZÜRICH
MENGSTRASSE, LÜBECK
VIA GARIBALDI, GENUA
NIEHBUHRSTRASSE, BERLIN
RUE THÉODULE RIBOT, PARIS
LANDAUER STRASSE, BERLIN
ORTELIUSSTRAAT, AMSTERDAM
CLANRICARDE GARDENS, LONDON
OTTIKERSTRASSE, ZÜRICH
ZELTINGER STRASSE, BERLIN-FROHNAU
ASMUNS HILL, LONDON HAMPSTEAD
AM DORFFRIEDEN, DRESDEN-HELLERAU
MARGARETENHOF, WIEN
CITÉ DE TRÉVISE, PARIS
VOITSTRASSE UND FRANZ-MARC-STRASSE, MÜNCHEN
HERRENGASSE, AUGSBURG
ZANGGERWEG, ZÜRICH
VICTORIA EMBANKMENT, LONDON
NATIONALQUAI, LUZERN
RIVA DEGLI SCHIAVONI, VENEDIG
QUAI DE VALMY, PARIS
OBERER RHEINWEG, BASEL
UFERGESTALTUNG WIENFLUSSPROMENADEN, WIEN
Mit ihrer überaus reichen Ausstattung von vermaßten Grund- und Aufrissen, Schnitten und materiellen Bestandsaufnahmen sind die Bände eine einzigartige Leistung architekturgeschichtlicher Dokumentation. Die darin angelegte Typologie entwickelt Kriterien für heutige Stadtentwürfe und lässt Anregungen und Gestaltungsgrundlagen für den Fachmann und Basiswissen für den Laien anschaulich werden. Die jeweils historisch und bestandserfassend angelegten Einführungstexte ergänzen das Bildmaterial um die entstehungsgeschichtlichen Fakten zu den präsentierten städtebaulichen Situationen.
Plätze
GRAND PLACE, BRUXELLES
STAROMESTSKÉ NÁMESTÍ, PRAG, PRAHA
PLAZA MAYOR, MADRID
PIAZZA DELL'UNITÀ D'ITALIA, TRIESTE
PIAZZA DELLE ERBE, VERONA
PIAZZA DUCALE, VIGEVANO
MARKT, DRESDEN HELLERAU
LUDOLFINGER PLATZ, BERLIN FROHNAU
PLACE VENDÔME, PARIS
PIAZZA SAN CARLO, TORINO
PIAZZA DELLA REPUBBLICA, FIRENZE
NÁMESTÍ MÍRU, PRAHA
MERCATORPLEIN, AMSTERDAM
GÄRTNERPLATZ, MÜNCHEN
EATON SQUARE, LONDON
IDAPLATZ, ZÜRICH
PLACE DES VOSGES, PARIS
PIAZZA FARNESE, ROMA
VANHA KIRKKO, HELSINKI
RÜDESHEIMER PLATZ, BERLIN
BEDFORD SQUARE, LONDON
CIRCUS, BATH
PEMBRIDGE SQUARE, LONDON
PIAZZA ELEONORA DUSE, MILANO
HACKESCHE HÖFE, BERLIN
ZENTRALHOF, ZÜRICH
RIEHMERS HOFGARTEN, BERLIN
REISMANNHOF, WIEN
IDEALPASSAGE, BERLIN
HORNBAEKHUS, KØBENHAVN
Straßen
KÄRNTNER RING, WIEN
UNTER DEN LINDEN, BERLIN
PASSEIG DE GRÀCIA, BARCELONA
RUE DE RIVOLI, PARIS
BAHNHOFSTRASSE, ZÜRICH
ESPLANADI, HELSINKI
KRAMGASSE, BERN
PRINZIPALMARKT, MÜNSTER
VIA ROMA, TURIN
BOULEVARD HAUSSMANN, PARIS
HERENGRACHT, AMSTERDAM
VIA ASSAROTTI, GENUA
VIA ZAMBONI, BOLOGNA
HOOFDWEG, AMSTERDAM
RUA DE CEDOFEITA, PORTO
NEUMARKT, ZÜRICH
MENGSTRASSE, LÜBECK
VIA GARIBALDI, GENUA
NIEHBUHRSTRASSE, BERLIN
RUE THÉODULE RIBOT, PARIS
LANDAUER STRASSE, BERLIN
ORTELIUSSTRAAT, AMSTERDAM
CLANRICARDE GARDENS, LONDON
OTTIKERSTRASSE, ZÜRICH
ZELTINGER STRASSE, BERLIN-FROHNAU
ASMUNS HILL, LONDON HAMPSTEAD
AM DORFFRIEDEN, DRESDEN-HELLERAU
MARGARETENHOF, WIEN
CITÉ DE TRÉVISE, PARIS
VOITSTRASSE UND FRANZ-MARC-STRASSE, MÜNCHEN
HERRENGASSE, AUGSBURG
ZANGGERWEG, ZÜRICH
VICTORIA EMBANKMENT, LONDON
NATIONALQUAI, LUZERN
RIVA DEGLI SCHIAVONI, VENEDIG
QUAI DE VALMY, PARIS
OBERER RHEINWEG, BASEL
UFERGESTALTUNG WIENFLUSSPROMENADEN, WIEN
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.08.2018Lauter
Unwiederholbares
Ein großartiger Städtebau-Atlas dokumentiert die
interessantesten Straßen und Plätze Europas
VON MICHAEL MÖNNINGER
Um die wachsende Bevölkerung unterzubringen, bauten die Bürger von Bologna im Mittelalter immer höhere und breitere Häuser. Damit die Straßen passierbar blieben, schrieb die Stadtverwaltung offene Wandelgänge in den Erdgeschossen vor. Die Regeln für die
„portici“ genannten Verkehrswege wurden 1288 in den zwölfbändigen Stadtstatuten niedergelegt. Sie sind die Grundlage für das Wunder der 38 Kilometer langen Kolonnaden und Arkaden von Bologna.
Bogen- und Säulengänge für Handels- und Verkehrsstraßen, aber auch für die Fest- und Paradeplätze von Residenzen bilden ein Hauptcharakteristikum der insgesamt 68 Ensembles aus dreizehn europäischen Ländern, die der zweibändige „Atlas zum Städtebau“ versammelt. Die Raumschicht der Wandelgänge durchzieht als Gütezeichen für urbane Willkommenskultur, Architekturqualität und Raumerfahrung das gesamte Prachtwerk, das der deutsch-italienische Architekt und Historiker Vittorio Magnago Lampugnani, seine Forschungskollegen Markus Tubbesing, Harald Stühlinger und ihre Studierenden von der ETH Zürich in fünfjähriger Seminararbeit verfasst haben.
Eigentlich handelt der Städtebauatlas nur von Luft und Leere. Denn Straßen und Plätze sind wesensmäßig Hohlformen, die der materiellen Fassung bedürfen. Folgerichtig widmet der Atlas größte Aufmerksamkeit den Schnittstellen von Raum und Baukörper und zeigt, wie vielfältig und leistungsfähig diese Schwellenräume zwischen Stadt und Interieur sind.
Zunächst hält man den wuchtigen Doppelband für ein schickes Coffee-Table-Buch. Dann bemerkt man schnell, mit welcher Akribie die Autoren hohe und niedere, berühmte und versteckte Orte untersuchen. Sie bieten keine idealisierende Veduten-Schwärmerei, sondern realistische Bestandsaufnahmen europäischer Städteherrlichkeit auf der Basis avancierter zeichnerischer und kartografischer Notationen.
Die Klarheit, Anschaulichkeit und Prägnanz der Analysen finden in der heutigen Architekturpublizistik keinen Vergleich. Jeder Ort wird auf fünf Darstellungsebenen wie unter dem Vergrößerungsglas präsentiert und der Vergleichbarkeit wegen auf den gleichen Maßstab gebracht. Zunächst zeigen Schwarzpläne den Figur-Grund-Kontrast der Gesamtstadt, dann machen Situationspläne die Parzellen und Binnengliederungen deutlich. Noch präziser zeigen Grundrisse und Aufrisse innerhalb und außerhalb der Fassadengrenzen die Koevolution von Interieur und Stadtraum, dazu kommen millimetergenaue Kartierungen der Oberflächen sowie noch nie gesehene Profilschnitte durch ganze Straßenzüge.
Alles wird zusammengehalten durch die sorgfältig komponierten Fotografien von Maximilian Meisse, der auf seinen Rundreisen durch Europa sämtliche Orte aus vergleichbaren Perspektiven aufnahm.
Etwas leichtfertig setzen sich die Autoren über strapaziöse Begründungen ihrer Analysekriterien hinweg und begründen die Ortswahl mit subjektiven Vorlieben. So bildet Norditalien den Spitzenreiter mit elf Stadtbeispielen, gefolgt vom kunstfernen Großstadt-Parvenü Berlin mit neun Nennungen, Paris mit sieben, Zürich mit sechs, Wien und London mit je vier, während Prag und München sich mit je zwei Beispielen begnügen müssen. Bedauerlicherweise geht diese Unwucht vor allem zulasten der flämischen Städteblüte, die nur von Brüssel vertreten wird.
Auch fehlt eine Typologie der politischen und sozialen Leistungsform der drei europäischen Platzvarianten Piazza, Place Royale und Square. Stattdessen gibt es nur eine schlichte funktionale Hierarchisierung nach Zentralität oder Randlage. Aber der Ehrgeiz der Verfasser zielt nicht auf theoretische Ordnungssysteme, bei denen die Inhalte oft wegerklärt werden. Sie wollen maximale Empirie in individualisierenden Analysen unter Verzicht auf generalisierende Unschärfe; zu Recht bezeichnen sie ihr Buch als „Nachschlagewerk, Referenzsammlung und Quelle für planungshistorische Informationen“.
Eines der frühesten Vorbilder für die europäischen Herrschafts- und Königsplätze des 16. und 17. Jahrhunderts ist die Piazza Ducale in Vigevano. Sie wurde 1494 unter dem Mailänder Herzog Ludovico Sforza errichtet, der wie aus dem Nichts aufgestiegen war und seine Herrschaft mit der Konstruktion einer bis in die Antike reichenden Genealogie mitsamt der dazugehörigen Stadtanlage sichern wollte. Ausgehend von der antiken Forumsidee, wie sie der Florentiner Architekt Leon Battista Alberti als Ort für Gladiatorenspiele mit Säulenhallen für Händler beschrieben hatte, ließ Sforza einen Rechteckplatz mit einheitlichen Fassaden und Arkaden ins Zentrum brechen und sogar die alte Domfassade begradigen. Die Autoren geben nicht nur die exakte Größe des 135 mal 40 Meter großen Platzes an, sondern auch die Volumina der Säulengänge und sogar die Größe der Bodenplatten aus Gneis.
Diese Pedanterie wirkt aber nicht störend, sondern verdeutlicht die enorme Sorgfalt im Zusammenwirken der einzelnen Baudisziplinen. Zudem helfen klare Zahlenangaben, das räumliche Vorstellungsvermögen zu schulen und Analogien zu eröffnen. Erfreulicherweise verzichtet der Atlas auf weitergehende Proportionsmystik, Zahlenmagie und Goldene Schnitte, weil er nicht normativ nach Regeln, sondern deskriptiv nach Einzelfällen sucht. Lampugnani rechtfertigt diese Umständlichkeiten als Kopierschutz: „Keiner dieser öffentlichen Räume kann reproduziert werden, weil er einzigartig und unwiederholbar ist.“
Dennoch fallen dieselben Proportionen wie in Vigevano bei der ungleich größeren Piazza San Carlo in Turin von 1642 auf. In seiner neuen Residenz ließ der Herzog von Savoyen, inspiriert von strengen Idealstadtvorstellungen der Renaissance, die erste barocke Stadterweiterung errichten. Die Ensemblewirkung der prachtvollen Piazza mit ihren acht Meter hohen Wandarkaden gelang, weil die Behörden den Hauseigentümern die Gestaltung vorschrieben. Die Disziplinierung endete jedoch vor den völlig individuell gestalteten Hauseingängen.
Die dynastische Planwirtschaft im Städtebau bekommt bei der Plaza Mayor in Madrid beklemmende Züge. Vierzig Jahre lang wurde auf Geheiß von Philipp II. der Platz aus dem alten Stadtgefüge herausgebrochen und bis 1622 in ein Korsett aus einheitlich verputzten Backsteinfassaden gepresst, die keine Einzelhäuser mehr zeigen. Die Übernormierung hat den Platz unfreiwillig zum Hof interiorisiert, in dem auch die Wandelgänge die Kälte der inszenierten Großform nicht mildern.
Abweisend wirkt auch das Oktogon der Pariser Place Vendôme, entstanden von 1685 an. Trotz der Harmonie der italianisierenden Palastfassaden und der kunstvoll betonten Eckrisalite bleibt der Platz eine reine Durchgangszone ohne Aufenthaltswert, weil er statt raumhaltiger Vorhallen nur geschlossene Blendarkaden hat.
Da erscheint das vorangehende Pendant der Place des Vosges von 1612 wie ein Fest stadtbildender Kollektivität. Hier ließ Henri IV. 36 Häuser auf umlaufenden Sandsteinarkaden errichten. Entgegen dem homogenen Eindruck springen die Wandelgänge zwischen drei und fünf Metern Höhe, um Bodenwellen auszugleichen.
Als Vorbild nennt der Atlas die Bastiden-Wehrdörfer Aquitaniens, aber naheliegender wären niederländische Platztypen; doch solche Ableitungen widersprechen dem mediterran-romanischen Selbstbild der Franzosen.
Obwohl die mittelalterliche Grand Place in Brüssel ein Flickwerk aus dem 19. Jahrhundert ist, vertritt sie würdevoll den Bürgergeist im europäischen Städtebau. Anstelle der Einheitlichkeit italienisch-französischer Königsplätze wollten die Brüsseler ihre dreißig Zunfthäuser mit wechselnden Haushöhen und Parzellengrößen behalten, was bis heute eine faszinierende Mischung aus städtebaulicher Großform und individueller Architektur ergibt.
Die Briten dagegen hatten keine Probleme mit dem Einheitslook ihrer Reihen- und Terrassenhäuser. Dennoch verwundert es, dass aufgeklärte Bürger eines liberalen Staates ihre grünen Square-Plätze nicht als öffentliche Räume, sondern in der Tradition klösterlicher Gärten wie Privatgelände anlegten. Das opulenteste Beispiel ist der Londoner Eaton Square von 1821, der auf einem hierarchischen System räumlich-sozialer Tiefenstaffelung aufbaut.
Der Atlas löst auch das Rätsel der umzäunten Kellerabgänge vor jedem Haus. Es sind die „area“ genannten Dienstboten- und Versorgungsräume, die aus den kontinentalen Hinterhöfen heraus an die Straße geholt wurden. Die sanatoriumsartige Ruhe britischer Wohnviertel beruht auch auf den stabilen Grundbesitzverhältnissen von Königshaus, Adel und Korporationen, die bis heute ihr Bauland nur in Erbpacht vergeben.
Weitere Untersuchungen von privat-spekulativen Stadtanlagen des 19. Jahrhunderts geraten am Beispiel des Gärtnerplatzes in München und des Rüdesheimer Platzes in Berlin zu Liebeserklärungen an den wirtschaftsliberalen Städtebau der Vormoderne. Denn öffentliche Räume dienten nicht nur der Repräsentation und Dekoration von Herrschaft, sondern mussten auch früher schon Rendite bringen. Das zeigt der Atlas nicht nur am Beispiel der wunderbaren Höfe und Binnenstraßen von Riehmers Hofgarten in Berlin oder dem Margaretenhof in Wien.
Der gesamte zweite Band widmet sich in luziden Detailanalysen den linearen Stadträumen der Wiener Ringstraße, der Pariser Boulevards, der Grachten von Amsterdam, der Kaufmannsstraßen von Lübeck bis hin zu den Uferpromenaden in London, Wien und Venedig – allesamt Gebiete, in denen die Doppelbedeutung des lateinischen „commercium“ – Handel und Verkehr – noch spürbar ist.
Weil dieser „Atlas zum Städtebau“ nicht historisierend, sondern aktualisierend den heutigen Zustand von Traditionsorten dokumentiert, zeigt er nicht bloß, was einmal war, sondern was weiterhin ist. Damit leistet er eine ganz unromantische Aufklärung, die weit über den kulturellen Wert auch die Verwertbarkeit von Stadt umfasst. Deren Zirkulation und Stoffwechsel leben weiterhin von den sorgfältig gebauten Schwellenräumen der Straßen und Plätze.
Atlas zum Städtebau. Band 1: Plätze, Band 2: Straßen. Hrsg. von Vittorio Magnago Lampugnani, Markus Tubbesing, Harald Stühlinger. Hirmer-Verlag München. Zwei Bände mit insg. 732 Seiten, 1600 Abb., 98 Euro.
Michael Mönninger lehrt Geschichte und Theorie der Bau- und Raumkunst an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig.
Wie unter einem
Vergrößerungsglas wird jeder Ort
auf fünf Ebenen dargestellt
Man sieht nicht nur,
was einmal war,
sondern was weiterhin ist
Keine Scheu vor dem Einheitslook: Eaton Square, London, für den „Atlas zum Städtebau“ fotografiert von Maximilian Meisse.
Foto: Maximilian Meisse/Abb. aus dem bespr. Band
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Unwiederholbares
Ein großartiger Städtebau-Atlas dokumentiert die
interessantesten Straßen und Plätze Europas
VON MICHAEL MÖNNINGER
Um die wachsende Bevölkerung unterzubringen, bauten die Bürger von Bologna im Mittelalter immer höhere und breitere Häuser. Damit die Straßen passierbar blieben, schrieb die Stadtverwaltung offene Wandelgänge in den Erdgeschossen vor. Die Regeln für die
„portici“ genannten Verkehrswege wurden 1288 in den zwölfbändigen Stadtstatuten niedergelegt. Sie sind die Grundlage für das Wunder der 38 Kilometer langen Kolonnaden und Arkaden von Bologna.
Bogen- und Säulengänge für Handels- und Verkehrsstraßen, aber auch für die Fest- und Paradeplätze von Residenzen bilden ein Hauptcharakteristikum der insgesamt 68 Ensembles aus dreizehn europäischen Ländern, die der zweibändige „Atlas zum Städtebau“ versammelt. Die Raumschicht der Wandelgänge durchzieht als Gütezeichen für urbane Willkommenskultur, Architekturqualität und Raumerfahrung das gesamte Prachtwerk, das der deutsch-italienische Architekt und Historiker Vittorio Magnago Lampugnani, seine Forschungskollegen Markus Tubbesing, Harald Stühlinger und ihre Studierenden von der ETH Zürich in fünfjähriger Seminararbeit verfasst haben.
Eigentlich handelt der Städtebauatlas nur von Luft und Leere. Denn Straßen und Plätze sind wesensmäßig Hohlformen, die der materiellen Fassung bedürfen. Folgerichtig widmet der Atlas größte Aufmerksamkeit den Schnittstellen von Raum und Baukörper und zeigt, wie vielfältig und leistungsfähig diese Schwellenräume zwischen Stadt und Interieur sind.
Zunächst hält man den wuchtigen Doppelband für ein schickes Coffee-Table-Buch. Dann bemerkt man schnell, mit welcher Akribie die Autoren hohe und niedere, berühmte und versteckte Orte untersuchen. Sie bieten keine idealisierende Veduten-Schwärmerei, sondern realistische Bestandsaufnahmen europäischer Städteherrlichkeit auf der Basis avancierter zeichnerischer und kartografischer Notationen.
Die Klarheit, Anschaulichkeit und Prägnanz der Analysen finden in der heutigen Architekturpublizistik keinen Vergleich. Jeder Ort wird auf fünf Darstellungsebenen wie unter dem Vergrößerungsglas präsentiert und der Vergleichbarkeit wegen auf den gleichen Maßstab gebracht. Zunächst zeigen Schwarzpläne den Figur-Grund-Kontrast der Gesamtstadt, dann machen Situationspläne die Parzellen und Binnengliederungen deutlich. Noch präziser zeigen Grundrisse und Aufrisse innerhalb und außerhalb der Fassadengrenzen die Koevolution von Interieur und Stadtraum, dazu kommen millimetergenaue Kartierungen der Oberflächen sowie noch nie gesehene Profilschnitte durch ganze Straßenzüge.
Alles wird zusammengehalten durch die sorgfältig komponierten Fotografien von Maximilian Meisse, der auf seinen Rundreisen durch Europa sämtliche Orte aus vergleichbaren Perspektiven aufnahm.
Etwas leichtfertig setzen sich die Autoren über strapaziöse Begründungen ihrer Analysekriterien hinweg und begründen die Ortswahl mit subjektiven Vorlieben. So bildet Norditalien den Spitzenreiter mit elf Stadtbeispielen, gefolgt vom kunstfernen Großstadt-Parvenü Berlin mit neun Nennungen, Paris mit sieben, Zürich mit sechs, Wien und London mit je vier, während Prag und München sich mit je zwei Beispielen begnügen müssen. Bedauerlicherweise geht diese Unwucht vor allem zulasten der flämischen Städteblüte, die nur von Brüssel vertreten wird.
Auch fehlt eine Typologie der politischen und sozialen Leistungsform der drei europäischen Platzvarianten Piazza, Place Royale und Square. Stattdessen gibt es nur eine schlichte funktionale Hierarchisierung nach Zentralität oder Randlage. Aber der Ehrgeiz der Verfasser zielt nicht auf theoretische Ordnungssysteme, bei denen die Inhalte oft wegerklärt werden. Sie wollen maximale Empirie in individualisierenden Analysen unter Verzicht auf generalisierende Unschärfe; zu Recht bezeichnen sie ihr Buch als „Nachschlagewerk, Referenzsammlung und Quelle für planungshistorische Informationen“.
Eines der frühesten Vorbilder für die europäischen Herrschafts- und Königsplätze des 16. und 17. Jahrhunderts ist die Piazza Ducale in Vigevano. Sie wurde 1494 unter dem Mailänder Herzog Ludovico Sforza errichtet, der wie aus dem Nichts aufgestiegen war und seine Herrschaft mit der Konstruktion einer bis in die Antike reichenden Genealogie mitsamt der dazugehörigen Stadtanlage sichern wollte. Ausgehend von der antiken Forumsidee, wie sie der Florentiner Architekt Leon Battista Alberti als Ort für Gladiatorenspiele mit Säulenhallen für Händler beschrieben hatte, ließ Sforza einen Rechteckplatz mit einheitlichen Fassaden und Arkaden ins Zentrum brechen und sogar die alte Domfassade begradigen. Die Autoren geben nicht nur die exakte Größe des 135 mal 40 Meter großen Platzes an, sondern auch die Volumina der Säulengänge und sogar die Größe der Bodenplatten aus Gneis.
Diese Pedanterie wirkt aber nicht störend, sondern verdeutlicht die enorme Sorgfalt im Zusammenwirken der einzelnen Baudisziplinen. Zudem helfen klare Zahlenangaben, das räumliche Vorstellungsvermögen zu schulen und Analogien zu eröffnen. Erfreulicherweise verzichtet der Atlas auf weitergehende Proportionsmystik, Zahlenmagie und Goldene Schnitte, weil er nicht normativ nach Regeln, sondern deskriptiv nach Einzelfällen sucht. Lampugnani rechtfertigt diese Umständlichkeiten als Kopierschutz: „Keiner dieser öffentlichen Räume kann reproduziert werden, weil er einzigartig und unwiederholbar ist.“
Dennoch fallen dieselben Proportionen wie in Vigevano bei der ungleich größeren Piazza San Carlo in Turin von 1642 auf. In seiner neuen Residenz ließ der Herzog von Savoyen, inspiriert von strengen Idealstadtvorstellungen der Renaissance, die erste barocke Stadterweiterung errichten. Die Ensemblewirkung der prachtvollen Piazza mit ihren acht Meter hohen Wandarkaden gelang, weil die Behörden den Hauseigentümern die Gestaltung vorschrieben. Die Disziplinierung endete jedoch vor den völlig individuell gestalteten Hauseingängen.
Die dynastische Planwirtschaft im Städtebau bekommt bei der Plaza Mayor in Madrid beklemmende Züge. Vierzig Jahre lang wurde auf Geheiß von Philipp II. der Platz aus dem alten Stadtgefüge herausgebrochen und bis 1622 in ein Korsett aus einheitlich verputzten Backsteinfassaden gepresst, die keine Einzelhäuser mehr zeigen. Die Übernormierung hat den Platz unfreiwillig zum Hof interiorisiert, in dem auch die Wandelgänge die Kälte der inszenierten Großform nicht mildern.
Abweisend wirkt auch das Oktogon der Pariser Place Vendôme, entstanden von 1685 an. Trotz der Harmonie der italianisierenden Palastfassaden und der kunstvoll betonten Eckrisalite bleibt der Platz eine reine Durchgangszone ohne Aufenthaltswert, weil er statt raumhaltiger Vorhallen nur geschlossene Blendarkaden hat.
Da erscheint das vorangehende Pendant der Place des Vosges von 1612 wie ein Fest stadtbildender Kollektivität. Hier ließ Henri IV. 36 Häuser auf umlaufenden Sandsteinarkaden errichten. Entgegen dem homogenen Eindruck springen die Wandelgänge zwischen drei und fünf Metern Höhe, um Bodenwellen auszugleichen.
Als Vorbild nennt der Atlas die Bastiden-Wehrdörfer Aquitaniens, aber naheliegender wären niederländische Platztypen; doch solche Ableitungen widersprechen dem mediterran-romanischen Selbstbild der Franzosen.
Obwohl die mittelalterliche Grand Place in Brüssel ein Flickwerk aus dem 19. Jahrhundert ist, vertritt sie würdevoll den Bürgergeist im europäischen Städtebau. Anstelle der Einheitlichkeit italienisch-französischer Königsplätze wollten die Brüsseler ihre dreißig Zunfthäuser mit wechselnden Haushöhen und Parzellengrößen behalten, was bis heute eine faszinierende Mischung aus städtebaulicher Großform und individueller Architektur ergibt.
Die Briten dagegen hatten keine Probleme mit dem Einheitslook ihrer Reihen- und Terrassenhäuser. Dennoch verwundert es, dass aufgeklärte Bürger eines liberalen Staates ihre grünen Square-Plätze nicht als öffentliche Räume, sondern in der Tradition klösterlicher Gärten wie Privatgelände anlegten. Das opulenteste Beispiel ist der Londoner Eaton Square von 1821, der auf einem hierarchischen System räumlich-sozialer Tiefenstaffelung aufbaut.
Der Atlas löst auch das Rätsel der umzäunten Kellerabgänge vor jedem Haus. Es sind die „area“ genannten Dienstboten- und Versorgungsräume, die aus den kontinentalen Hinterhöfen heraus an die Straße geholt wurden. Die sanatoriumsartige Ruhe britischer Wohnviertel beruht auch auf den stabilen Grundbesitzverhältnissen von Königshaus, Adel und Korporationen, die bis heute ihr Bauland nur in Erbpacht vergeben.
Weitere Untersuchungen von privat-spekulativen Stadtanlagen des 19. Jahrhunderts geraten am Beispiel des Gärtnerplatzes in München und des Rüdesheimer Platzes in Berlin zu Liebeserklärungen an den wirtschaftsliberalen Städtebau der Vormoderne. Denn öffentliche Räume dienten nicht nur der Repräsentation und Dekoration von Herrschaft, sondern mussten auch früher schon Rendite bringen. Das zeigt der Atlas nicht nur am Beispiel der wunderbaren Höfe und Binnenstraßen von Riehmers Hofgarten in Berlin oder dem Margaretenhof in Wien.
Der gesamte zweite Band widmet sich in luziden Detailanalysen den linearen Stadträumen der Wiener Ringstraße, der Pariser Boulevards, der Grachten von Amsterdam, der Kaufmannsstraßen von Lübeck bis hin zu den Uferpromenaden in London, Wien und Venedig – allesamt Gebiete, in denen die Doppelbedeutung des lateinischen „commercium“ – Handel und Verkehr – noch spürbar ist.
Weil dieser „Atlas zum Städtebau“ nicht historisierend, sondern aktualisierend den heutigen Zustand von Traditionsorten dokumentiert, zeigt er nicht bloß, was einmal war, sondern was weiterhin ist. Damit leistet er eine ganz unromantische Aufklärung, die weit über den kulturellen Wert auch die Verwertbarkeit von Stadt umfasst. Deren Zirkulation und Stoffwechsel leben weiterhin von den sorgfältig gebauten Schwellenräumen der Straßen und Plätze.
Atlas zum Städtebau. Band 1: Plätze, Band 2: Straßen. Hrsg. von Vittorio Magnago Lampugnani, Markus Tubbesing, Harald Stühlinger. Hirmer-Verlag München. Zwei Bände mit insg. 732 Seiten, 1600 Abb., 98 Euro.
Michael Mönninger lehrt Geschichte und Theorie der Bau- und Raumkunst an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig.
Wie unter einem
Vergrößerungsglas wird jeder Ort
auf fünf Ebenen dargestellt
Man sieht nicht nur,
was einmal war,
sondern was weiterhin ist
Keine Scheu vor dem Einheitslook: Eaton Square, London, für den „Atlas zum Städtebau“ fotografiert von Maximilian Meisse.
Foto: Maximilian Meisse/Abb. aus dem bespr. Band
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Hymnisch bespricht der hier rezensierende Architekturkritiker Michael Mönninger diesen zweibändigen Prachtband, den der deutsch-italienische Architekt und Historiker Vittorio Magnago Lampugnani gemeinsam mit seinen Forschungskollegen Markus Tubbesing, Harald Stühlinger und Studierenden der ETH Zürich verfasst haben. So schmuck das Werk von außen wirkt, so klar, anschaulich und präzise erscheint dem Kritiker der Atlas zum Städtebau von innen: Mönninger reist mit den Herausgebern hier durch Norditalien, Berlin, Paris, Zürich, Wien oder London, bewundert die Genauigkeit, mit der auf fünf Darstellungsebenen, etwa Schwarzplänen, Situationsplänen und Kartierungen die abgebildeten Straßenzüge und Plätze wiedergegeben werden, er lobt die Fotografien von Maximilian Meisse und verzeiht angesichts der "maximalen Empirie" und Aktualität dieser "luziden Detailanalysen" auch das weitgehende Fehlen flämischer Städte.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Mit ihrer überaus reichen Ausstattung von vermassten Grund- und Aufrissen, Schnitten und materiellen Bestandsaufnahmen sind die Bände eine einzigartige Leistung architekturgeschichtlicher Dokumentation. «
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