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Das primäre Thema von Sinnlichkeit sind nicht die Dinge, die man wahrnimmt, sondern das, was man empfindet: die Atmosphären. Neben diesem Begriff behandelt Gernot Böhme jene der Physiognomie und der Ekstase. Sie werden hier in ihrer Leistungsfähigkeit in unterschiedlichen Gebieten vorgeführt: Landschaft, menschliche Erscheinung, Design.

Produktbeschreibung
Das primäre Thema von Sinnlichkeit sind nicht die Dinge, die man wahrnimmt, sondern das, was man empfindet: die Atmosphären. Neben diesem Begriff behandelt Gernot Böhme jene der Physiognomie und der Ekstase. Sie werden hier in ihrer Leistungsfähigkeit in unterschiedlichen Gebieten vorgeführt: Landschaft, menschliche Erscheinung, Design.
Autorenporträt
Gernot Böhme, geboren 1937, war Professor em. für Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt, Direktor des Instituts für Praxis der Philosophie e. V. und Vorsitzender der Darmstädter Goethe-Gesellschaft. Im Suhrkamp Verlag sind erschienen: Ethik leiblicher Existenz (stw 1880) und Ästhetischer Kapitalismus (es 2705), sowei eine erweiterte Auflage seines Klassikers Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik (es 2664). Gernot Böhme verstarb am 20.01.2022.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.08.1995

Den ästhetischen Arbeitern auf die Finger sehen
Eindruck statt Ausdruck: Gernot Böhme beobachtet die Auflösung der Kunst ins Atmosphärische

Eine der beunruhigendsten Aussagen der Ästhetischen Theorie von Theodor W. Adorno behauptet, daß die avancierte Kunst von heute den Wettlauf gegen die gesellschaftliche Verblendung schon morgen verloren haben wird. Mit grausamer Sicherheit wird sie vom Common sense ereilt, mittels Interpretation einverleibt und durch Deutung verdaut. Die Kunst ist ein Beutetier, das in der soziologischen Nahrungskette weit unten steht.

Ende des zwanzigsten Jahrhunderts scheint die Kunst deshalb eine Taktik entwickelt zu haben, die wenigstens einem Teil ihrer Produkte das Überleben verheißt: Sie tritt in Rudeln auf. Die Bemühungen, auch noch dem banalsten Aspekt des Daseins Glanz durch ästhetische Erfahrung zu verleihen, hat zu einem Prozeß geführt, den Rüdiger Bubner als "Ästhetisierung der Lebenswelt" bezeichnet hat. Es ist unmöglich, der Profanisierung der Kunst zu entgehen, wenn das Leben als Ganzes deren Triumph zelebriert. Die Durchdringung unserer Umgebung mit Design, Kunsthandwerk und Fassade ist ein Pyrrhussieg, weil nicht nur das Besondere verlorengeht, sondern auch die von Kant als Charakteristikum des Schönen festgestellte Zweckfreiheit, die uns trotzdem zweckmäßig erscheint, die Praktikabilität verdrängt. Die italienische Designer-Zitronenpresse mag einen gefälligen Anblick bieten, die Kerne fallen trotzdem ins Glas, weil das Sieb vergessen wurde.

Natürlich ist dieser gesellschaftlichen Ästhetisierung mit wohlfeiler Nostalgie und kollektiver Schelte nicht beizukommen. Bubner empfiehlt den Rückgriff auf Kants "Kritik der Urteilskraft", der Darmstädter Philosoph Gernot Böhme bemüht sich dagegen in seinen ästhetischen Arbeiten um eine Rehabilitierung des von Adorno verdammten "Kunstgewerbes". Statt einer Beschränkung auf die traditionellen Kunstwerke proklamiert Böhme für seine "neue Ästhetik" eine Wiederanknüpfung am Ausgangspunkt ästhetischer Theorie überhaupt, an Alexander Gottlieb Baumgartens Behandlung der sinnlichen Wahrnehmung. Der zentrale Begriff in Böhmes Konzeption, der auch seiner neuen Aufsatzsammlung den Titel gab, ist die "Atmosphäre" als "spürbare Anwesenheit eines Menschen oder eines Dinges". Der Herstellung solcher Eindrücke hat sich im Zeitalter von Böhmes "ästhetischer Ökonomie" der überwiegende Teil der gesellschaftlichen Produktion verschrieben, und die Designer, Werbefachleute, Kosmetiker, Bühnenbildner und Innenarchitekten sind die Helden der "ästhetischen Arbeit".

Wo Atmosphäre plan- und vor allem lernbar ist, hat das Genie der klassischen Ästhetik natürlich keinen Platz mehr. Die Werke der ästhetischen Arbeiter sind weder autonom noch notwendig kreativ. Sie machen sich allein die Erkenntnis zunutze, daß ein Grundcharakter der Natur ihre Wahrnehmbarkeit ist. Erst als Eindruck beim Rezipienten ist sie ganz bei sich, bloßer Ausdruck genügt nicht. Böhme vollzieht also eine interessante Kehre fast bis zurück zum Empirismus: Nur was wahrgenommen wird, ist naturgemäß.

Wenn aber nur der erzeugte Eindruck konstitutiv für ästhetische Arbeit ist, ist die Kunst tatsächlich nicht mehr als einer ihrer Teile. Böhme spricht ihr allerdings weiterhin kritisches Potential zu. In der Hervorkehrung des Materials in moderner Kunst sieht er den Widerstand gegen den schönen Schein der Warenwelt. Deshalb auch erklärt er die Verbreitung des Wissens von der Machbarkeit von Atmosphären, von unserer Manipulation durch die ästhetischen Arbeiter, zur Aufgabe seiner Ästhetik. Es ist in diesem Zusammenhang bedauerlich, daß Böhme mit seiner Kunstrezeption teilweise in den siebziger Jahren stehengeblieben ist und gerade den Meister der Atmosphärenerzeugung, den Komponisten Brian Eno, unerwähnt läßt. Dessen "Musik für Flughäfen" oder "Musik für Aufzüge" vereint die perfekte Illustrierung für Böhmes Thesen zur Atmosphäre mit einer schon in den Titeln der Kompositionen angelegten Kritik.

Auch muß bemängelt werden, daß Böhme kein Wort über die Verallgemeinerung der Eindrücke durch Atmosphären verliert. Es ist ja gerade das Kennzeichen der Moderne, daß es keine Verständigung über Schönheit mehr gibt, die für die Ästhetiken von Kant oder Hegel noch so wichtig war. Die produzierte Atmosphäre mag einen Teil der avisierten Rezipienten sogar abschrecken, was ihrer Funktion im Rahmen der ästhetischen Ökonomie widerspräche. Wesentlich fruchtbarer ist dagegen die Einbeziehung ökologischer Erwägungen: "Aus ökologischer Perspektive rückt die Beziehung von Umgebungsqualitäten und Befindlichkeiten ins Zentrum ästhetischen Interesses." Die Umwelt als Basis aller Atmosphäre ist der Punkt, den Böhme stärker machen sollte als seine leicht altvorderlich wirkenden Betrachtungen zur Warenwelt des Kapitalismus. Nicht der Designer ist der eigentliche ästhetische Arbeiter, sondern der Müllmann. ANDREAS PLATTHAUS

Gernot Böhme: "Atmosphären". Essays zur neuen Ästhetik. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 204 S., br., 18,80 DM.

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