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Entgegen der bisherigen Forschungsmeinung hat die Atomistik im Mittelalter eine beachtliche Anzahl von Anhängern gefunden. Es wurden sogar teilweise Theorien entwickelt, die erst in unserem Jahrhundert ihre Bestätigung fanden. Pabst greift das Thema nach über hundert Jahren erstmals wieder umfassend auf.

Produktbeschreibung
Entgegen der bisherigen Forschungsmeinung hat die Atomistik im Mittelalter eine beachtliche Anzahl von Anhängern gefunden. Es wurden sogar teilweise Theorien entwickelt, die erst in unserem Jahrhundert ihre Bestätigung fanden. Pabst greift das Thema nach über hundert Jahren erstmals wieder umfassend auf.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.06.1995

Entenflug dank Luft-Atom
Bernhard Pabst rekonstruiert die vergessene Teilchenphysik des lateinischen Mittelalters

Die Idee, daß die Dinge aus Molekülen und die Moleküle aus Atomen bestehen, ist heute eine Selbstverständlichkeit. Die Zerteilung der Materie ins Unendliche ist nach modernen Vorstellungen unmöglich. Wenn ich einen Tropfen Wasser in immer kleinere Stückchen zerteile, stoße ich früher oder später auf die Molekulargrenze, wo eine weitere Teilung die konstituierenden Elemente des Wassers, nämlich die Atome von Sauer- und Wasserstoff, freilegt. Da oder spätestens bei den Elementarteilchen hört die Zerlegung auf. So meint man wenigstens heute. Und im Mittelalter?

Wenn ein Scholastiker aus der Zeit des Thomas von Aquin gefragt worden wäre, ob ein Wassertropfen unendlich zerteilbar sei, hätte er wahrscheinlich geantwortet, er sehe keine Grund, warum dies unmöglich sei. Ein Wassertropfen sei nämlich ein solcher aufgrund einer Form, die dem Stoff Einheit verleiht, und der Stoff sei das Resultat einer bestimmten Proportion der vier Weltelemente (Feuer, Luft, Wasser und Erde), die anders als jene eines Tropfens Quecksilber oder eines Stücks Schwefel sei. Wo das Wasser überwiegt, ist die Qualität der Feuchtigkeit anzutreffen. Durch Erhitzung etwa kann die Proportion außer Balance geraten. Dann verdampft der Wassertropfen, das heißt, er nimmt eine andere Form - die des Dampfes - und die damit verbundenen Qualitäten an.

Eines ist allerdings bei all diesem zu beachten: "Überwiegen" und "Proportion" sind hier nicht quantitative, sondern qualitative Begriffe. Es geht nicht um prozentuale Elementenanteile, sondern um die Vorherrschaft der Qualitäten (Wärme, Trockenheit, Feuchtigkeit und Kälte), die mit den Elementen verbunden sind. Nun kann man Formen und Qualitäten teilen, solange man will. Die Idee eines "Atoms" ist aus dieser Perspektive Unsinn.

Die spätmittelalterlichen Diskussionen dieses Modells zeigten, daß es in eine Sackgasse führte. So griffen Wissenschaftler wie Sennert und Gassendi in der frühen Neuzeit in bewußtem Gegensatz zur scholastischen Physik der Formen und der Qualitäten auf die alte Atomhypothese von Demokrit, Epikur und Lukrez zurück. In ihren Augen war das Mittelalter nichts mehr als eine tausendjährige finstere Zwischenzeit, in der die fruchtbarsten Gedanken der Antike in Vergessenheit geraten waren.

Ein solches Bild, das noch heute populär ist, wird durch ein neues Buch über "Atomtheorien im lateinischen Mittelalter" radikal in Frage gestellt. Bernhard Pabst hat die philosophischen Texte des Mittelalters nach Spuren von atomistischen Lehren systematisch untersucht. Die Resultate sind verblüffend: Im Frühmittelalter waren nicht nur der physikalische Begriff von Atom als kleinstes und unteilbares Körperteilchen, sondern auch die Grundpositionen der antiken Atomistik bekannt.

Im zwölften und in den ersten Jahrzehnten des dreizehnten Jahrhunderts scheint der Gedanke der korpuskularen Natur der Materie unter den Philosophen, den Wissenschaftlern und den Ärzten ganz Europas sogar herrschende Lehre gewesen zu sein. Auch später, nachdem die aristotelische Physik der Formen und der Qualitäten in den Universitäten zum wissenschaftlichen Dogma avancierte und zu einem Eckpfeiler des scholastischen Weltbildes wurde, fand die atomistische Lehre Vertreter, wie die Werke eines Nikolaus von Autrecourt und eines Johannes Wyclif beweisen.

Während die Atomistik im Spätmittelalter nur ein Thema für akademische Außenseiter war und kaum Resonanz fand, setzten sich im zwölften Jahrhundert die führenden wissenschaftlichen Kreise Europas leidenschaftlich mit der Frage nach der korpuskularen Struktur der Materie auseinander. Pabst schildert diese Diskussion bis ins Detail aufgrund von zwei Dutzend Texten aus dieser Zeit, die atomistische Positionen vertraten. Der Leser begegnet hier überrascht bekannten Namen wie Petrus Abaelardus und Hugo von St. Viktor. Die meisten Autoren gingen allerdings nicht weit über das Postulat der Unmöglichkeit einer unendlichen Teilbarkeit der Materie hinaus, das offensichtlich damals als ebenso evident wie zweihundert Jahre später das Gegenteil empfunden wurde.

Die Texte zeigen vor allem, daß die mittelalterliche Atomistik von Anfang an in einer engen und verhängnisvollen Verbindung mit der Vierelementenlehre stand, so daß meistens vier verschiedene Arten von Atomen angenommen wurden, welche die für die jeweiligen Elemente charakteristischen Qualitäten besaßen. Ob man nun die Flugtauglichkeit einer Ente durch die Vorherrschaft von "trockenen" Luft-Atomen oder anhand der "Form des Federviehs" begründet - beide Erklärungen sind von moderner Wissenschaftlichkeit gleich weit entfernt. Die mittelalterlichen Atome scheinen sich aufgrund ihrer Qualitäten genau in dieselben absoluten Richtungen bewegt zu haben, nach denen die "Formen" des Aristotelismus die Dinge steuerten. Erst die "kopernikanische Wende" zwang die Wissenschaft dazu, die absoluten Begriffe von "oben" und "unten" in Frage zu stellen.

Bernhard Pabst stellt viele Fragen und zwingt zum Nachdenken. Er relativiert die geistesgeschichtliche Bedeutung des Aristotelismus, der als eine alles in allem zeitlich begrenzte Episode - zweihundert Jahre auf ein ganzes Jahrtausend - auftritt. Er zeigt, daß das Weltbild des "mittelalterlichen Menschen" viel komplizierter und differenzierter war, als man glaubt und auch die Forschung es zu oft gerne haben möchte. An seiner Rekonstruktion bleibt offensichtlich noch viel zu arbeiten. LORIS STURLESE

Bernhard Pabst: "Atomtheorien des lateinischen Mittelalters". Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1994. VIII, 373 S., geb., 68,- DM.

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