Julius Korngold zählt zu den bemerkenswertesten, sicher auch problematischsten Erscheinungen der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Als Nachfolger Eduard Hanslicks bei der Neuen Freien Presse (Wien) einer der wichtigsten und einflussreichsten Kritiker seiner Zeit, erbitterter, ja fanatischer Gegner der "Wiener Schule" und aller Tendenzen der "Neuen Musik", wurde ausgerechnet er 1897 zum Vater eines komponierenden Wunderkindes: Erich Wolfgang Korngold.Mit der Atonalen Götzendämmerung wollte Julius Korngold 1937 die Summe seiner journalistischen Tätigkeit ziehen, doch der "Anschluss" Österreichs verhinderte das Erscheinen des Buches. Seither galt es als verschollen, bis beim Wiener Verlag Doblinger ein Korrekturexemplar mit handschriftlichen Eintragungen des Autors ans Licht kam. Dieses Korrekturexemplar wird hier als Faksimile präsentiert und mit Vorwort und Kommentar sowie einem detaillierten Anmerkungsapparat ergänzt, der die in den Band eingegangenen Zeitungsartikel nachweist und somit kenntlich macht, wie Julius Korngold den anlassgebundenen Tagesjournalismus in allgemeines ästhetisches Räsonnement verwandelte.
Eine der letzten Losungen der "neuen Musik", die doch sonst nichts ausdrücken will, ist die, Ausdruck der Zeit sein zu wollen. "Gott will es!" sangen fanatisiert die mittelalterlichen Kreuzfahrer. "Die Zeit will es!" verkünden nicht minder fanatisch die neuzeitlichen Streiter für Mißklang und Entseelung.Es ist alles falsch an der Phrase, die Deutung bloßer Zeitmode als Zeitinhalt ebenso wie der der Tonkunst angesonnene Beruf, solchen Zeitinhalt wiederzugeben. Das hat sie, die Zeitlose, in ihren höchsten, beglückendsten Schöpfungen nie getan, eher das gerade Gegenteil. Wenn aber unsere Zeit wirklich so entgöttert und entnüchtert, so entseelt und demoralisiert, so unernst und geschmackverlassen wäre, wie es uns "neue Musik" durch ihre Produkte glauben machen will, wenn Vorherrschaft von Kino, Revue, Jazz, seelenloser Amüsierkunst, gesteigerter Entblößungs- und Tanztrieb und ähnliches auf die Gefahr tiefer psychologischer Änderungen der Menschennatur und nicht auf bloße modische Oberflächenerscheinungen weisen würden, so hätten gerade die Musiker einer solchen Zeit die Pflicht - gegen die Zeit zu komponieren. Sie hätten eine weite Kluft zu legen zwischen eine solche Zeit und ihre Kunst, nicht aber das angebliche Zeitchaos in ein Musikchaos umzusetzen oder umgekehrt. Denn nur das entspräche der Urfunktion, der Urbestimmung der Tonkunst. Aber freilich, um diese ihre ideale Funktion aufrechtzuerhalten, um inspirierte, schöne und tiefe Musik zu schaffen, dazu bedarf es der Gnade spezifisch musikalischer Phantasie. Die allerdings mag der Zeit fehlen, wie sie ja überhaupt eine recht seltene Sache ist und ganzen Jahrzehnten, langen Perioden, wie die Geschichte der Tonkunst zeigt, gar nicht oder recht sparsam geschenkt ist. Diese Potenz, diese schöpferische Gnade ist nicht durch klügelnden Intellekt, nicht durch [...] Parteiterrorismus und Musikgeschäftsbetrieb [...] zu erzwingen.Julius Korngold, Atonale Götzendämmerung, S. 267f.