Produktdetails
  • Le livre de poche Nr.30985
  • Verlag: Fayard, P.
  • Seitenzahl: 312
  • Erscheinungstermin: Mai 2008
  • Französisch
  • Abmessung: 180mm
  • Gewicht: 164g
  • ISBN-13: 9782253122203
  • ISBN-10: 2253122203
  • Artikelnr.: 23171073
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.10.2008

Hin zur Hyperdemokratie
Jacques Attalis eigenwillige Szenarien der Zukunft
Vor fast dreißig Jahren löste Jacques Attalis brillanter Buch-Essay „Die kannibalische Ordnung. Von der Magie zur Computermedizin” heftige Diskussionen aus. Wegen seiner Sicht des Menschen, der sich aufgrund der Fortschritte der Ersatzteile- und Reproduktionsmedizin zum biotechnischen Artefakt entwickele. Der französische Ökonom und Literat hatte angedeutet, wohin die Entwicklung gehen könne: Der Mensch überlässt seine Fortpflanzung nicht mehr dem Zufall, und der naturwüchsige Homo sapiens sapiens wird durch den optimierten „Mensch aus der Retorte” abgelöst. Die ersten Schritte in Richtung Homo constructus sind bereits getan: Laborzeugungen nach Katalog, embryonale Tier-Mensch-Hybriden. Was aus dem Menschen wird, was seine „Substanz” ist – und ob und wie sie bewahrt werden kann und soll, das wird sicher das Schlüsselthema des 21. Jahrhunderts werden.
Attali hatte in der „Kannibalischen Ordnung” diese Tendenzen und das mögliche „Ende des Menschen” beklemmend spürbar gemacht. In seinem nun vorgelegten, allerdings weit schwächeren Buch über die „Welt von morgen” hat er sich um dieses für die Zukunft des Menschen schicksalhafte Thema herumgedrückt. Zwar streut er in seine Zukunftsschau immer wieder entsprechende Motive ein (oft aus der „Kannibalischen Ordnung” genommen) – etwa wenn er sagt, dass „Fortpflanzung das Reich der Maschinen” werden wird; dass man den Menschen als „maßgeschneidertes Artefakt mit vorab ausgewählten Merkmalen in künstlichen Gebärmüttern fabrizieren” wird; dass es möglich werden könnte, das Bewusstsein eines Menschen „einem anderen Körper einzupflanzen” – aber das bleiben Randbemerkungen, das wird nie ein richtiges Thema. Attali fehlte wohl der Mut, sich den damit verbundenen schwerwiegenden Fragen zu stellen. Sein recht unreflektierter, mit gläubiger Emphase vorgetragener humanistischer Menschheits- und Zukunftsoptimismus wäre bei solchem Nachdenken ins Wanken geraten.
Und so verabschiedet sich Attali von dem abgründigen Thema nach kurzen Berührungen meist sehr schnell mit Bemerkungen wie: „Die Menschen werden alles daransetzen, um einen solchen Albtraum zu verhindern.” Da bewegt sich der Wirtschaftswissenschaftler und Präsidentenberater (früher Mitterrand, jetzt Sarkozy) schon lieber auf dem vertrauten Terrain der ökonomisch-politischen Weltentwicklung. Und so rollt Attali im ersten Teil des Buchs gewissermaßen als Prolog zu seiner Zukunftsschau mit souveräner Hand eine Geschichte des Kapitalismus aus – mit Hinweisen auf die „Gier” als mächtigem Motor von Produktivität, Handel und Freiheit sowie anderen „Lektionen” für die Zukunft. Dass Gier noch lange Zeit eine unverzichtbare Rolle für die Prosperität der Weltwirtschaft spielen wird, kommt in seiner darauf folgenden „Geschichte der Zukunft” zum Ausdruck, die nach Attali bis zum Ende des 21. Jahrhunderts voraussichtlich in vier Phasen verlaufen wird (echte Prognosen sind das freilich nicht, räumt er ein).
Nach der Niedergangsphase der amerikanischen Supermacht erwartet Attali von 2035 an drei sogenannte Zukunftswellen: das „Hyperimperium”, geführt von einer kreativen Klasse wettbewerbsorientierter, egoistischer „Hypernomaden”; dann den „Hyperkonflikt” mit zahllosen Kriegen um Wasser, Öl, Religion; endlich nach 2060 – sofern die Menschheit den Hyperkonflikt überlebt – die „Hyperdemokratie”, in der eine „relationale Ökonomie” nicht-gewinnorientierte Dienstleistungen produziert (Attali leitet schon heute mit PlaNet Finance eine solche Non-Profit-Organisation). „Altruistische und universalistische Kräfte”, „Transhumane”, werden ein „globales soziales Gleichgewicht zwischen Markt und Demokratie” herstellen, hofft Attali, und in einem „Akt des Glaubens an die Zukunft”, den es seiner Meinung nach heute zu wagen gilt, sieht er die Hyperdemokratie einst „triumphieren” als „höchste Organisationsform der Menschheit und höchster Ausdruck unserer Freiheit”.
Attalis durch und durch anthropozentrische Sicht der Zukunft (eine bedauerliche Blickverengung) wird nur einmal im Buch transzendiert – leider ins Mysteriöse: „Am Ende, auf der höchsten Entwicklungsstufe, wird eine Hyperintelligenz
alles Lebendigen das Licht der Welt erblicken können”, orakelt Attali. „Diese
Hyperintelligenz (. . .) wird nicht im alleinigen Interesse der menschlichen Spezies tätig sein. An dieser Stelle müsste
eigentlich die spezielle Geschichte des Homo sapiens sapiens zu Ende gehen (. . .) durch ein Über-sich-selbst-Hinauswachsen.” NIKOLAUS GERMAN
JACQUES ATTALI: Die Welt von morgen. Eine kleine Geschichte der Zukunft. Aus dem Französischen von Caroline Gutberlet. Parthas Verlag, Berlin 2008. 248 Seiten, 19,80 Euro.
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