Deutschland ganz unten, Deutschland ganz oben - und mittendrin: Stuckrad-Barre, mit Stift, Papier und Kamera
Im Jahr 2001 brachte er »Deutsches Theater« heraus, den »Fotoroman einer Gesellschaft, die nur in der Öffentlichkeit und im Rollenspiel noch zu sich selbst zu kommen vermag« (FAZ). Nun erscheint die Fortsetzung: Reportagen, Porträts, Erzählungen, Mono- und Dialoge - ein Sittengemälde unserer Zeit.Wahlkampf, Streik, Demonstrationen, Konsum, Fußball, Kino, Theater, Musik, Literatur, Mode, Stadtleben, Überlandfahrten. Politik, Kultur, Gesellschaft.
Mit seinem Verfahren der teilnehmenden Beobachtung findet Stuckrad-Barre Momente der Wahrheit inmitten von Vorgängen, die genau diese verschleiern sollen. Dabei wechselt sein Blick permanent zwischen außen und innen, so dass nicht nur Erkenntnis über all die anderen Menschen, sondern auch über ihn, den Zuschauer, aufblitzt. Und so entsteht aus vielen Einzelbeobachtungen ein deutscher Klappaltar, aus vielen Texteneine Großerzählung, archäologisch blicken wir auf unsere Gegenwart: Das sind die Fragen, Personen und Orte, die uns bewegen - das sind die Bedingungen, unter denen wir leben.
Im Jahr 2001 brachte er »Deutsches Theater« heraus, den »Fotoroman einer Gesellschaft, die nur in der Öffentlichkeit und im Rollenspiel noch zu sich selbst zu kommen vermag« (FAZ). Nun erscheint die Fortsetzung: Reportagen, Porträts, Erzählungen, Mono- und Dialoge - ein Sittengemälde unserer Zeit.Wahlkampf, Streik, Demonstrationen, Konsum, Fußball, Kino, Theater, Musik, Literatur, Mode, Stadtleben, Überlandfahrten. Politik, Kultur, Gesellschaft.
Mit seinem Verfahren der teilnehmenden Beobachtung findet Stuckrad-Barre Momente der Wahrheit inmitten von Vorgängen, die genau diese verschleiern sollen. Dabei wechselt sein Blick permanent zwischen außen und innen, so dass nicht nur Erkenntnis über all die anderen Menschen, sondern auch über ihn, den Zuschauer, aufblitzt. Und so entsteht aus vielen Einzelbeobachtungen ein deutscher Klappaltar, aus vielen Texteneine Großerzählung, archäologisch blicken wir auf unsere Gegenwart: Das sind die Fragen, Personen und Orte, die uns bewegen - das sind die Bedingungen, unter denen wir leben.
"Im Kern machte Benjamin von Stuckrad-Barre genau das, was ich auch immer hatte machen wollen, mitarbeiten bei der Presse, um dabei die Welt, wie sie wirklich war, zu erkunden, und an ihm und seinem journalistischen Schreiben konnte ich noch einmal beobachten, wie das geht, wenn es gelingt." aus: Rainald Goetz, "Loslabern"
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2012Von einem, der sich anzog, das Fürchten zu lernen
Benjamin von Stuckrad-Barre hat Angst, einen Roman zu schreiben. Stattdessen verfasst er die genauesten Texte über die deutsche Gegenwart
Nichts zu besprechen zu haben, keinen Anlass wie ein Buch oder einen Film, sich aber trotzdem zu treffen: das sind gute Voraussetzungen für ein Gespräch. Es geht erst mal um nichts. Man redet einfach so. Er wolle, sagt der Autor und Moderator Benjamin von Stuckrad-Barre, 37, bei seiner Arbeit "Nebensächlichkeit" herstellen - um etwas herauszufinden, über die Gäste seiner Talkshow, über die Menschen, die er begleitet, um von ihnen zu erzählen. Seit 2008 schreibt er für den Springer-Verlag; die neue Staffel seiner Talkshow fängt nächste Woche bei Tele 5 an.
Nebensächlichkeit bedeutet aber in diesem Fall nicht das fleißige Detailaufschreiben, mit dem man sich als Reporter umbringen kann, um am Ende im Text zwar die Farbe eines Knopfes an der Jacke eines Politikers nennen zu können, ohne aber zu wissen, was und wem damit geholfen wäre. Nebensächlichkeit, so liest man es aus den kurzen Reportagen heraus, die Stuckrad-Barre im Laufe der Jahre zum Beispiel über Klaus Wowereit oder Guido Westerwelle oder Marius Müller-Westernhagen geschrieben hat, ist eher der Leerlaufzustand sozialer Interaktion. Der Augenblick, in dem nichts passiert. Wenn es langweilig wird. Man so vor sich hin labert.
Stuckrad-Barre hat aus diesem Zustand des Egalgeredes den wahrscheinlich schönsten Text gewonnen, der je über den Schauspieler Manfred Krug erschienen ist: Er besucht ihn, zehn Jahre ist das schon her, in seiner Berliner Wohnung. Überall hängen Zettel, auf denen "FETT" steht: "Der Erdbeerkuchen vor Manfred Krug hat eine überdurchschnittliche Tellerverweildauer, fast zwei Stunden lang bietet er Wespen eine attraktive Landemöglichkeit, jedoch nicht, weil Krug die selbstmaßregelnden Warnzettel zu ernst nimmt, ,sondern weil ich grad vorher noch eine Riesenwurststulle hatte'."
Darauf hinzuarbeiten und dann genau mitzuschreiben, was passiert, wenn nichts passiert: das kann andererseits auch eine sehr höfliche Art sein, die schlimmsten Dinge über einen Menschen herauszufinden. Es ist aber erst mal höflich gegenüber den Lesern, weil sie der Text dann nicht so anschreit vor lauter Bedeutung, wie das Reportagen ja oft tun. Man wird von Stuckrad-Barre wahrscheinlich nie etwas von einem Müllberg in Kathmandu zu lesen bekommen, auf dem Waisenkinder ohne Zukunft leben. Wie schrecklich die Welt sein kann und ungerecht verteilt, erfährt man trotzdem aus seinen Texten. Stuckrad-Barre geht dazu dann aber in die Boxengasse der Formel 1 oder zu einer Dichterlesung von Günter Grass. Den er auf sehr unterhaltsame Weise hasst, weil er wiederum Walter Kempowski so liebt.
Wir treffen uns um 18 Uhr vor Benjamin von Stuckrad-Barres Schreibbüro am Berliner Kurfürstendamm, unten im Neubau ist ein angsteinflößender, deshalb sehr einladender Pub, in den wir aber nicht gehen, sondern die Treppe hinauf in sein möbliertes Apartment. Der gläserne Schreibtisch, auf dem ein Laptop liegt, zeigt nach draußen. Stuckrad-Barre macht sofort die Balkontür auf. Zum Rauchen. Draußen ist ein letzter Spätsommertag im Oktober, die Häuserecken, es sind ein paar der fiesesten von Charlottenburg, sind ganz weich vom Licht.
Hier arbeitet Stuckrad-Barre gerade an einem längeren Text. Ist das endlich der neue Roman? Er antwortet ausweichend. Was macht ihm eigentlich mehr Spaß, Fernsehen oder Schreiben? "Schreiben ist das Grundding, alles beginnt immer mit Text, und alles wird immer Text. Lesungen, Fernsehen - das sind Formvarianten." Wie nennt er sich selbst? "Autor. Weil ich es am prosaischsten finde."
An der Klingel zu dieser Wohnung steht ein Deckname, die Verwaltung hat ihn falsch geschrieben, ungefähr so, als würde dort jetzt "Capoti" stehen, vertippt ist es aber natürlich noch viel lustiger: an der Wirklichkeit gescheiterte Ambition, Privatwitze, die keiner mehr versteht. Stuckrad-Barre hat vor fast 15 Jahren einen Roman geschrieben, "Soloalbum", über Frauen, Liebe, Platten, als gleichzeitig jede Menge solcher Romane erschienen sind, die sich sehr oft verkauften und schnell als "Popliteratur" etikettiert wurden - was von Anfang an ein Mittel des Betriebs war, einen Ton leiser zu stellen, den man nicht hören wollte und dem man vor allem nicht traute. Dann setzte es noch ein paar Seminarbegriffe, "affirmatives Verhältnis zur Wirklichkeit", "Gebrauchssprache", und bald war das, was da endlich begonnen hatte in der deutschen Literatur, Jahre, nachdem es in Amerika und Großbritannien etabliert war, ein prätentionsfreies Schreiben aus Spaß am Text, erledigt. Mit dem Verdacht, etwas könnte zu populär sein, kriegt man bis heute die schönsten Sachen tot.
Jedenfalls begann damit die Karriere von Benjamin von Stuckrad-Barre. Auch mit der Abwehr also, mit dem Widerstand gegen seine Art von Text. Mit dem Ekel vor seinen Werbefotos für einen Herrenausstatter - und der Häme über seine Abstürze, die er verfilmen ließ. Stuckrad-Barre hat aber nicht aufgehört zu arbeiten. Er hat ein Buch nach dem anderen gemacht mit Texten, die in fast allen Zeitungen und Zeitschriften Deutschlands erschienen sind. Seit 2008 ist er als freier Mitarbeiter beim Springer-Verlag unter Vertrag, was die, die ihn vorher schon nicht mochten, natürlich noch übler nehmen. Es ist ein bisschen wie in dem alten Witz von Woody Allen: Nicht nur, dass wir hier in diesem schlechten Restaurant sitzen, die Portionen sind auch noch viel zu klein!
Langsam ändert sich aber der Ton. In den Kritiken des letzten Reportagebandes "Auch Deutsche unter den Opfern" von 2010 kam der Name "Peek & Cloppenburg" so gut wie nicht mehr vor. Ein bisschen ist es wie bei der alten Barbourjacke Christian Kracht, einem Weggefährten Stuckrad-Barres, die Werbekampagne damals haben die beiden zusammen gemacht. Als vor kurzem um den Nazigehalt in Krachts Roman "Imperium" gestritten wurde, war zumindest eins klar: dass es sich bei diesem Roman um Literatur handelte, mit einem Erzählbegriff und allem Drum und Dran. Wie lange hat es nur gedauert, bis das Imperium der Branche das kapiert hat! "Ich wollte nie etwas durchsetzen", sagt aber Stuckrad-Barre jetzt, "sondern das tun, was mir selber Spaß macht. Ich habe auch kein Programm für die nächsten dreißig Jahre. Das einzig Programmatische ist vielleicht meine Nervosität."
Bisschen kokett, das mit der Nervosität. Wobei es stimmt für seine Talkshows, in denen Stuckrad-Barre oft sympathisch herumhampelt. Bei den Reportagen fragt man sich dagegen genauso oft, wie er nur wissen konnte, dass nun ausgerechnet an diesem Tag an diesem Ort sich der Weltgeist kurz zeigen würde, und wenn nur in Form des Literaturkritikers Hellmuth Karasek, der seine Hose trocken föhnt "Die Wahrheit ist, dass man sich infernalisch viel Mist angucken muss", sagt Stuckrad-Barre. "Man muss unheimlich oft am falschen Ort sein und Sachen wieder abbrechen. Ich habe da keinen besonders guten Instinkt."
Jetzt müsste Benjamin von Stuckrad-Barre eigentlich zur Krankengymnastik, aber wir labern gerade so angenehm egal vor uns hin, an einer Straßenecke am Kurfürstendamm. "Im Stehen spricht man wahrer", hatte Stuckrad-Barre eben gesagt, auch in seiner Talkshow müssen sich die Gäste, Marina Weisband, Erwin Huber, Sahra Wagenknecht, am Anfang vor ihn hinstellen und Fragen beantworten.
Und so, im Stehen, geht es noch schnell über seine Helden Kempowski, Udo Lindenberg, Hans Magnus Enzensberger, über Rainald Goetz, über Berlin ja oder nein (ja) und noch mal darüber, ob Stuckrad-Barre es eigentlich auch merkt, dass er in seinen Gesprächspartnern enormen Konkurrenzdruck auslöst. Dass er sogar den Literaturkritiker Denis Scheck, kein Mann großer Selbstzweifel eigentlich, dazu gebracht hat, in einem Interview mit Stuckrad-Barre mithalten zu wollen, genauso cool sein zu wollen, weit vorn, bestens angezogen, amtlich informiert. Ist das nicht unfassbar anstrengend?
Stuckrad-Barre geht nicht so recht darauf ein. Redet über das Interview an sich, die komische Situation der gegenseitigen Erwartung und Übertrumpfung, und dann sagt er: "Was habe ich eben geantwortet, als Sie gefragt haben, wann mein neuer Roman erscheint? ,Wenn er fertig ist.' Die ehrliche Antwort wäre: ,Ich weiß es nicht. Ich habe Angst, dass ich es nicht kann, ich habe Angst, dass ich es noch nie gekonnt habe.' Das ist ja eigentlich die Wahrheit."
Nein, die Wahrheit ist, dass es zwar toll wäre, wenn Benjamin von Stuckrad-Barre endlich einen neuen Roman schriebe, dass es andererseits aber nicht schlimm wäre, falls es nicht mehr dazu käme, solange er die Gegenwart einfach immer weiter mit seinen Mitteln aufzeichnet. Es gibt nicht viele Autoren, die das im Fernsehen und in Texten gleichzeitig täten. Es gibt eigentlich keinen in seinem Alter, der beides gleichzeitig könnte.
TOBIAS RÜTHER
Benjamin von Stuckrad-Barre: "Deutsches Theater", 363 Seiten, 12,95 Euro; "Auch Deutsche unter den Opfern", 336 Seiten, 14,95 Euro (beide Kiepenheuer & Witsch). Siehe auch Medienseite
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Benjamin von Stuckrad-Barre hat Angst, einen Roman zu schreiben. Stattdessen verfasst er die genauesten Texte über die deutsche Gegenwart
Nichts zu besprechen zu haben, keinen Anlass wie ein Buch oder einen Film, sich aber trotzdem zu treffen: das sind gute Voraussetzungen für ein Gespräch. Es geht erst mal um nichts. Man redet einfach so. Er wolle, sagt der Autor und Moderator Benjamin von Stuckrad-Barre, 37, bei seiner Arbeit "Nebensächlichkeit" herstellen - um etwas herauszufinden, über die Gäste seiner Talkshow, über die Menschen, die er begleitet, um von ihnen zu erzählen. Seit 2008 schreibt er für den Springer-Verlag; die neue Staffel seiner Talkshow fängt nächste Woche bei Tele 5 an.
Nebensächlichkeit bedeutet aber in diesem Fall nicht das fleißige Detailaufschreiben, mit dem man sich als Reporter umbringen kann, um am Ende im Text zwar die Farbe eines Knopfes an der Jacke eines Politikers nennen zu können, ohne aber zu wissen, was und wem damit geholfen wäre. Nebensächlichkeit, so liest man es aus den kurzen Reportagen heraus, die Stuckrad-Barre im Laufe der Jahre zum Beispiel über Klaus Wowereit oder Guido Westerwelle oder Marius Müller-Westernhagen geschrieben hat, ist eher der Leerlaufzustand sozialer Interaktion. Der Augenblick, in dem nichts passiert. Wenn es langweilig wird. Man so vor sich hin labert.
Stuckrad-Barre hat aus diesem Zustand des Egalgeredes den wahrscheinlich schönsten Text gewonnen, der je über den Schauspieler Manfred Krug erschienen ist: Er besucht ihn, zehn Jahre ist das schon her, in seiner Berliner Wohnung. Überall hängen Zettel, auf denen "FETT" steht: "Der Erdbeerkuchen vor Manfred Krug hat eine überdurchschnittliche Tellerverweildauer, fast zwei Stunden lang bietet er Wespen eine attraktive Landemöglichkeit, jedoch nicht, weil Krug die selbstmaßregelnden Warnzettel zu ernst nimmt, ,sondern weil ich grad vorher noch eine Riesenwurststulle hatte'."
Darauf hinzuarbeiten und dann genau mitzuschreiben, was passiert, wenn nichts passiert: das kann andererseits auch eine sehr höfliche Art sein, die schlimmsten Dinge über einen Menschen herauszufinden. Es ist aber erst mal höflich gegenüber den Lesern, weil sie der Text dann nicht so anschreit vor lauter Bedeutung, wie das Reportagen ja oft tun. Man wird von Stuckrad-Barre wahrscheinlich nie etwas von einem Müllberg in Kathmandu zu lesen bekommen, auf dem Waisenkinder ohne Zukunft leben. Wie schrecklich die Welt sein kann und ungerecht verteilt, erfährt man trotzdem aus seinen Texten. Stuckrad-Barre geht dazu dann aber in die Boxengasse der Formel 1 oder zu einer Dichterlesung von Günter Grass. Den er auf sehr unterhaltsame Weise hasst, weil er wiederum Walter Kempowski so liebt.
Wir treffen uns um 18 Uhr vor Benjamin von Stuckrad-Barres Schreibbüro am Berliner Kurfürstendamm, unten im Neubau ist ein angsteinflößender, deshalb sehr einladender Pub, in den wir aber nicht gehen, sondern die Treppe hinauf in sein möbliertes Apartment. Der gläserne Schreibtisch, auf dem ein Laptop liegt, zeigt nach draußen. Stuckrad-Barre macht sofort die Balkontür auf. Zum Rauchen. Draußen ist ein letzter Spätsommertag im Oktober, die Häuserecken, es sind ein paar der fiesesten von Charlottenburg, sind ganz weich vom Licht.
Hier arbeitet Stuckrad-Barre gerade an einem längeren Text. Ist das endlich der neue Roman? Er antwortet ausweichend. Was macht ihm eigentlich mehr Spaß, Fernsehen oder Schreiben? "Schreiben ist das Grundding, alles beginnt immer mit Text, und alles wird immer Text. Lesungen, Fernsehen - das sind Formvarianten." Wie nennt er sich selbst? "Autor. Weil ich es am prosaischsten finde."
An der Klingel zu dieser Wohnung steht ein Deckname, die Verwaltung hat ihn falsch geschrieben, ungefähr so, als würde dort jetzt "Capoti" stehen, vertippt ist es aber natürlich noch viel lustiger: an der Wirklichkeit gescheiterte Ambition, Privatwitze, die keiner mehr versteht. Stuckrad-Barre hat vor fast 15 Jahren einen Roman geschrieben, "Soloalbum", über Frauen, Liebe, Platten, als gleichzeitig jede Menge solcher Romane erschienen sind, die sich sehr oft verkauften und schnell als "Popliteratur" etikettiert wurden - was von Anfang an ein Mittel des Betriebs war, einen Ton leiser zu stellen, den man nicht hören wollte und dem man vor allem nicht traute. Dann setzte es noch ein paar Seminarbegriffe, "affirmatives Verhältnis zur Wirklichkeit", "Gebrauchssprache", und bald war das, was da endlich begonnen hatte in der deutschen Literatur, Jahre, nachdem es in Amerika und Großbritannien etabliert war, ein prätentionsfreies Schreiben aus Spaß am Text, erledigt. Mit dem Verdacht, etwas könnte zu populär sein, kriegt man bis heute die schönsten Sachen tot.
Jedenfalls begann damit die Karriere von Benjamin von Stuckrad-Barre. Auch mit der Abwehr also, mit dem Widerstand gegen seine Art von Text. Mit dem Ekel vor seinen Werbefotos für einen Herrenausstatter - und der Häme über seine Abstürze, die er verfilmen ließ. Stuckrad-Barre hat aber nicht aufgehört zu arbeiten. Er hat ein Buch nach dem anderen gemacht mit Texten, die in fast allen Zeitungen und Zeitschriften Deutschlands erschienen sind. Seit 2008 ist er als freier Mitarbeiter beim Springer-Verlag unter Vertrag, was die, die ihn vorher schon nicht mochten, natürlich noch übler nehmen. Es ist ein bisschen wie in dem alten Witz von Woody Allen: Nicht nur, dass wir hier in diesem schlechten Restaurant sitzen, die Portionen sind auch noch viel zu klein!
Langsam ändert sich aber der Ton. In den Kritiken des letzten Reportagebandes "Auch Deutsche unter den Opfern" von 2010 kam der Name "Peek & Cloppenburg" so gut wie nicht mehr vor. Ein bisschen ist es wie bei der alten Barbourjacke Christian Kracht, einem Weggefährten Stuckrad-Barres, die Werbekampagne damals haben die beiden zusammen gemacht. Als vor kurzem um den Nazigehalt in Krachts Roman "Imperium" gestritten wurde, war zumindest eins klar: dass es sich bei diesem Roman um Literatur handelte, mit einem Erzählbegriff und allem Drum und Dran. Wie lange hat es nur gedauert, bis das Imperium der Branche das kapiert hat! "Ich wollte nie etwas durchsetzen", sagt aber Stuckrad-Barre jetzt, "sondern das tun, was mir selber Spaß macht. Ich habe auch kein Programm für die nächsten dreißig Jahre. Das einzig Programmatische ist vielleicht meine Nervosität."
Bisschen kokett, das mit der Nervosität. Wobei es stimmt für seine Talkshows, in denen Stuckrad-Barre oft sympathisch herumhampelt. Bei den Reportagen fragt man sich dagegen genauso oft, wie er nur wissen konnte, dass nun ausgerechnet an diesem Tag an diesem Ort sich der Weltgeist kurz zeigen würde, und wenn nur in Form des Literaturkritikers Hellmuth Karasek, der seine Hose trocken föhnt "Die Wahrheit ist, dass man sich infernalisch viel Mist angucken muss", sagt Stuckrad-Barre. "Man muss unheimlich oft am falschen Ort sein und Sachen wieder abbrechen. Ich habe da keinen besonders guten Instinkt."
Jetzt müsste Benjamin von Stuckrad-Barre eigentlich zur Krankengymnastik, aber wir labern gerade so angenehm egal vor uns hin, an einer Straßenecke am Kurfürstendamm. "Im Stehen spricht man wahrer", hatte Stuckrad-Barre eben gesagt, auch in seiner Talkshow müssen sich die Gäste, Marina Weisband, Erwin Huber, Sahra Wagenknecht, am Anfang vor ihn hinstellen und Fragen beantworten.
Und so, im Stehen, geht es noch schnell über seine Helden Kempowski, Udo Lindenberg, Hans Magnus Enzensberger, über Rainald Goetz, über Berlin ja oder nein (ja) und noch mal darüber, ob Stuckrad-Barre es eigentlich auch merkt, dass er in seinen Gesprächspartnern enormen Konkurrenzdruck auslöst. Dass er sogar den Literaturkritiker Denis Scheck, kein Mann großer Selbstzweifel eigentlich, dazu gebracht hat, in einem Interview mit Stuckrad-Barre mithalten zu wollen, genauso cool sein zu wollen, weit vorn, bestens angezogen, amtlich informiert. Ist das nicht unfassbar anstrengend?
Stuckrad-Barre geht nicht so recht darauf ein. Redet über das Interview an sich, die komische Situation der gegenseitigen Erwartung und Übertrumpfung, und dann sagt er: "Was habe ich eben geantwortet, als Sie gefragt haben, wann mein neuer Roman erscheint? ,Wenn er fertig ist.' Die ehrliche Antwort wäre: ,Ich weiß es nicht. Ich habe Angst, dass ich es nicht kann, ich habe Angst, dass ich es noch nie gekonnt habe.' Das ist ja eigentlich die Wahrheit."
Nein, die Wahrheit ist, dass es zwar toll wäre, wenn Benjamin von Stuckrad-Barre endlich einen neuen Roman schriebe, dass es andererseits aber nicht schlimm wäre, falls es nicht mehr dazu käme, solange er die Gegenwart einfach immer weiter mit seinen Mitteln aufzeichnet. Es gibt nicht viele Autoren, die das im Fernsehen und in Texten gleichzeitig täten. Es gibt eigentlich keinen in seinem Alter, der beides gleichzeitig könnte.
TOBIAS RÜTHER
Benjamin von Stuckrad-Barre: "Deutsches Theater", 363 Seiten, 12,95 Euro; "Auch Deutsche unter den Opfern", 336 Seiten, 14,95 Euro (beide Kiepenheuer & Witsch). Siehe auch Medienseite
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.05.2010Merkels Sehnsucht nach Grundmoräne
Benjamin von Stuckrad-Barre bedient in seinen Reportagen unsere Freude am Zusammenbruch von Inszenierungen
Als vor fast zehn Jahren Benjamin von Stuckrad-Barres „Deutsches Theater“ erschien, war die Idee dahinter schon nicht mehr die neueste: Politik, das öffentliche Leben, überhaupt alles als Theater zu betrachten, es auf seine Inszenierung hin zu untersuchen, dieser Arbeitsansatz ist vermutlich so alt wie das Theater selbst, wenn nicht sogar noch älter. Dem Buch vorangestellt war ein Zitat des Soziologen Erving Goffman: „Der ganze Apparat der Selbstinszenierung ist natürlich umständlich, er bricht manchmal zusammen und enthüllt dann seine einzelnen Bestandteile: Kontrolle über die Hinterbühne, Ensembleverschwörung, Publikumstakt usw.“ Von der Faszination, die von solchen Inszenierungszusammenbrüchen ausgeht, lebten Stuckrad-Barres Texte.
Nachdem 2008 bereits „Deutsches Theater“ in einer erweiterten Neuauflage herausgegeben wurde, ist nun „Auch Deutsche unter den Opfern“ erschienen, das deutlich als Fortsetzung des Projektes kenntlich gemacht wurde, Format und Satz, die Zusammenstellung von Fotos und Texten gleichen sich, wieder sind bereits veröffentlichte literarisch-journalistische Stücke gesammelt, die, ein kleiner Unterschied, Stuckrad-Barre mittlerweile exklusiv für Publikationen aus dem Springer-Verlag verfasst. Im Mittelpunkt steht aber immer noch die Inszenierung und ihr Zusammenbruch: Besucht hat Stuckrad-Barre für seine Reportagen und Porträts kleinere und größere öffentliche Veranstaltungen, die Eröffnung eines Outlet-Centers in Brandenburg ebenso wie die geschichtsträchtige Pressekonferenz der SPD am Schwielowsee. Das liebste Untersuchungsfeld ist ihm, wie allen Inszenierungsbeobachtern, aber immer noch der Wahlkampf, gleich in neun Texten widmet er sich dieser Variante des Theaters.
Statt eines Goffman-Zitats findet man am Anfang des Buches nun ein Vorwort des mit dem Autor befreundeten Regisseurs Helmut Dietl: „Es gab mal einen Werbeslogan für Bayern 5“, schreibt Dietl, „der dazu aufforderte, mit dem Ohr unentwegt dranzubleiben, ,denn in fünfzehn Minuten kann sich die Welt verändern‘. Kann sein, wenn wir öfter mal, möglichst alle Viertelstunde, einen Nine-Eleven oder einen Tsunami hätten.“ Haben wir aber nicht, ist damit wohl gemeint, und deswegen spielt die Öffentlichkeit in der Zeit zwischen Nine-Eleven und Tsunami-Theater.
Stuckrad-Barre hat aus dieser Not eine Tugend gemacht: Weil man als Journalist dauernd zu Terminen kommt, wo schon alles durchchoreographiert und -inszeniert ist und wo die Anzahl der Journalisten und Pressereferenten die Anzahl derer übersteigt, über die zu berichten gewesen wäre, schreibt Stuckrad-Barre stattdessen einfach über die anderen Journalisten und die Inszenierung, die sich ja dann am besten erkennen lässt, wenn sie gerade einen kurzen Aussetzer hat.
Diese Idee war ein einfacher Ausweg, aber sie wurde in den letzten zehn Jahren natürlich weder jünger noch origineller. Eher im Gegenteil: Es regt sich sogar Widerstand. „Anstatt tatsächlich politische Analysen, so schwierig diese gerade aktuell auch sein mögen, zu versuchen“, schreibt beispielsweise der Journalist Daniel Erk, „begnügen sich immer mehr Beobachter mit einer Art Stilkritik der Politik – man betrachtet die Inszenierung und mutmaßt über die Auswirkungen.“
Es droht die Inflation der Inszenierungskritik: Machen es nicht mittlerweile zu viele genauso wie Stuckrad-Barre und sie es sich damit nicht zu leicht? Sollten man nicht statt so schnell die weiße Fahne zu schwenken lieber genauer suchen und dann dahin gehen, wo es wirklich etwas zu berichten gibt?
Dass angesichts dieser Bedrohungslage „Auch Deutsche unter den Opfern“ trotzdem funktioniert, liegt daran, dass Stuckrad-Barre immer noch die Fähigkeit besitzt, seine Inszenierungskritik so aufzuschreiben, dass der Leser ganz vergisst, dass dahinter ja eine große These auf etwas wackeligen Beinen steht – vielleicht ist es das, was Dietl meint, wenn er im Vorwort das große poetologisch-epistemische Fass aufmacht und davon spricht, dass die Wahrheit doch eher im Stil des Gesagten oder Geschriebenen liege als in dessen Inhalt.
Am Titel des Buches kann man bereits festmachen, wie das funktioniert: Dass scheinheiliger Katastrophenjournalismus als eine der ersten Fragen stets zu beantworten versucht, ob sich auch Deutsche unter den Opfern befinden, ist natürlich selbstentlarvend, aber als Beobachtung so bekannt, dass es höchstens noch für moralinsaure Medienkritik im Kabarett taugt. Aus dem Zusammenhang gerissen und zum Buchtitel überhöht, gewinnt das Satzfragment dann aber so viel, dass die Inszenierungskritik irgendwo im Hintergrund verschwindet.
Während Stuckrad-Barre Angela Merkel auf Wahlkampftour im Nostalgiezug begleitet, hat er kurz die Gelegenheit, ein Gespräch mit der Bundeskanzlerin zu führen. Was ihre persönliche Sehnsuchtslandschaft sei, fragt er, inspiriert vom Blick auf den Fenstern des Panoramawaggons, und Angela Merkel antwortet: „Leicht wellig. Mehr so Grundmoräne.“ Wer traut sich angesichts dieses poetischen Bekenntnisses noch, die Frage aufzuwerfen, ob man denn nicht hätte Wichtigeres besprechen können oder sogar müssen, wenn man die Gelegenheit hat, Angela Merkel zu interviewen?
Dabei verlässt Stuckrad-Barre sich sprachlich auf Altbewährtes: Die öffentliche Großzelebrierung und Heraufbeschwörung von Bedeutsamkeit referiert er im Tonfall des routinierten Beobachters, der sich aber, das ist entscheidend, selten wirklich schmerzhaft langweilt. Eher scheint er sich in der Routine ein wenig zu Hause zu fühlen. „Aber zuvor wird noch ins All gewinkt“, heißt es, wenn Angela Merkel auf einer Veranstaltung ihr kurzes Gespräch mit der Internationalen Raumstation beendet – und in ihrer anschließenden Rede spricht sie nicht über der Raumfahrt zu verdankende Innovations-Spaltprodukte, sondern sie „redet noch ein bisschen über der Raumfahrt zu verdankende Innovations-Spaltprodukte.“
Das unpersönliche Passiv, das eingefügte „ein bisschen“, sie sind Stuckrad-Barres Waffen: nicht mehr ganz neu, aber immer noch funktionstüchtig. Vor allem aber zielt er mit ihnen nicht auf die öffentlichen Personen, um sie als böswillige Inszenierer zu enttarnen. Die Inszenierung erscheint als systembedingte Notwendigkeit, ihre Darsteller sind nicht von vorneherein unsympathisch, auch weil man ein wenig Mitleid für sie hat, dass sie da mitmachen müssen. Eine Ausnahme ist hier Günter Grass, gegen den Stuckrad-Barre einen persönlichen Groll hegen muss, der ihn diese lobenswerte Grundeinstellung vergessen lässt.
„In der Regel hinkt man ja der Weltgeschichte hinterher mit seinem eigenen mickrigen Leben. Durch einen Zufall ist man vielleicht mal wirklicher Augenzeuge eines weltbewegenden Ereignisses“, sagt Stuckrad-Barre in einem Gespräch mit Alexander Kluge, das am Ende von „Auch Deutsche unter den Opfern“ wiedergegeben wird.
Das ist so wahr, wie es trivial ist. Ein paar Seiten zuvor noch berichtet der Autor vom Bundestagswahlabend im Willy-Brandt-Haus: Dort übergibt sich vor Bekanntmachung der ersten Prognose ein Mann plötzlich auf den Fußboden der Parteizentrale. Der Mann bestellt sich daraufhin am Bierstand ein neues Pils und, weil Hektik und Sorge herrschen, bemerkt niemand das Malheur: Alle laufen telefonierend durch das Erbrochene und verteilen es mit ihren Schuhen im gesamten Willy-Brandt-Haus.
Zeuge dieses Ereignisses wird Stuckrad-Barre zwar zufällig, weltbewegend ist es natürlich keinesfalls. Es verrät auch nichts über den Zustand der SPD, die Gemütslage der Berliner Republik oder die parlamentarische Demokratie an sich. Und trotzdem liest man es gern, wenn Stuckrad-Barre es aufschreibt, aus reiner Faszination für den Zusammenbruch der Inszenierung. LARS WEISBROD
BENJAMIN VON STUCKRAD-BARRE: Auch Deutsche unter den Opfern. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 335 Seiten, 14,95 Euro.
Wer so schreibt, macht vergessen,
dass er eine These hat, die auf
etwas wackeligen Beinen steht
Alle müssen mitspielen –
daher haben sie Anspruch auf
ein bisschen Mitleid
Erst wird mal ein bisschen geraucht, dann kann man wieder beobachten, wie die anderen ihre Rollen spielen und ins Stolpern kommen und dabei auch die Beobachter des Stolperns umreißen. – Kein anderer schreibt so unterhaltsam und suggestiv darüber wie Benjamin von Stuckrad-Barre. Bekannt wurde der 1975 in Bremen geborene Journalist mit seinem Debütroman „Soloalbum“, der 1998 erschien. Es folgten unter anderem „Livealbum“, „Blackbox“ und die Reportagesammlung „Deutsches Theater“. Seit Beginn des Jahres 2008 ist Stuckrad-Barre exklusiv für Zeitungen der Axel Springer AG tätig.
Frieder Blickle/laif
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Benjamin von Stuckrad-Barre bedient in seinen Reportagen unsere Freude am Zusammenbruch von Inszenierungen
Als vor fast zehn Jahren Benjamin von Stuckrad-Barres „Deutsches Theater“ erschien, war die Idee dahinter schon nicht mehr die neueste: Politik, das öffentliche Leben, überhaupt alles als Theater zu betrachten, es auf seine Inszenierung hin zu untersuchen, dieser Arbeitsansatz ist vermutlich so alt wie das Theater selbst, wenn nicht sogar noch älter. Dem Buch vorangestellt war ein Zitat des Soziologen Erving Goffman: „Der ganze Apparat der Selbstinszenierung ist natürlich umständlich, er bricht manchmal zusammen und enthüllt dann seine einzelnen Bestandteile: Kontrolle über die Hinterbühne, Ensembleverschwörung, Publikumstakt usw.“ Von der Faszination, die von solchen Inszenierungszusammenbrüchen ausgeht, lebten Stuckrad-Barres Texte.
Nachdem 2008 bereits „Deutsches Theater“ in einer erweiterten Neuauflage herausgegeben wurde, ist nun „Auch Deutsche unter den Opfern“ erschienen, das deutlich als Fortsetzung des Projektes kenntlich gemacht wurde, Format und Satz, die Zusammenstellung von Fotos und Texten gleichen sich, wieder sind bereits veröffentlichte literarisch-journalistische Stücke gesammelt, die, ein kleiner Unterschied, Stuckrad-Barre mittlerweile exklusiv für Publikationen aus dem Springer-Verlag verfasst. Im Mittelpunkt steht aber immer noch die Inszenierung und ihr Zusammenbruch: Besucht hat Stuckrad-Barre für seine Reportagen und Porträts kleinere und größere öffentliche Veranstaltungen, die Eröffnung eines Outlet-Centers in Brandenburg ebenso wie die geschichtsträchtige Pressekonferenz der SPD am Schwielowsee. Das liebste Untersuchungsfeld ist ihm, wie allen Inszenierungsbeobachtern, aber immer noch der Wahlkampf, gleich in neun Texten widmet er sich dieser Variante des Theaters.
Statt eines Goffman-Zitats findet man am Anfang des Buches nun ein Vorwort des mit dem Autor befreundeten Regisseurs Helmut Dietl: „Es gab mal einen Werbeslogan für Bayern 5“, schreibt Dietl, „der dazu aufforderte, mit dem Ohr unentwegt dranzubleiben, ,denn in fünfzehn Minuten kann sich die Welt verändern‘. Kann sein, wenn wir öfter mal, möglichst alle Viertelstunde, einen Nine-Eleven oder einen Tsunami hätten.“ Haben wir aber nicht, ist damit wohl gemeint, und deswegen spielt die Öffentlichkeit in der Zeit zwischen Nine-Eleven und Tsunami-Theater.
Stuckrad-Barre hat aus dieser Not eine Tugend gemacht: Weil man als Journalist dauernd zu Terminen kommt, wo schon alles durchchoreographiert und -inszeniert ist und wo die Anzahl der Journalisten und Pressereferenten die Anzahl derer übersteigt, über die zu berichten gewesen wäre, schreibt Stuckrad-Barre stattdessen einfach über die anderen Journalisten und die Inszenierung, die sich ja dann am besten erkennen lässt, wenn sie gerade einen kurzen Aussetzer hat.
Diese Idee war ein einfacher Ausweg, aber sie wurde in den letzten zehn Jahren natürlich weder jünger noch origineller. Eher im Gegenteil: Es regt sich sogar Widerstand. „Anstatt tatsächlich politische Analysen, so schwierig diese gerade aktuell auch sein mögen, zu versuchen“, schreibt beispielsweise der Journalist Daniel Erk, „begnügen sich immer mehr Beobachter mit einer Art Stilkritik der Politik – man betrachtet die Inszenierung und mutmaßt über die Auswirkungen.“
Es droht die Inflation der Inszenierungskritik: Machen es nicht mittlerweile zu viele genauso wie Stuckrad-Barre und sie es sich damit nicht zu leicht? Sollten man nicht statt so schnell die weiße Fahne zu schwenken lieber genauer suchen und dann dahin gehen, wo es wirklich etwas zu berichten gibt?
Dass angesichts dieser Bedrohungslage „Auch Deutsche unter den Opfern“ trotzdem funktioniert, liegt daran, dass Stuckrad-Barre immer noch die Fähigkeit besitzt, seine Inszenierungskritik so aufzuschreiben, dass der Leser ganz vergisst, dass dahinter ja eine große These auf etwas wackeligen Beinen steht – vielleicht ist es das, was Dietl meint, wenn er im Vorwort das große poetologisch-epistemische Fass aufmacht und davon spricht, dass die Wahrheit doch eher im Stil des Gesagten oder Geschriebenen liege als in dessen Inhalt.
Am Titel des Buches kann man bereits festmachen, wie das funktioniert: Dass scheinheiliger Katastrophenjournalismus als eine der ersten Fragen stets zu beantworten versucht, ob sich auch Deutsche unter den Opfern befinden, ist natürlich selbstentlarvend, aber als Beobachtung so bekannt, dass es höchstens noch für moralinsaure Medienkritik im Kabarett taugt. Aus dem Zusammenhang gerissen und zum Buchtitel überhöht, gewinnt das Satzfragment dann aber so viel, dass die Inszenierungskritik irgendwo im Hintergrund verschwindet.
Während Stuckrad-Barre Angela Merkel auf Wahlkampftour im Nostalgiezug begleitet, hat er kurz die Gelegenheit, ein Gespräch mit der Bundeskanzlerin zu führen. Was ihre persönliche Sehnsuchtslandschaft sei, fragt er, inspiriert vom Blick auf den Fenstern des Panoramawaggons, und Angela Merkel antwortet: „Leicht wellig. Mehr so Grundmoräne.“ Wer traut sich angesichts dieses poetischen Bekenntnisses noch, die Frage aufzuwerfen, ob man denn nicht hätte Wichtigeres besprechen können oder sogar müssen, wenn man die Gelegenheit hat, Angela Merkel zu interviewen?
Dabei verlässt Stuckrad-Barre sich sprachlich auf Altbewährtes: Die öffentliche Großzelebrierung und Heraufbeschwörung von Bedeutsamkeit referiert er im Tonfall des routinierten Beobachters, der sich aber, das ist entscheidend, selten wirklich schmerzhaft langweilt. Eher scheint er sich in der Routine ein wenig zu Hause zu fühlen. „Aber zuvor wird noch ins All gewinkt“, heißt es, wenn Angela Merkel auf einer Veranstaltung ihr kurzes Gespräch mit der Internationalen Raumstation beendet – und in ihrer anschließenden Rede spricht sie nicht über der Raumfahrt zu verdankende Innovations-Spaltprodukte, sondern sie „redet noch ein bisschen über der Raumfahrt zu verdankende Innovations-Spaltprodukte.“
Das unpersönliche Passiv, das eingefügte „ein bisschen“, sie sind Stuckrad-Barres Waffen: nicht mehr ganz neu, aber immer noch funktionstüchtig. Vor allem aber zielt er mit ihnen nicht auf die öffentlichen Personen, um sie als böswillige Inszenierer zu enttarnen. Die Inszenierung erscheint als systembedingte Notwendigkeit, ihre Darsteller sind nicht von vorneherein unsympathisch, auch weil man ein wenig Mitleid für sie hat, dass sie da mitmachen müssen. Eine Ausnahme ist hier Günter Grass, gegen den Stuckrad-Barre einen persönlichen Groll hegen muss, der ihn diese lobenswerte Grundeinstellung vergessen lässt.
„In der Regel hinkt man ja der Weltgeschichte hinterher mit seinem eigenen mickrigen Leben. Durch einen Zufall ist man vielleicht mal wirklicher Augenzeuge eines weltbewegenden Ereignisses“, sagt Stuckrad-Barre in einem Gespräch mit Alexander Kluge, das am Ende von „Auch Deutsche unter den Opfern“ wiedergegeben wird.
Das ist so wahr, wie es trivial ist. Ein paar Seiten zuvor noch berichtet der Autor vom Bundestagswahlabend im Willy-Brandt-Haus: Dort übergibt sich vor Bekanntmachung der ersten Prognose ein Mann plötzlich auf den Fußboden der Parteizentrale. Der Mann bestellt sich daraufhin am Bierstand ein neues Pils und, weil Hektik und Sorge herrschen, bemerkt niemand das Malheur: Alle laufen telefonierend durch das Erbrochene und verteilen es mit ihren Schuhen im gesamten Willy-Brandt-Haus.
Zeuge dieses Ereignisses wird Stuckrad-Barre zwar zufällig, weltbewegend ist es natürlich keinesfalls. Es verrät auch nichts über den Zustand der SPD, die Gemütslage der Berliner Republik oder die parlamentarische Demokratie an sich. Und trotzdem liest man es gern, wenn Stuckrad-Barre es aufschreibt, aus reiner Faszination für den Zusammenbruch der Inszenierung. LARS WEISBROD
BENJAMIN VON STUCKRAD-BARRE: Auch Deutsche unter den Opfern. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 335 Seiten, 14,95 Euro.
Wer so schreibt, macht vergessen,
dass er eine These hat, die auf
etwas wackeligen Beinen steht
Alle müssen mitspielen –
daher haben sie Anspruch auf
ein bisschen Mitleid
Erst wird mal ein bisschen geraucht, dann kann man wieder beobachten, wie die anderen ihre Rollen spielen und ins Stolpern kommen und dabei auch die Beobachter des Stolperns umreißen. – Kein anderer schreibt so unterhaltsam und suggestiv darüber wie Benjamin von Stuckrad-Barre. Bekannt wurde der 1975 in Bremen geborene Journalist mit seinem Debütroman „Soloalbum“, der 1998 erschien. Es folgten unter anderem „Livealbum“, „Blackbox“ und die Reportagesammlung „Deutsches Theater“. Seit Beginn des Jahres 2008 ist Stuckrad-Barre exklusiv für Zeitungen der Axel Springer AG tätig.
Frieder Blickle/laif
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
"Einen besseren Chronisten unserer Zeit gibt es einfach nicht", feiert Adam Soboczynski das neue Buch von Benjamin von Stuckrad-Barre, das Kolumnen für verschiedene Zeitungen des Springer-Verlags versammelt. Und zwar deshalb, begründet der Kritiker seinen überschwänglichen Befund, weil dieser Autor im Entstehungszeitraum der Texte immer da gewesen sei, wo man hätte sein müssen, um zu erfahren, "was dieses Land im Innersten zusammenhält". Sei es bei Obama in Berlin, Til Schweiger im Kino, Udo Lindenberg im Hamburger Atlantic-Hotel oder dem Gasthaus Wuppke. "Kleine entrückte Feuilletons", quietscht der Kritiker entzückt und denkt an die Art, wie einst vor 80 Jahren in den Texten Siegfried Jacobsohns Alltag und Welthaltigkeit "mühelos zusammengefallen" sind. Soboczynski beobachtet begeistert mit Stuckrad-Barre jene grotesken Momente des Allzumenschlichen, für die der Autor so ein unvergleichliches Auge hat, sieht bei den Porträtierten erst durch die Entgleisung den menschlichen Makel aufblitzen. Weshalb der Kritiker auch manches weniger geglückte Prosastück locker wegstecken kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Bestechend genaue Momentaufnahmen [...] bleibende, weil scharfsichtige Szenen der Zeitgeschichte: ein literarischer Fotoabend gewissermaßen.« Hellmuth Karasek