Deutschland ganz unten, Deutschland ganz oben - und mittendrin: Stuckrad-Barre, mit Stift, Papier und Kamera
Im Jahr 2001 brachte er »Deutsches Theater« heraus, den »Fotoroman einer Gesellschaft, die nur in der Öffentlichkeit und im Rollenspiel noch zu sich selbst zu kommen vermag« (FAZ). Nun erscheint die Fortsetzung: Reportagen, Porträts, Erzählungen, Mono- und Dialoge - ein Sittengemälde unserer Zeit.Wahlkampf, Streik, Demonstrationen, Konsum, Fußball, Kino, Theater, Musik, Literatur, Mode, Stadtleben, Überlandfahrten. Politik, Kultur, Gesellschaft.
Mit seinem Verfahren der teilnehmenden Beobachtung findet Stuckrad-Barre Momente der Wahrheit inmitten von Vorgängen, die genau diese verschleiern sollen. Dabei wechselt sein Blick permanent zwischen außen und innen, so dass nicht nur Erkenntnis über all die anderen Menschen, sondern auch über ihn, den Zuschauer, aufblitzt. Und so entsteht aus vielen Einzelbeobachtungen ein deutscher Klappaltar, aus vielen Texteneine Großerzählung, archäologisch blicken wir auf unsere Gegenwart: Das sind die Fragen, Personen und Orte, die uns bewegen - das sind die Bedingungen, unter denen wir leben.
Im Jahr 2001 brachte er »Deutsches Theater« heraus, den »Fotoroman einer Gesellschaft, die nur in der Öffentlichkeit und im Rollenspiel noch zu sich selbst zu kommen vermag« (FAZ). Nun erscheint die Fortsetzung: Reportagen, Porträts, Erzählungen, Mono- und Dialoge - ein Sittengemälde unserer Zeit.Wahlkampf, Streik, Demonstrationen, Konsum, Fußball, Kino, Theater, Musik, Literatur, Mode, Stadtleben, Überlandfahrten. Politik, Kultur, Gesellschaft.
Mit seinem Verfahren der teilnehmenden Beobachtung findet Stuckrad-Barre Momente der Wahrheit inmitten von Vorgängen, die genau diese verschleiern sollen. Dabei wechselt sein Blick permanent zwischen außen und innen, so dass nicht nur Erkenntnis über all die anderen Menschen, sondern auch über ihn, den Zuschauer, aufblitzt. Und so entsteht aus vielen Einzelbeobachtungen ein deutscher Klappaltar, aus vielen Texteneine Großerzählung, archäologisch blicken wir auf unsere Gegenwart: Das sind die Fragen, Personen und Orte, die uns bewegen - das sind die Bedingungen, unter denen wir leben.
"Im Kern machte Benjamin von Stuckrad-Barre genau das, was ich auch immer hatte machen wollen, mitarbeiten bei der Presse, um dabei die Welt, wie sie wirklich war, zu erkunden, und an ihm und seinem journalistischen Schreiben konnte ich noch einmal beobachten, wie das geht, wenn es gelingt." aus: Rainald Goetz, "Loslabern"
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2012Von einem, der sich anzog, das Fürchten zu lernen
Benjamin von Stuckrad-Barre hat Angst, einen Roman zu schreiben. Stattdessen verfasst er die genauesten Texte über die deutsche Gegenwart
Nichts zu besprechen zu haben, keinen Anlass wie ein Buch oder einen Film, sich aber trotzdem zu treffen: das sind gute Voraussetzungen für ein Gespräch. Es geht erst mal um nichts. Man redet einfach so. Er wolle, sagt der Autor und Moderator Benjamin von Stuckrad-Barre, 37, bei seiner Arbeit "Nebensächlichkeit" herstellen - um etwas herauszufinden, über die Gäste seiner Talkshow, über die Menschen, die er begleitet, um von ihnen zu erzählen. Seit 2008 schreibt er für den Springer-Verlag; die neue Staffel seiner Talkshow fängt nächste Woche bei Tele 5 an.
Nebensächlichkeit bedeutet aber in diesem Fall nicht das fleißige Detailaufschreiben, mit dem man sich als Reporter umbringen kann, um am Ende im Text zwar die Farbe eines Knopfes an der Jacke eines Politikers nennen zu können, ohne aber zu wissen, was und wem damit geholfen wäre. Nebensächlichkeit, so liest man es aus den kurzen Reportagen heraus, die Stuckrad-Barre im Laufe der Jahre zum Beispiel über Klaus Wowereit oder Guido Westerwelle oder Marius Müller-Westernhagen geschrieben hat, ist eher der Leerlaufzustand sozialer Interaktion. Der Augenblick, in dem nichts passiert. Wenn es langweilig wird. Man so vor sich hin labert.
Stuckrad-Barre hat aus diesem Zustand des Egalgeredes den wahrscheinlich schönsten Text gewonnen, der je über den Schauspieler Manfred Krug erschienen ist: Er besucht ihn, zehn Jahre ist das schon her, in seiner Berliner Wohnung. Überall hängen Zettel, auf denen "FETT" steht: "Der Erdbeerkuchen vor Manfred Krug hat eine überdurchschnittliche Tellerverweildauer, fast zwei Stunden lang bietet er Wespen eine attraktive Landemöglichkeit, jedoch nicht, weil Krug die selbstmaßregelnden Warnzettel zu ernst nimmt, ,sondern weil ich grad vorher noch eine Riesenwurststulle hatte'."
Darauf hinzuarbeiten und dann genau mitzuschreiben, was passiert, wenn nichts passiert: das kann andererseits auch eine sehr höfliche Art sein, die schlimmsten Dinge über einen Menschen herauszufinden. Es ist aber erst mal höflich gegenüber den Lesern, weil sie der Text dann nicht so anschreit vor lauter Bedeutung, wie das Reportagen ja oft tun. Man wird von Stuckrad-Barre wahrscheinlich nie etwas von einem Müllberg in Kathmandu zu lesen bekommen, auf dem Waisenkinder ohne Zukunft leben. Wie schrecklich die Welt sein kann und ungerecht verteilt, erfährt man trotzdem aus seinen Texten. Stuckrad-Barre geht dazu dann aber in die Boxengasse der Formel 1 oder zu einer Dichterlesung von Günter Grass. Den er auf sehr unterhaltsame Weise hasst, weil er wiederum Walter Kempowski so liebt.
Wir treffen uns um 18 Uhr vor Benjamin von Stuckrad-Barres Schreibbüro am Berliner Kurfürstendamm, unten im Neubau ist ein angsteinflößender, deshalb sehr einladender Pub, in den wir aber nicht gehen, sondern die Treppe hinauf in sein möbliertes Apartment. Der gläserne Schreibtisch, auf dem ein Laptop liegt, zeigt nach draußen. Stuckrad-Barre macht sofort die Balkontür auf. Zum Rauchen. Draußen ist ein letzter Spätsommertag im Oktober, die Häuserecken, es sind ein paar der fiesesten von Charlottenburg, sind ganz weich vom Licht.
Hier arbeitet Stuckrad-Barre gerade an einem längeren Text. Ist das endlich der neue Roman? Er antwortet ausweichend. Was macht ihm eigentlich mehr Spaß, Fernsehen oder Schreiben? "Schreiben ist das Grundding, alles beginnt immer mit Text, und alles wird immer Text. Lesungen, Fernsehen - das sind Formvarianten." Wie nennt er sich selbst? "Autor. Weil ich es am prosaischsten finde."
An der Klingel zu dieser Wohnung steht ein Deckname, die Verwaltung hat ihn falsch geschrieben, ungefähr so, als würde dort jetzt "Capoti" stehen, vertippt ist es aber natürlich noch viel lustiger: an der Wirklichkeit gescheiterte Ambition, Privatwitze, die keiner mehr versteht. Stuckrad-Barre hat vor fast 15 Jahren einen Roman geschrieben, "Soloalbum", über Frauen, Liebe, Platten, als gleichzeitig jede Menge solcher Romane erschienen sind, die sich sehr oft verkauften und schnell als "Popliteratur" etikettiert wurden - was von Anfang an ein Mittel des Betriebs war, einen Ton leiser zu stellen, den man nicht hören wollte und dem man vor allem nicht traute. Dann setzte es noch ein paar Seminarbegriffe, "affirmatives Verhältnis zur Wirklichkeit", "Gebrauchssprache", und bald war das, was da endlich begonnen hatte in der deutschen Literatur, Jahre, nachdem es in Amerika und Großbritannien etabliert war, ein prätentionsfreies Schreiben aus Spaß am Text, erledigt. Mit dem Verdacht, etwas könnte zu populär sein, kriegt man bis heute die schönsten Sachen tot.
Jedenfalls begann damit die Karriere von Benjamin von Stuckrad-Barre. Auch mit der Abwehr also, mit dem Widerstand gegen seine Art von Text. Mit dem Ekel vor seinen Werbefotos für einen Herrenausstatter - und der Häme über seine Abstürze, die er verfilmen ließ. Stuckrad-Barre hat aber nicht aufgehört zu arbeiten. Er hat ein Buch nach dem anderen gemacht mit Texten, die in fast allen Zeitungen und Zeitschriften Deutschlands erschienen sind. Seit 2008 ist er als freier Mitarbeiter beim Springer-Verlag unter Vertrag, was die, die ihn vorher schon nicht mochten, natürlich noch übler nehmen. Es ist ein bisschen wie in dem alten Witz von Woody Allen: Nicht nur, dass wir hier in diesem schlechten Restaurant sitzen, die Portionen sind auch noch viel zu klein!
Langsam ändert sich aber der Ton. In den Kritiken des letzten Reportagebandes "Auch Deutsche unter den Opfern" von 2010 kam der Name "Peek & Cloppenburg" so gut wie nicht mehr vor. Ein bisschen ist es wie bei der alten Barbourjacke Christian Kracht, einem Weggefährten Stuckrad-Barres, die Werbekampagne damals haben die beiden zusammen gemacht. Als vor kurzem um den Nazigehalt in Krachts Roman "Imperium" gestritten wurde, war zumindest eins klar: dass es sich bei diesem Roman um Literatur handelte, mit einem Erzählbegriff und allem Drum und Dran. Wie lange hat es nur gedauert, bis das Imperium der Branche das kapiert hat! "Ich wollte nie etwas durchsetzen", sagt aber Stuckrad-Barre jetzt, "sondern das tun, was mir selber Spaß macht. Ich habe auch kein Programm für die nächsten dreißig Jahre. Das einzig Programmatische ist vielleicht meine Nervosität."
Bisschen kokett, das mit der Nervosität. Wobei es stimmt für seine Talkshows, in denen Stuckrad-Barre oft sympathisch herumhampelt. Bei den Reportagen fragt man sich dagegen genauso oft, wie er nur wissen konnte, dass nun ausgerechnet an diesem Tag an diesem Ort sich der Weltgeist kurz zeigen würde, und wenn nur in Form des Literaturkritikers Hellmuth Karasek, der seine Hose trocken föhnt "Die Wahrheit ist, dass man sich infernalisch viel Mist angucken muss", sagt Stuckrad-Barre. "Man muss unheimlich oft am falschen Ort sein und Sachen wieder abbrechen. Ich habe da keinen besonders guten Instinkt."
Jetzt müsste Benjamin von Stuckrad-Barre eigentlich zur Krankengymnastik, aber wir labern gerade so angenehm egal vor uns hin, an einer Straßenecke am Kurfürstendamm. "Im Stehen spricht man wahrer", hatte Stuckrad-Barre eben gesagt, auch in seiner Talkshow müssen sich die Gäste, Marina Weisband, Erwin Huber, Sahra Wagenknecht, am Anfang vor ihn hinstellen und Fragen beantworten.
Und so, im Stehen, geht es noch schnell über seine Helden Kempowski, Udo Lindenberg, Hans Magnus Enzensberger, über Rainald Goetz, über Berlin ja oder nein (ja) und noch mal darüber, ob Stuckrad-Barre es eigentlich auch merkt, dass er in seinen Gesprächspartnern enormen Konkurrenzdruck auslöst. Dass er sogar den Literaturkritiker Denis Scheck, kein Mann großer Selbstzweifel eigentlich, dazu gebracht hat, in einem Interview mit Stuckrad-Barre mithalten zu wollen, genauso cool sein zu wollen, weit vorn, bestens angezogen, amtlich informiert. Ist das nicht unfassbar anstrengend?
Stuckrad-Barre geht nicht so recht darauf ein. Redet über das Interview an sich, die komische Situation der gegenseitigen Erwartung und Übertrumpfung, und dann sagt er: "Was habe ich eben geantwortet, als Sie gefragt haben, wann mein neuer Roman erscheint? ,Wenn er fertig ist.' Die ehrliche Antwort wäre: ,Ich weiß es nicht. Ich habe Angst, dass ich es nicht kann, ich habe Angst, dass ich es noch nie gekonnt habe.' Das ist ja eigentlich die Wahrheit."
Nein, die Wahrheit ist, dass es zwar toll wäre, wenn Benjamin von Stuckrad-Barre endlich einen neuen Roman schriebe, dass es andererseits aber nicht schlimm wäre, falls es nicht mehr dazu käme, solange er die Gegenwart einfach immer weiter mit seinen Mitteln aufzeichnet. Es gibt nicht viele Autoren, die das im Fernsehen und in Texten gleichzeitig täten. Es gibt eigentlich keinen in seinem Alter, der beides gleichzeitig könnte.
TOBIAS RÜTHER
Benjamin von Stuckrad-Barre: "Deutsches Theater", 363 Seiten, 12,95 Euro; "Auch Deutsche unter den Opfern", 336 Seiten, 14,95 Euro (beide Kiepenheuer & Witsch). Siehe auch Medienseite
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Benjamin von Stuckrad-Barre hat Angst, einen Roman zu schreiben. Stattdessen verfasst er die genauesten Texte über die deutsche Gegenwart
Nichts zu besprechen zu haben, keinen Anlass wie ein Buch oder einen Film, sich aber trotzdem zu treffen: das sind gute Voraussetzungen für ein Gespräch. Es geht erst mal um nichts. Man redet einfach so. Er wolle, sagt der Autor und Moderator Benjamin von Stuckrad-Barre, 37, bei seiner Arbeit "Nebensächlichkeit" herstellen - um etwas herauszufinden, über die Gäste seiner Talkshow, über die Menschen, die er begleitet, um von ihnen zu erzählen. Seit 2008 schreibt er für den Springer-Verlag; die neue Staffel seiner Talkshow fängt nächste Woche bei Tele 5 an.
Nebensächlichkeit bedeutet aber in diesem Fall nicht das fleißige Detailaufschreiben, mit dem man sich als Reporter umbringen kann, um am Ende im Text zwar die Farbe eines Knopfes an der Jacke eines Politikers nennen zu können, ohne aber zu wissen, was und wem damit geholfen wäre. Nebensächlichkeit, so liest man es aus den kurzen Reportagen heraus, die Stuckrad-Barre im Laufe der Jahre zum Beispiel über Klaus Wowereit oder Guido Westerwelle oder Marius Müller-Westernhagen geschrieben hat, ist eher der Leerlaufzustand sozialer Interaktion. Der Augenblick, in dem nichts passiert. Wenn es langweilig wird. Man so vor sich hin labert.
Stuckrad-Barre hat aus diesem Zustand des Egalgeredes den wahrscheinlich schönsten Text gewonnen, der je über den Schauspieler Manfred Krug erschienen ist: Er besucht ihn, zehn Jahre ist das schon her, in seiner Berliner Wohnung. Überall hängen Zettel, auf denen "FETT" steht: "Der Erdbeerkuchen vor Manfred Krug hat eine überdurchschnittliche Tellerverweildauer, fast zwei Stunden lang bietet er Wespen eine attraktive Landemöglichkeit, jedoch nicht, weil Krug die selbstmaßregelnden Warnzettel zu ernst nimmt, ,sondern weil ich grad vorher noch eine Riesenwurststulle hatte'."
Darauf hinzuarbeiten und dann genau mitzuschreiben, was passiert, wenn nichts passiert: das kann andererseits auch eine sehr höfliche Art sein, die schlimmsten Dinge über einen Menschen herauszufinden. Es ist aber erst mal höflich gegenüber den Lesern, weil sie der Text dann nicht so anschreit vor lauter Bedeutung, wie das Reportagen ja oft tun. Man wird von Stuckrad-Barre wahrscheinlich nie etwas von einem Müllberg in Kathmandu zu lesen bekommen, auf dem Waisenkinder ohne Zukunft leben. Wie schrecklich die Welt sein kann und ungerecht verteilt, erfährt man trotzdem aus seinen Texten. Stuckrad-Barre geht dazu dann aber in die Boxengasse der Formel 1 oder zu einer Dichterlesung von Günter Grass. Den er auf sehr unterhaltsame Weise hasst, weil er wiederum Walter Kempowski so liebt.
Wir treffen uns um 18 Uhr vor Benjamin von Stuckrad-Barres Schreibbüro am Berliner Kurfürstendamm, unten im Neubau ist ein angsteinflößender, deshalb sehr einladender Pub, in den wir aber nicht gehen, sondern die Treppe hinauf in sein möbliertes Apartment. Der gläserne Schreibtisch, auf dem ein Laptop liegt, zeigt nach draußen. Stuckrad-Barre macht sofort die Balkontür auf. Zum Rauchen. Draußen ist ein letzter Spätsommertag im Oktober, die Häuserecken, es sind ein paar der fiesesten von Charlottenburg, sind ganz weich vom Licht.
Hier arbeitet Stuckrad-Barre gerade an einem längeren Text. Ist das endlich der neue Roman? Er antwortet ausweichend. Was macht ihm eigentlich mehr Spaß, Fernsehen oder Schreiben? "Schreiben ist das Grundding, alles beginnt immer mit Text, und alles wird immer Text. Lesungen, Fernsehen - das sind Formvarianten." Wie nennt er sich selbst? "Autor. Weil ich es am prosaischsten finde."
An der Klingel zu dieser Wohnung steht ein Deckname, die Verwaltung hat ihn falsch geschrieben, ungefähr so, als würde dort jetzt "Capoti" stehen, vertippt ist es aber natürlich noch viel lustiger: an der Wirklichkeit gescheiterte Ambition, Privatwitze, die keiner mehr versteht. Stuckrad-Barre hat vor fast 15 Jahren einen Roman geschrieben, "Soloalbum", über Frauen, Liebe, Platten, als gleichzeitig jede Menge solcher Romane erschienen sind, die sich sehr oft verkauften und schnell als "Popliteratur" etikettiert wurden - was von Anfang an ein Mittel des Betriebs war, einen Ton leiser zu stellen, den man nicht hören wollte und dem man vor allem nicht traute. Dann setzte es noch ein paar Seminarbegriffe, "affirmatives Verhältnis zur Wirklichkeit", "Gebrauchssprache", und bald war das, was da endlich begonnen hatte in der deutschen Literatur, Jahre, nachdem es in Amerika und Großbritannien etabliert war, ein prätentionsfreies Schreiben aus Spaß am Text, erledigt. Mit dem Verdacht, etwas könnte zu populär sein, kriegt man bis heute die schönsten Sachen tot.
Jedenfalls begann damit die Karriere von Benjamin von Stuckrad-Barre. Auch mit der Abwehr also, mit dem Widerstand gegen seine Art von Text. Mit dem Ekel vor seinen Werbefotos für einen Herrenausstatter - und der Häme über seine Abstürze, die er verfilmen ließ. Stuckrad-Barre hat aber nicht aufgehört zu arbeiten. Er hat ein Buch nach dem anderen gemacht mit Texten, die in fast allen Zeitungen und Zeitschriften Deutschlands erschienen sind. Seit 2008 ist er als freier Mitarbeiter beim Springer-Verlag unter Vertrag, was die, die ihn vorher schon nicht mochten, natürlich noch übler nehmen. Es ist ein bisschen wie in dem alten Witz von Woody Allen: Nicht nur, dass wir hier in diesem schlechten Restaurant sitzen, die Portionen sind auch noch viel zu klein!
Langsam ändert sich aber der Ton. In den Kritiken des letzten Reportagebandes "Auch Deutsche unter den Opfern" von 2010 kam der Name "Peek & Cloppenburg" so gut wie nicht mehr vor. Ein bisschen ist es wie bei der alten Barbourjacke Christian Kracht, einem Weggefährten Stuckrad-Barres, die Werbekampagne damals haben die beiden zusammen gemacht. Als vor kurzem um den Nazigehalt in Krachts Roman "Imperium" gestritten wurde, war zumindest eins klar: dass es sich bei diesem Roman um Literatur handelte, mit einem Erzählbegriff und allem Drum und Dran. Wie lange hat es nur gedauert, bis das Imperium der Branche das kapiert hat! "Ich wollte nie etwas durchsetzen", sagt aber Stuckrad-Barre jetzt, "sondern das tun, was mir selber Spaß macht. Ich habe auch kein Programm für die nächsten dreißig Jahre. Das einzig Programmatische ist vielleicht meine Nervosität."
Bisschen kokett, das mit der Nervosität. Wobei es stimmt für seine Talkshows, in denen Stuckrad-Barre oft sympathisch herumhampelt. Bei den Reportagen fragt man sich dagegen genauso oft, wie er nur wissen konnte, dass nun ausgerechnet an diesem Tag an diesem Ort sich der Weltgeist kurz zeigen würde, und wenn nur in Form des Literaturkritikers Hellmuth Karasek, der seine Hose trocken föhnt "Die Wahrheit ist, dass man sich infernalisch viel Mist angucken muss", sagt Stuckrad-Barre. "Man muss unheimlich oft am falschen Ort sein und Sachen wieder abbrechen. Ich habe da keinen besonders guten Instinkt."
Jetzt müsste Benjamin von Stuckrad-Barre eigentlich zur Krankengymnastik, aber wir labern gerade so angenehm egal vor uns hin, an einer Straßenecke am Kurfürstendamm. "Im Stehen spricht man wahrer", hatte Stuckrad-Barre eben gesagt, auch in seiner Talkshow müssen sich die Gäste, Marina Weisband, Erwin Huber, Sahra Wagenknecht, am Anfang vor ihn hinstellen und Fragen beantworten.
Und so, im Stehen, geht es noch schnell über seine Helden Kempowski, Udo Lindenberg, Hans Magnus Enzensberger, über Rainald Goetz, über Berlin ja oder nein (ja) und noch mal darüber, ob Stuckrad-Barre es eigentlich auch merkt, dass er in seinen Gesprächspartnern enormen Konkurrenzdruck auslöst. Dass er sogar den Literaturkritiker Denis Scheck, kein Mann großer Selbstzweifel eigentlich, dazu gebracht hat, in einem Interview mit Stuckrad-Barre mithalten zu wollen, genauso cool sein zu wollen, weit vorn, bestens angezogen, amtlich informiert. Ist das nicht unfassbar anstrengend?
Stuckrad-Barre geht nicht so recht darauf ein. Redet über das Interview an sich, die komische Situation der gegenseitigen Erwartung und Übertrumpfung, und dann sagt er: "Was habe ich eben geantwortet, als Sie gefragt haben, wann mein neuer Roman erscheint? ,Wenn er fertig ist.' Die ehrliche Antwort wäre: ,Ich weiß es nicht. Ich habe Angst, dass ich es nicht kann, ich habe Angst, dass ich es noch nie gekonnt habe.' Das ist ja eigentlich die Wahrheit."
Nein, die Wahrheit ist, dass es zwar toll wäre, wenn Benjamin von Stuckrad-Barre endlich einen neuen Roman schriebe, dass es andererseits aber nicht schlimm wäre, falls es nicht mehr dazu käme, solange er die Gegenwart einfach immer weiter mit seinen Mitteln aufzeichnet. Es gibt nicht viele Autoren, die das im Fernsehen und in Texten gleichzeitig täten. Es gibt eigentlich keinen in seinem Alter, der beides gleichzeitig könnte.
TOBIAS RÜTHER
Benjamin von Stuckrad-Barre: "Deutsches Theater", 363 Seiten, 12,95 Euro; "Auch Deutsche unter den Opfern", 336 Seiten, 14,95 Euro (beide Kiepenheuer & Witsch). Siehe auch Medienseite
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
"Einen besseren Chronisten unserer Zeit gibt es einfach nicht", feiert Adam Soboczynski das neue Buch von Benjamin von Stuckrad-Barre, das Kolumnen für verschiedene Zeitungen des Springer-Verlags versammelt. Und zwar deshalb, begründet der Kritiker seinen überschwänglichen Befund, weil dieser Autor im Entstehungszeitraum der Texte immer da gewesen sei, wo man hätte sein müssen, um zu erfahren, "was dieses Land im Innersten zusammenhält". Sei es bei Obama in Berlin, Til Schweiger im Kino, Udo Lindenberg im Hamburger Atlantic-Hotel oder dem Gasthaus Wuppke. "Kleine entrückte Feuilletons", quietscht der Kritiker entzückt und denkt an die Art, wie einst vor 80 Jahren in den Texten Siegfried Jacobsohns Alltag und Welthaltigkeit "mühelos zusammengefallen" sind. Soboczynski beobachtet begeistert mit Stuckrad-Barre jene grotesken Momente des Allzumenschlichen, für die der Autor so ein unvergleichliches Auge hat, sieht bei den Porträtierten erst durch die Entgleisung den menschlichen Makel aufblitzen. Weshalb der Kritiker auch manches weniger geglückte Prosastück locker wegstecken kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Bestechend genaue Momentaufnahmen [...] bleibende, weil scharfsichtige Szenen der Zeitgeschichte: ein literarischer Fotoabend gewissermaßen.« Hellmuth Karasek