Mexiko, vor etwa fünfhundert Jahren. Neuankömmlinge beginnen Mittelamerika in Besitz zu nehmen. Neuankömmlinge, die sich selbst »Kastilier« nennen, die angestammten Bewohner »Indios«, und deren Land die »Neue Welt«. Mit ihrem Gott bringen die Europäer noch etwas mit: ihre Hölle. - Pest, Sklaverei und die Gewalt der Konquistadoren raffen die Bevölkerung dahin, und ihre Welt mit ihnen.Was aber tut ein Mensch, dessen Volk samt seiner Seele vernichtet wird? Der brillante »Indio Juan« antwortet mit radikalem Widerstand der Ideen und wird damit selbst dem spanischen Vizekönig gefährlich. Ein ausgedienter Söldner, auch er Juan genannt, wird von »Seiner Majestät« angeheuert, um den Indio gleichen Namens zu finden. Eine Menschenjagd beginnt, die uns nicht nur quer durch Mexiko, sondern auch durch dessen lange und blutige Geschichte bis in unsere Gegenwart führt.Juan Gómez Bárcenas fünf Jahrhunderte umfassender Roman muss als Mythos der Moderne gelesen werden, der uns das Grauen lehrt, aufdem sie fußt, als der Sturm, der vom Paradies her weht und Trümmer auf Trümmer häuft. »Auch die Toten« zeichnet die Kolonialgeschichte von den Anfängen bis heute nach, es deckt die Herkunft des modernen Menschen auf und warnt davor, dass dessen zerstörerische Kraft auf ihn selbst zurückfällt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2023Verfolgungsjagd durch Raum und Zeit
Der Roman "Auch die Toten" des spanischen Autors Juan Gómez Bárcena will die Geschichte von Kolonialismus und Kapitalismus erzählen
Es ist eine kühne Idee, eine Romanfigur nicht nur eine Riesenlandschaft von Süd nach Nord, sondern zugleich auch fünf Jahrhunderte durchwandern zu lassen, vorwärts immer und rückwärts nimmer. Der spanische Autor Juan Gómez Bárcena hat sich in seinem dritten, jetzt ins Deutsche übersetzten Opus "Auch die Toten" auf dieses Abenteuer eingelassen. Das Ergebnis ist ein hochkomplexes, den Leser mal faszinierendes, mal verwirrendes Textgebilde. Gómez Bárcena schickt einen verarmten spanischen Eroberer-Soldaten namens Juan de Toñanes im Mexiko des sechzehnten Jahrhunderts auf die Suche nach einem Indio, der seltsamerweise auch Juan heißt und zwar christliche Erziehung genoss, aber zum Ketzer und Rebell wurde. Der Auftrag des Vizekönigs für den spanischen Juan lautet, seinen Namensvetter ausfindig zu machen, festzunehmen und gar zu töten.
Im Lauf des Romans wird der Indio Juan freilich zu einem immer schwerer zu fassenden Phantom, er wandelt sich zum kapitalistischen Ausbeuter, zum Revolutionär oder mafiosen Paten. Da ist dann der Roman in der Jetztzeit und an der von Donald Trump errichteten Grenzmauer zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten angelangt. Gómez Bárcena geht es, wie er selbst bekennt, um nicht weniger, als anhand der Verfolgungsjagd durch Raum und Zeit die Schrecken der Kolonisierung Mexikos und des Kolonialismus generell, zugleich auch noch die Historie des Kapitalismus zu erzählen.
Der 38 Jahre alte Juan Gómez Bárcena ist ein Literatur- und Geschichtswissenschaftler. Er lehrt Kreatives Schreiben und geht tatsächlich selbst sehr kreativ mit seinen literarischen Eingebungen um. In seinem im spanischen Original 2020 veröffentlichten Roman hat er sich aber explizit auch einiger Vorbilder für sein Erzählmodell bedient, dem er unter anderem mit Walter Benjamins Schrift "Kapitalismus als Religion" einen theoretischen Unterbau eingezogen hat. Der auf den ersten Blick seltsam wirkende Titel des in der deutschen Fassung fast fünfhundert Seiten starken Buchs ist Benjamins "Geschichtsphilosophischen Thesen" entlehnt: "Auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein." Gómez Bárcena ließ sich im Übrigen recht deutlich von Joseph Conrads Erzählung "Herz der Finsternis" und deren Verfilmung, Francis Ford Coppolas "Apokalypse Now", inspirieren.
Das Erzähltalent von Gómez Bárcena erschließt sich in den unzähligen kleinteiligen Geschichten, die sich während der Reise seiner Hauptfigur sozusagen am Wegesrand zutragen, vor allem wenn sie immer wieder Bewohner nach dem Indio Juan befragt. Die Stärke des Romans besteht in minutiösen, stimmungsvollen Landschafts- und Milieubeschreibungen. Die Übergänge in der Raum-Zeit-Strecke sind fließend, mal mehr, mal weniger deutlich spürbar, meist ist der Fortschritt an der entsprechenden Romanstelle anhand scheinbar anachronistischer Angaben zu erkennen.
Unversehens tauchen etwa die Namen der Herrscher Karl III. und Ludwig XVI. auf, und da sind wir auf einmal im achtzehnten Jahrhundert. Später ist dann von Fotoapparaten, Automobilen, Maquilas, den mexikanischen Montagebetrieben, oder von einem "Typ, der Apple gegründet hat" (gemeint ist Steve Jobs), die Rede. Schließlich hat noch ein anderer mit unaussprechlichem Namen als Leibhaftiger seinen Auftritt. Er wird nur der "Fucking Papa von Amerika" genannt, aber das, was er von sich gibt, zeigt eindeutig, wer da gemeint ist: "Let's make America Great again", sagt er, oder auch, "dass der Feind in Scheißländern lauert, in Scheißländern, die selbst die Scheiße nicht anrühren würden, wenn sie könnten".
Ein wenig hat "Auch die Toten" etwas von einem Gewaltmarsch durch Raum und Zeit. Die vielen Episoden sind sehr unterschiedlich gestaltet, manche wirken eindrucksvoll poetisch verdichtet, manche banal, andere vulgär angereichert mit drastischer Fäkalmetaphorik, und wieder andere sind schlicht rätselhaft. Unterwegs reflektiert Gómez Bárcena auch immer wieder mal über die Zeitreise, auf die er sich literarisch begeben hat: " Zeit ist etwas, das man geht . . . Die Vergangenheit ist etwas, das sich entfernt, die Zukunft etwas, das sich nähert, und die Gegenwart etwas, das sich festklammern will, es aber nicht schafft. Erde und Staub und Himmel: Das ist alles, was existiert." Und: "Die Route ist wie ein wackliger Laufsteg durch die Barbarei von einer Zivilisation zur anderen."
Im spanischen Original ist die Sprache dieses Romans, von manchen Ausbrüchen abgesehen, eher nüchtern und lapidar, sie lebt von bewussten Wiederholungen und Rhythmisierungen, die Nachdruck erzeugen sollen. Wer Freude an den nach Roadmovie-Manier zumeist trefflich erzählten Episoden hat, wird bestens bedient. Wer allerdings nach tieferem Sinn der Geschichte und nach einer höheren Erkenntnis als jener sucht, dass Kolonialismus und Kapitalismus des Teufels sind, wird eher enttäuscht.
Die deutsche Übersetzung hat Matthias Strobel besorgt, sie gibt anschaulich die Atmosphäre dieser ungewöhnlichen Zeitreise und die sprachlichen Finessen im Deutschen wieder, soweit das möglich ist. Schade nur, dass die erste Auflage der deutschen Version offenbar wegen eines Missgeschicks bei der Fertigung des Buches von Druckfehlern durchsetzt ist, die allerdings die Lesbarkeit nicht beeinträchtigen. JOSEF OEHRLEIN
Juan Gómez Bárcena: "Auch die Toten". Roman.
Aus dem Spanischen von Matthias Strobel. Secession Verlag Berlin 2022. 494 S., geb., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Roman "Auch die Toten" des spanischen Autors Juan Gómez Bárcena will die Geschichte von Kolonialismus und Kapitalismus erzählen
Es ist eine kühne Idee, eine Romanfigur nicht nur eine Riesenlandschaft von Süd nach Nord, sondern zugleich auch fünf Jahrhunderte durchwandern zu lassen, vorwärts immer und rückwärts nimmer. Der spanische Autor Juan Gómez Bárcena hat sich in seinem dritten, jetzt ins Deutsche übersetzten Opus "Auch die Toten" auf dieses Abenteuer eingelassen. Das Ergebnis ist ein hochkomplexes, den Leser mal faszinierendes, mal verwirrendes Textgebilde. Gómez Bárcena schickt einen verarmten spanischen Eroberer-Soldaten namens Juan de Toñanes im Mexiko des sechzehnten Jahrhunderts auf die Suche nach einem Indio, der seltsamerweise auch Juan heißt und zwar christliche Erziehung genoss, aber zum Ketzer und Rebell wurde. Der Auftrag des Vizekönigs für den spanischen Juan lautet, seinen Namensvetter ausfindig zu machen, festzunehmen und gar zu töten.
Im Lauf des Romans wird der Indio Juan freilich zu einem immer schwerer zu fassenden Phantom, er wandelt sich zum kapitalistischen Ausbeuter, zum Revolutionär oder mafiosen Paten. Da ist dann der Roman in der Jetztzeit und an der von Donald Trump errichteten Grenzmauer zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten angelangt. Gómez Bárcena geht es, wie er selbst bekennt, um nicht weniger, als anhand der Verfolgungsjagd durch Raum und Zeit die Schrecken der Kolonisierung Mexikos und des Kolonialismus generell, zugleich auch noch die Historie des Kapitalismus zu erzählen.
Der 38 Jahre alte Juan Gómez Bárcena ist ein Literatur- und Geschichtswissenschaftler. Er lehrt Kreatives Schreiben und geht tatsächlich selbst sehr kreativ mit seinen literarischen Eingebungen um. In seinem im spanischen Original 2020 veröffentlichten Roman hat er sich aber explizit auch einiger Vorbilder für sein Erzählmodell bedient, dem er unter anderem mit Walter Benjamins Schrift "Kapitalismus als Religion" einen theoretischen Unterbau eingezogen hat. Der auf den ersten Blick seltsam wirkende Titel des in der deutschen Fassung fast fünfhundert Seiten starken Buchs ist Benjamins "Geschichtsphilosophischen Thesen" entlehnt: "Auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein." Gómez Bárcena ließ sich im Übrigen recht deutlich von Joseph Conrads Erzählung "Herz der Finsternis" und deren Verfilmung, Francis Ford Coppolas "Apokalypse Now", inspirieren.
Das Erzähltalent von Gómez Bárcena erschließt sich in den unzähligen kleinteiligen Geschichten, die sich während der Reise seiner Hauptfigur sozusagen am Wegesrand zutragen, vor allem wenn sie immer wieder Bewohner nach dem Indio Juan befragt. Die Stärke des Romans besteht in minutiösen, stimmungsvollen Landschafts- und Milieubeschreibungen. Die Übergänge in der Raum-Zeit-Strecke sind fließend, mal mehr, mal weniger deutlich spürbar, meist ist der Fortschritt an der entsprechenden Romanstelle anhand scheinbar anachronistischer Angaben zu erkennen.
Unversehens tauchen etwa die Namen der Herrscher Karl III. und Ludwig XVI. auf, und da sind wir auf einmal im achtzehnten Jahrhundert. Später ist dann von Fotoapparaten, Automobilen, Maquilas, den mexikanischen Montagebetrieben, oder von einem "Typ, der Apple gegründet hat" (gemeint ist Steve Jobs), die Rede. Schließlich hat noch ein anderer mit unaussprechlichem Namen als Leibhaftiger seinen Auftritt. Er wird nur der "Fucking Papa von Amerika" genannt, aber das, was er von sich gibt, zeigt eindeutig, wer da gemeint ist: "Let's make America Great again", sagt er, oder auch, "dass der Feind in Scheißländern lauert, in Scheißländern, die selbst die Scheiße nicht anrühren würden, wenn sie könnten".
Ein wenig hat "Auch die Toten" etwas von einem Gewaltmarsch durch Raum und Zeit. Die vielen Episoden sind sehr unterschiedlich gestaltet, manche wirken eindrucksvoll poetisch verdichtet, manche banal, andere vulgär angereichert mit drastischer Fäkalmetaphorik, und wieder andere sind schlicht rätselhaft. Unterwegs reflektiert Gómez Bárcena auch immer wieder mal über die Zeitreise, auf die er sich literarisch begeben hat: " Zeit ist etwas, das man geht . . . Die Vergangenheit ist etwas, das sich entfernt, die Zukunft etwas, das sich nähert, und die Gegenwart etwas, das sich festklammern will, es aber nicht schafft. Erde und Staub und Himmel: Das ist alles, was existiert." Und: "Die Route ist wie ein wackliger Laufsteg durch die Barbarei von einer Zivilisation zur anderen."
Im spanischen Original ist die Sprache dieses Romans, von manchen Ausbrüchen abgesehen, eher nüchtern und lapidar, sie lebt von bewussten Wiederholungen und Rhythmisierungen, die Nachdruck erzeugen sollen. Wer Freude an den nach Roadmovie-Manier zumeist trefflich erzählten Episoden hat, wird bestens bedient. Wer allerdings nach tieferem Sinn der Geschichte und nach einer höheren Erkenntnis als jener sucht, dass Kolonialismus und Kapitalismus des Teufels sind, wird eher enttäuscht.
Die deutsche Übersetzung hat Matthias Strobel besorgt, sie gibt anschaulich die Atmosphäre dieser ungewöhnlichen Zeitreise und die sprachlichen Finessen im Deutschen wieder, soweit das möglich ist. Schade nur, dass die erste Auflage der deutschen Version offenbar wegen eines Missgeschicks bei der Fertigung des Buches von Druckfehlern durchsetzt ist, die allerdings die Lesbarkeit nicht beeinträchtigen. JOSEF OEHRLEIN
Juan Gómez Bárcena: "Auch die Toten". Roman.
Aus dem Spanischen von Matthias Strobel. Secession Verlag Berlin 2022. 494 S., geb., 38,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der spanische Literatur- und Geschichtswissenschaftler Juan Gómez Bárcena hat sich in seinem neuen Roman weit aus dem Fenster gelehnt, findet Rezensent Josef Oehrlein: Nicht nur die geografische Weite, sondern auch der zeitliche Rahmen von fünfhundert Jahren seien eine Herausforderung. Die in "Roadmovie-Manier" geschriebene Geschichte um einen Conquistador, der einen in Mexiko christianisierten Indigenen sucht, fasziniert und verwirrt den Rezensenten gleichermaßen: Denn die Wandlung von Juan sei "hochkomplex", findet Oehrlein, und Gómez Bárcenas Idee, in einem einzigen Ritt von der brutalen Kolonisierung Mexikos zu Trumps Grenzzäunen zugelangen, kühn. Zweifellos ist für den Rezensenten aber das "Erzähltalent" des Autors, der nicht nur Joseph Conrad, sondern auch Walter Benjamin gut kenne und Oehrlein mit Geschichtsminiaturen und Landschaftsbeschreibungen überzeugt, wenn er auch in seinem Anspruch scheitere, dem Rezensenten neue Erkenntnisse über Kolonialismus und Kapitalismus zu bieten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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