Auch eine Geschichte der Philosophie stellt im Stil einer Genealogie dar, wie die heute dominanten Gestalten des westlichen nachmetaphysischen Denkens entstanden sind. Als Leitfaden dient der Diskurs über Glauben und Wissen, der aus zwei starken achsenzeitlichen Traditionen im römischen Kaiserreich hervorgegangen ist. Auch eine Geschichte der Philosophie ist aber nicht nur eine Geschichte der Philosophie. Es ist auch eine Reflexion über die Aufgabe einer Philosophie, die an der vernünftigen Freiheit kommunikativ vergesellschafteter Subjekte festhält: Sie soll darüber aufklären, »was unsere wachsenden wissenschaftlichen Kenntnisse von der Welt für uns bedeuten - für uns als Menschen, als moderne Zeitgenossen und als individuelle Personen«.
Das bei seiner Erstpublikation 2019 gefeierte Buch erscheint nun als Taschenbuch mit einem deutlich erweiterten Gesamtinhaltsverzeichnis und einem für diese Ausgabe geschriebenen Nachwort des Autors.
Das bei seiner Erstpublikation 2019 gefeierte Buch erscheint nun als Taschenbuch mit einem deutlich erweiterten Gesamtinhaltsverzeichnis und einem für diese Ausgabe geschriebenen Nachwort des Autors.
»... ein unglaublich fesselnd geschriebenes Buch über das Denken, wie es den Glauben einholt, aber weiterhin von ihm inspiriert wird.« Mark Siemons Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20191124
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.11.2019Heiliger Zankgesang
Welche Rolle spielt der Glauben im nachmetaphysischen Denken? In seinem Spätwerk versucht Jürgen Habermas, Theologie und Philosophie zu versöhnen
In der Geschichte von Kunst", hat Adorno geschrieben, "sind Spätwerke die Katastrophen." Wie verhält es sich mit der Geschichte der Wissenschaft? "Auch eine Geschichte der Philosophie", das 1752 Seiten starke, auf zwei Bände verteilte jüngste Buch des neunzigjährigen Jürgen Habermas, das der Suhrkamp-Verlag morgen herausbringt, hat auf den ersten Blick nichts Katastrophisches. Das "jähe Abbrechen, das", so Adorno 1934, "mehr als alles andere den letzten Beethoven bezeichnet", ist der Gestus des vorletzten Habermas nicht. Vollendung allerdings naturgemäß auch nicht. Als Fortsetzung kommt das Werk daher. Habermas bringt sein Lebenswerk nicht zum Abschluss, aber er bringt es in eine Form, in der es für eine Zukunft bereitliegt, in der in absehbarer Zeit nur noch andere Philosophen seine leitenden Gedanken werden weiterführen können.
Ohne die Anstrengung der Rechthaberei verweist Habermas durchgängig auf eigene ältere Veröffentlichungen, frühere Untersuchungen zum jeweiligen Thema. Auch ein äußerlicher Zug des Buches wie diese bibliographische Ausdrücklichkeit sagt etwas über die Sache aus: Die Philosophie von Habermas ist wissenschaftsförmig, variiert nicht Einfälle, sondern bearbeitet Probleme. Der Autor nimmt Fäden auf, stellt Verknüpfungen her und macht Anknüpfung möglich. Fortsetzung bestimmt auch das Verhältnis des Buches zur gesamten Tradition. Habermas resümiert die Philosophie von den Vorsokratikern bis fast zu den Postmodernen, um sie weiterzuführen.
Der Titel, eine Anspielung auf Herders "Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit", setzt einen entspannten, gelassenen Ton. Das Werk ist in dem Sinne ein Spätwerk, dass der Verfasser spät hinzukommt. Es gibt schon viele Geschichten der Philosophie, und jetzt hat Jürgen Habermas auch noch eine geschrieben. Das Kooperative charakterisiert die Machart des Buches im Kern. Habermas betreibt Philosophie in der Art der Wissenschaft, das bedeutet: Die Arbeitsteilung verlangt nicht nur aus pragmatischen Gründen Respekt, weil er für sein Projekt einer abendländischen Philosophiegeschichte vor dem Horizont der globalen Religionsgeschichte eine Unmenge Spezialliteratur konsultieren musste; auch in der Sache prägt es die in dieser Weise, mit Querverweisen auf Kollegen, begründete Philosophie, dass der Philosoph nicht für sich allein arbeitet.
Die Unmöglichkeit des Solipsismus darf die ursprüngliche Einsicht von Habermas genannt werden, die er in seinen Werken zur Sprachphilosophie und Gesellschaftstheorie durchgearbeitet hat. Dass kein Denker der Welt allein gegenübersteht, in der souveränen Beobachterposition des einst von den Philosophen erdachten Gottes, bestimmt nach Habermas die Lage des modernen beziehungsweise, mit einem aus seinen Schriften vertrauten Begriff, "nachmetaphysischen" Denkens. Im neuen Werk wird nun die gesamte Philosophiegeschichte als Vorgeschichte dieses nachmetaphysischen Denkens ausgebreitet.
Eigentlich kann man das "Vor-" auch streichen. Denn von vornherein interessiert Habermas an der Metaphysik das, was auf die Nachmetaphysik vorausweist, beispielsweise an der Figur des außerweltlichen Gottes der Philosophen ein Moment der Setzung, der mit den Mitteln des Denkens nicht ausweisbaren Behauptung. Es wird von Gott nicht nur gesagt, dass er die Welt transzendiert. Dieser Begriff von Gott geht selbst über seine philosophisch dargelegten Voraussetzungen hinaus. Die Philosophie, die ihn formuliert, überzieht ihren Kredit. In der alten Welt wurde diese Glaubwürdigkeitslücke mit der Hilfe der christlichen Offenbarung geschlossen, in deren heiligen Büchern sich, wenn man sie unter der Anleitung von Philosophen las, ein gleichartiger Gott erklärt hatte. Die nachmetaphysische Lösung des Problems besteht darin, die Unterdeckung nicht durch Versprechungen zum Verschwinden zu bringen, sondern die Figur des objektiven, von nichts in der Welt zu erschütternden Beobachters als Konstruktion auszuweisen, als Arbeitshypothese, die etwas über die Natur der philosophischen Arbeit enthüllt. Das Gemachte dieses Gottes ist nicht mehr wie in der alten Religionskritik der tödliche Einwand, sondern wird zum Arbeitsnachweis und Qualitätsbeweis. Auch die Metaphysiker haben sich nicht sinnlos den Kopf zerbrochen: Im Rückblick betrachtet, ist ihr Gott schon als Gottesersatz gemacht worden.
Der junge Habermas machte sich mit einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als Kritiker Martin Heideggers einen Namen. Im ersten Band von "Auch eine Geschichte der Philosophie" dient Heidegger als Portalfigur, gemeinsam mit Carl Schmitt, Leo Strauss und Karl Löwith. Der Leser geht an ihnen vorbei und lässt sich von Habermas erklären, dass er die Geschichte der Philosophie nicht erzählen will wie sie, als Aufruf zur Abwendung von der Moderne. Wenn Habermas allerdings die Metaphysik von Anfang an in der Nachmetaphysik aufgehen lässt, sieht das dem Schema Heideggers durchaus ähnlich, bei dem mit den allerersten griechischen Philosophen sofort die Ära der Seinsvergessenheit beginnt.
Bemerkt der Habermas-Leser diese Ähnlichkeit der Perspektive, blitzt plötzlich doch ein Eindruck von Jähem auf: Die klassische Philosophie, deren Rekonstruktion der Gegenstand des Buches sein soll, verschwindet in einer Zeitspalte. Erweisen sich die arkadisch weiten Felder der 1752 Seiten bei näherem Hinsehen als brüchige Landschaft? Die Intention des Autors trifft diese Impression nicht. Mit der Ironie des Buchtitels ist eine versöhnliche Stimmung gegeben. Ob und wie Glauben und Wissen einander immer noch ergänzen, obwohl ihre Symbiose keinen Bestand haben konnte - das ist die Ausgangsfrage eines Projekts, von dem auch die Öffentlichkeit jenseits der Leserschaft philosophischer Fachliteratur Kenntnis hat, seit Habermas 2004 in München mit dem damaligen Kardinal Ratzinger debattierte.
Vom methodischen Atheismus des nachmetaphysischen Denkansatzes lässt sich Habermas im Buch bemerkenswerterweise auch als Zeitdeuter leiten: Skeptisch äußert er sich zu den so oft leichtfertig beschworenen Indizien einer vermeintlichen Renaissance der Religion in der Lebenswelt, und die Frage, ob die Theologie, wie einst durch Luther und zuletzt durch Kierkegaard, der Philosophie überhaupt noch etwas zu sagen haben kann, lässt er nach umständlicher Abwägung ausdrücklich offen. Aber diese Fehlanzeigen machen nur offenkundig, wie ernst es ihm mit der Absicht der Versöhnung ist. Er scheint unbedingt nachweisen zu wollen, dass man Philosophie und Theologie beziehungsweise Wissenschaft und Religion als komplementäre Phänomene anzusehen hat. Wo Beethoven laut Adorno "die Extreme im Augenblick zusammenzwingt", da legt Habermas sie auf Dauer auseinander, als notwendige Momente einer Geschichte, die noch nicht an ihr Ende gekommen sein soll.
Zu dieser Geschichte gehört, dass die Wissenschaft von der Metaphysik gelernt hat, den Dingen gegenüberzutreten, und dass die Philosophie die Wissenschaft lehrt, dabei das Ganze nicht aus dem Blick zu verlieren. Ist das Streben nach Ausgleich und Zusammenhang dann das Kennzeichen eines wissenschaftlichen Spätstils? Wenn es ein solches Spätwerk auf die Bewältigung und sogar die Tilgung von Katastrophen abgesehen haben sollte, würde der damit gegebene Kontrast zu Adornos Beethoven mit der von Habermas vertretenen Lehre von der Ausdifferenzierung der intellektuellen Aktivitäten harmonieren. Nicht nur Religion und Wissenschaft treten auseinander, sondern auch Wissenschaft und Kunst. Wo die Ästhetik es mit der "Kritik von hochdifferenzierten Ausschlägen geübter Sinnesorgane" zu tun hat, da schließt eine an der Naturwissenschaft orientierte Wissenschaft von Ausschlägen auf Gesetzmäßigkeiten, deren Demonstration Beruhigung verspricht.
Nicht alles im Buch von Habermas passt nun aber zu einem solchen Bild von seinem Unternehmen. Der erste Band endet mit einem Kapitel über Machiavelli. Dessen "Discorsi", die er unter dem Titel eines Buches "Vom Staate" zitiert und dem Buch vom Fürsten vorzieht, fasst er wie folgt zusammen: Machiavelli kommentiere "die am Leitfaden von Livius idealisierte Geschichte der römischen Republik als jene beispielhafte Periode, in deren Verlauf die politische Geschichte der Antike gleichsam den Atem angehalten hat, weil der schicksalhaft-destruktive Kreislauf aufsteigender und unaufhaltsam wieder in Tyrannei oder Ohnmacht und Fremdherrschaft zerfallender Monarchien, Aristokratien und Demokratien über drei Jahrhunderte zum Stillstand gekommen zu sein schien". Dieses Referat ist doppelt überraschend, in der Sache wie in der impliziten Wertung. Nach Machiavelli bestand das Erfolgsgeheimnis der römischen Verfassung darin, dass sie die Energie der inneren Parteikonflikte in außenpolitische Stärke verwandelte. Das große Zeitalter der römischen Expansion als Atempause und sogar als Epoche des Stillstands zu beschreiben, verfehlt Machiavellis Pointe, seinen republikanischen Glauben an eine mit Tätigkeit zusammenfallende Geisteskraft.
Otfried Höffe hat in seiner Rezension in der "Neuen Zürcher Zeitung" die Position des Machiavelli-Kapitels an der Grenze zwischen den Bänden als Verlegenheit hingestellt: Habermas habe unbedingt den zweiten Band mit Luther als dem Vorläufer Kants eröffnen wollen und daher den nominellen Katholiken Machiavelli ins Mittelalter ausgelagert. Aber die exponierte Stellung Machiavellis ergibt ihren guten Sinn, da er eine Weggabelung markiert. Obwohl der florentinische Sekretär schon "frei von einer metaphysischen Betrachtung der Welt" war, ist sein Weg, den Kant eben nicht eingeschlagen haben soll, für Habermas eine Sackgasse. Er stilisiert ihn zum Vorläufer seines alten Gegenspielers Niklas Luhmann. Der Pionier einer funktionalistischen Gesellschaftsanalyse habe den Fehler begangen, Herrschaft ausschließlich auf Stabilität zu gründen, und dabei den in der Person des Dominikaners Savonarola wirkmächtig gewordenen Eigensinn des Christentums verkannt.
Der Quietismus Machiavellis - Originalität ist dieser Interpretation nicht abzusprechen, aber interessant ist sie hauptsächlich als Gegenbild zum eigenen Vorgehen von Habermas. Während Machiavelli durch den machttechnologischen Reduktionismus seiner Deutung der römischen Bürgerkriege die revolutionäre Dynamik der Legitimitätsfrage stillgestellt haben soll, entdeckt Habermas auch in den längsten Friedensphasen der Geistesgeschichte die Anzeichen unausweichlicher, immer nur aufgeschobener Kämpfe.
Über den Investiturstreit des elften Jahrhunderts nach Christus heißt es: "Eine nicht intendierte Nebenfolge ist die Beschleunigung der schon in der Achsenzeit einsetzenden Tendenz zur Entsakralisierung der Herrschaft." Schon in der von Karl Jaspers erfundenen Achsenzeit zwischen 800 und 200 vor Christus, also anderthalb Jahrtausende vor der Papstwahl Gregors VII.! Neben der langfristigen Tendenz der Entsakralisierung fallen gegenläufige Phänomene wie das konstantinische Kirchenstaatswesen offenbar nicht ins Gewicht.
Beim Durchwandern bietet sich die Geschichtslandschaft des Buches als überaus zerklüftet dar, weil Habermas mit extremen perspektivischen Verkürzungen arbeitet. In seinem Fall dürfte der Kern jenes Hintergrundwissens, wie es jeder Philosoph nach seinen Angaben gedankenlos als gültig unterstellt, in der idealistischen Überzeugung bestehen, dass Widersprüche, in seiner wissenschaftssprachlichen Umformulierung: "kognitive Dissonanzen", irgendwann zum Ausbruch kommen. Dann können Unstimmigkeiten der Definition des Kosmosbegriffs bei Platon in der hochmittelalterlichen Kirchenpolitik plötzlich wirksam werden.
Das Wort von Habermas für die Neusortierung der Begriffswelt nach dem Hervorbrechen der latent gehaltenen Widersprüche ist der Schub. Einen "kognitiven Schub" bewirkte die Achsenzeit, einen "erneuten Schub zur Subjektivierung" die Reformation, einen "Reflexionsschub" die Begegnung der Theologie mit der Aufklärung und so weiter und so weiter. Der Bildgehalt der Vokabel stammt aus der Mechanik. Das Wort bezeichnet eine von den Newtonschen Gesetzen bestimmte Kraft.
Eigentlich hat es sich Jürgen Habermas zur Maxime gemacht, dass seine Philosophie bei aller Anerkennung für die weltverändernde Leistung der klassischen Physik deren Denkungsart nicht verinnerlichen soll. Aber wenn Habermas von Schüben spricht, beschreibt er die Welt nur scheinbar als Maschine. Es sind Störungen des Systems, die einen auf Zeit stabilen und vielleicht sogar legitimen Zustand herbeiführen. Um der Denkmöglichkeit dieser Störungen willen braucht er die Religion, und zwar in der vorsprachlichen Gestalt des Ritus, hinter dem sich für ihn das Chaos abzeichnet, das die vorgeschriebene Wiederkehr der symbolischen Handlungen bannen soll. Die bei Habermas in liturgischer Monotonie wiederkehrende Rede vom Schub ist eine Floskel, wie sie nach Adorno charakteristisch ist für den Spätstil Beethovens: das Denkmal des Gewesenen als Platzhalter des Unerhörten.
PATRICK BAHNERS
Jürgen Habermas: "Auch eine Geschichte der Philosophie". Suhrkamp, zwei Bände, 1752 Seiten, 98 Euro. Erscheint am Montag.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Welche Rolle spielt der Glauben im nachmetaphysischen Denken? In seinem Spätwerk versucht Jürgen Habermas, Theologie und Philosophie zu versöhnen
In der Geschichte von Kunst", hat Adorno geschrieben, "sind Spätwerke die Katastrophen." Wie verhält es sich mit der Geschichte der Wissenschaft? "Auch eine Geschichte der Philosophie", das 1752 Seiten starke, auf zwei Bände verteilte jüngste Buch des neunzigjährigen Jürgen Habermas, das der Suhrkamp-Verlag morgen herausbringt, hat auf den ersten Blick nichts Katastrophisches. Das "jähe Abbrechen, das", so Adorno 1934, "mehr als alles andere den letzten Beethoven bezeichnet", ist der Gestus des vorletzten Habermas nicht. Vollendung allerdings naturgemäß auch nicht. Als Fortsetzung kommt das Werk daher. Habermas bringt sein Lebenswerk nicht zum Abschluss, aber er bringt es in eine Form, in der es für eine Zukunft bereitliegt, in der in absehbarer Zeit nur noch andere Philosophen seine leitenden Gedanken werden weiterführen können.
Ohne die Anstrengung der Rechthaberei verweist Habermas durchgängig auf eigene ältere Veröffentlichungen, frühere Untersuchungen zum jeweiligen Thema. Auch ein äußerlicher Zug des Buches wie diese bibliographische Ausdrücklichkeit sagt etwas über die Sache aus: Die Philosophie von Habermas ist wissenschaftsförmig, variiert nicht Einfälle, sondern bearbeitet Probleme. Der Autor nimmt Fäden auf, stellt Verknüpfungen her und macht Anknüpfung möglich. Fortsetzung bestimmt auch das Verhältnis des Buches zur gesamten Tradition. Habermas resümiert die Philosophie von den Vorsokratikern bis fast zu den Postmodernen, um sie weiterzuführen.
Der Titel, eine Anspielung auf Herders "Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit", setzt einen entspannten, gelassenen Ton. Das Werk ist in dem Sinne ein Spätwerk, dass der Verfasser spät hinzukommt. Es gibt schon viele Geschichten der Philosophie, und jetzt hat Jürgen Habermas auch noch eine geschrieben. Das Kooperative charakterisiert die Machart des Buches im Kern. Habermas betreibt Philosophie in der Art der Wissenschaft, das bedeutet: Die Arbeitsteilung verlangt nicht nur aus pragmatischen Gründen Respekt, weil er für sein Projekt einer abendländischen Philosophiegeschichte vor dem Horizont der globalen Religionsgeschichte eine Unmenge Spezialliteratur konsultieren musste; auch in der Sache prägt es die in dieser Weise, mit Querverweisen auf Kollegen, begründete Philosophie, dass der Philosoph nicht für sich allein arbeitet.
Die Unmöglichkeit des Solipsismus darf die ursprüngliche Einsicht von Habermas genannt werden, die er in seinen Werken zur Sprachphilosophie und Gesellschaftstheorie durchgearbeitet hat. Dass kein Denker der Welt allein gegenübersteht, in der souveränen Beobachterposition des einst von den Philosophen erdachten Gottes, bestimmt nach Habermas die Lage des modernen beziehungsweise, mit einem aus seinen Schriften vertrauten Begriff, "nachmetaphysischen" Denkens. Im neuen Werk wird nun die gesamte Philosophiegeschichte als Vorgeschichte dieses nachmetaphysischen Denkens ausgebreitet.
Eigentlich kann man das "Vor-" auch streichen. Denn von vornherein interessiert Habermas an der Metaphysik das, was auf die Nachmetaphysik vorausweist, beispielsweise an der Figur des außerweltlichen Gottes der Philosophen ein Moment der Setzung, der mit den Mitteln des Denkens nicht ausweisbaren Behauptung. Es wird von Gott nicht nur gesagt, dass er die Welt transzendiert. Dieser Begriff von Gott geht selbst über seine philosophisch dargelegten Voraussetzungen hinaus. Die Philosophie, die ihn formuliert, überzieht ihren Kredit. In der alten Welt wurde diese Glaubwürdigkeitslücke mit der Hilfe der christlichen Offenbarung geschlossen, in deren heiligen Büchern sich, wenn man sie unter der Anleitung von Philosophen las, ein gleichartiger Gott erklärt hatte. Die nachmetaphysische Lösung des Problems besteht darin, die Unterdeckung nicht durch Versprechungen zum Verschwinden zu bringen, sondern die Figur des objektiven, von nichts in der Welt zu erschütternden Beobachters als Konstruktion auszuweisen, als Arbeitshypothese, die etwas über die Natur der philosophischen Arbeit enthüllt. Das Gemachte dieses Gottes ist nicht mehr wie in der alten Religionskritik der tödliche Einwand, sondern wird zum Arbeitsnachweis und Qualitätsbeweis. Auch die Metaphysiker haben sich nicht sinnlos den Kopf zerbrochen: Im Rückblick betrachtet, ist ihr Gott schon als Gottesersatz gemacht worden.
Der junge Habermas machte sich mit einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als Kritiker Martin Heideggers einen Namen. Im ersten Band von "Auch eine Geschichte der Philosophie" dient Heidegger als Portalfigur, gemeinsam mit Carl Schmitt, Leo Strauss und Karl Löwith. Der Leser geht an ihnen vorbei und lässt sich von Habermas erklären, dass er die Geschichte der Philosophie nicht erzählen will wie sie, als Aufruf zur Abwendung von der Moderne. Wenn Habermas allerdings die Metaphysik von Anfang an in der Nachmetaphysik aufgehen lässt, sieht das dem Schema Heideggers durchaus ähnlich, bei dem mit den allerersten griechischen Philosophen sofort die Ära der Seinsvergessenheit beginnt.
Bemerkt der Habermas-Leser diese Ähnlichkeit der Perspektive, blitzt plötzlich doch ein Eindruck von Jähem auf: Die klassische Philosophie, deren Rekonstruktion der Gegenstand des Buches sein soll, verschwindet in einer Zeitspalte. Erweisen sich die arkadisch weiten Felder der 1752 Seiten bei näherem Hinsehen als brüchige Landschaft? Die Intention des Autors trifft diese Impression nicht. Mit der Ironie des Buchtitels ist eine versöhnliche Stimmung gegeben. Ob und wie Glauben und Wissen einander immer noch ergänzen, obwohl ihre Symbiose keinen Bestand haben konnte - das ist die Ausgangsfrage eines Projekts, von dem auch die Öffentlichkeit jenseits der Leserschaft philosophischer Fachliteratur Kenntnis hat, seit Habermas 2004 in München mit dem damaligen Kardinal Ratzinger debattierte.
Vom methodischen Atheismus des nachmetaphysischen Denkansatzes lässt sich Habermas im Buch bemerkenswerterweise auch als Zeitdeuter leiten: Skeptisch äußert er sich zu den so oft leichtfertig beschworenen Indizien einer vermeintlichen Renaissance der Religion in der Lebenswelt, und die Frage, ob die Theologie, wie einst durch Luther und zuletzt durch Kierkegaard, der Philosophie überhaupt noch etwas zu sagen haben kann, lässt er nach umständlicher Abwägung ausdrücklich offen. Aber diese Fehlanzeigen machen nur offenkundig, wie ernst es ihm mit der Absicht der Versöhnung ist. Er scheint unbedingt nachweisen zu wollen, dass man Philosophie und Theologie beziehungsweise Wissenschaft und Religion als komplementäre Phänomene anzusehen hat. Wo Beethoven laut Adorno "die Extreme im Augenblick zusammenzwingt", da legt Habermas sie auf Dauer auseinander, als notwendige Momente einer Geschichte, die noch nicht an ihr Ende gekommen sein soll.
Zu dieser Geschichte gehört, dass die Wissenschaft von der Metaphysik gelernt hat, den Dingen gegenüberzutreten, und dass die Philosophie die Wissenschaft lehrt, dabei das Ganze nicht aus dem Blick zu verlieren. Ist das Streben nach Ausgleich und Zusammenhang dann das Kennzeichen eines wissenschaftlichen Spätstils? Wenn es ein solches Spätwerk auf die Bewältigung und sogar die Tilgung von Katastrophen abgesehen haben sollte, würde der damit gegebene Kontrast zu Adornos Beethoven mit der von Habermas vertretenen Lehre von der Ausdifferenzierung der intellektuellen Aktivitäten harmonieren. Nicht nur Religion und Wissenschaft treten auseinander, sondern auch Wissenschaft und Kunst. Wo die Ästhetik es mit der "Kritik von hochdifferenzierten Ausschlägen geübter Sinnesorgane" zu tun hat, da schließt eine an der Naturwissenschaft orientierte Wissenschaft von Ausschlägen auf Gesetzmäßigkeiten, deren Demonstration Beruhigung verspricht.
Nicht alles im Buch von Habermas passt nun aber zu einem solchen Bild von seinem Unternehmen. Der erste Band endet mit einem Kapitel über Machiavelli. Dessen "Discorsi", die er unter dem Titel eines Buches "Vom Staate" zitiert und dem Buch vom Fürsten vorzieht, fasst er wie folgt zusammen: Machiavelli kommentiere "die am Leitfaden von Livius idealisierte Geschichte der römischen Republik als jene beispielhafte Periode, in deren Verlauf die politische Geschichte der Antike gleichsam den Atem angehalten hat, weil der schicksalhaft-destruktive Kreislauf aufsteigender und unaufhaltsam wieder in Tyrannei oder Ohnmacht und Fremdherrschaft zerfallender Monarchien, Aristokratien und Demokratien über drei Jahrhunderte zum Stillstand gekommen zu sein schien". Dieses Referat ist doppelt überraschend, in der Sache wie in der impliziten Wertung. Nach Machiavelli bestand das Erfolgsgeheimnis der römischen Verfassung darin, dass sie die Energie der inneren Parteikonflikte in außenpolitische Stärke verwandelte. Das große Zeitalter der römischen Expansion als Atempause und sogar als Epoche des Stillstands zu beschreiben, verfehlt Machiavellis Pointe, seinen republikanischen Glauben an eine mit Tätigkeit zusammenfallende Geisteskraft.
Otfried Höffe hat in seiner Rezension in der "Neuen Zürcher Zeitung" die Position des Machiavelli-Kapitels an der Grenze zwischen den Bänden als Verlegenheit hingestellt: Habermas habe unbedingt den zweiten Band mit Luther als dem Vorläufer Kants eröffnen wollen und daher den nominellen Katholiken Machiavelli ins Mittelalter ausgelagert. Aber die exponierte Stellung Machiavellis ergibt ihren guten Sinn, da er eine Weggabelung markiert. Obwohl der florentinische Sekretär schon "frei von einer metaphysischen Betrachtung der Welt" war, ist sein Weg, den Kant eben nicht eingeschlagen haben soll, für Habermas eine Sackgasse. Er stilisiert ihn zum Vorläufer seines alten Gegenspielers Niklas Luhmann. Der Pionier einer funktionalistischen Gesellschaftsanalyse habe den Fehler begangen, Herrschaft ausschließlich auf Stabilität zu gründen, und dabei den in der Person des Dominikaners Savonarola wirkmächtig gewordenen Eigensinn des Christentums verkannt.
Der Quietismus Machiavellis - Originalität ist dieser Interpretation nicht abzusprechen, aber interessant ist sie hauptsächlich als Gegenbild zum eigenen Vorgehen von Habermas. Während Machiavelli durch den machttechnologischen Reduktionismus seiner Deutung der römischen Bürgerkriege die revolutionäre Dynamik der Legitimitätsfrage stillgestellt haben soll, entdeckt Habermas auch in den längsten Friedensphasen der Geistesgeschichte die Anzeichen unausweichlicher, immer nur aufgeschobener Kämpfe.
Über den Investiturstreit des elften Jahrhunderts nach Christus heißt es: "Eine nicht intendierte Nebenfolge ist die Beschleunigung der schon in der Achsenzeit einsetzenden Tendenz zur Entsakralisierung der Herrschaft." Schon in der von Karl Jaspers erfundenen Achsenzeit zwischen 800 und 200 vor Christus, also anderthalb Jahrtausende vor der Papstwahl Gregors VII.! Neben der langfristigen Tendenz der Entsakralisierung fallen gegenläufige Phänomene wie das konstantinische Kirchenstaatswesen offenbar nicht ins Gewicht.
Beim Durchwandern bietet sich die Geschichtslandschaft des Buches als überaus zerklüftet dar, weil Habermas mit extremen perspektivischen Verkürzungen arbeitet. In seinem Fall dürfte der Kern jenes Hintergrundwissens, wie es jeder Philosoph nach seinen Angaben gedankenlos als gültig unterstellt, in der idealistischen Überzeugung bestehen, dass Widersprüche, in seiner wissenschaftssprachlichen Umformulierung: "kognitive Dissonanzen", irgendwann zum Ausbruch kommen. Dann können Unstimmigkeiten der Definition des Kosmosbegriffs bei Platon in der hochmittelalterlichen Kirchenpolitik plötzlich wirksam werden.
Das Wort von Habermas für die Neusortierung der Begriffswelt nach dem Hervorbrechen der latent gehaltenen Widersprüche ist der Schub. Einen "kognitiven Schub" bewirkte die Achsenzeit, einen "erneuten Schub zur Subjektivierung" die Reformation, einen "Reflexionsschub" die Begegnung der Theologie mit der Aufklärung und so weiter und so weiter. Der Bildgehalt der Vokabel stammt aus der Mechanik. Das Wort bezeichnet eine von den Newtonschen Gesetzen bestimmte Kraft.
Eigentlich hat es sich Jürgen Habermas zur Maxime gemacht, dass seine Philosophie bei aller Anerkennung für die weltverändernde Leistung der klassischen Physik deren Denkungsart nicht verinnerlichen soll. Aber wenn Habermas von Schüben spricht, beschreibt er die Welt nur scheinbar als Maschine. Es sind Störungen des Systems, die einen auf Zeit stabilen und vielleicht sogar legitimen Zustand herbeiführen. Um der Denkmöglichkeit dieser Störungen willen braucht er die Religion, und zwar in der vorsprachlichen Gestalt des Ritus, hinter dem sich für ihn das Chaos abzeichnet, das die vorgeschriebene Wiederkehr der symbolischen Handlungen bannen soll. Die bei Habermas in liturgischer Monotonie wiederkehrende Rede vom Schub ist eine Floskel, wie sie nach Adorno charakteristisch ist für den Spätstil Beethovens: das Denkmal des Gewesenen als Platzhalter des Unerhörten.
PATRICK BAHNERS
Jürgen Habermas: "Auch eine Geschichte der Philosophie". Suhrkamp, zwei Bände, 1752 Seiten, 98 Euro. Erscheint am Montag.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Recht freundlich lässt Rezensent Jürgen Kaube dieses gewaltige Werk Revue passieren. Als eine regelrechte, alles abwägende Rezension hat er seinen Artikel auch gar nicht angelegt - er bleibt im Grunde recht kurz. Habermas erzähle die Geistesgeschichte als eine Lösung aus dem Religiösen, die diesem aber irgendwie freundschaftlich verbunden bleibt, meint man zu verstehen. Denn laut Habermas dienten sowohl Religionen als auch die Philosophie zur sozialen Integration von Gesellschaften. Kaube macht hier nur milde religionskritische Einwände, etwa dass Religionen durchaus konfligierende, miteinander unvereinbare Weltbilder vertreten könnten. Auch dass die Religionen trotz durch Habermas erfolgter Entzauberung nicht absterben, scheint Kaube an Habermas' Entwurf zu stören. Aber wie gesagt: Anders als Habermas will er "das Ganze" gar nicht erledigen, vielmehr freut er sich über die zahlreichen Seitenwege, die Habermas nebenbei beschreitet, etwa zur Frage, ob Jesus sich selbst als Messias gesehen habe. Für Kaube ist diese Summe vor allem ein Fest der "Erkenntnisfreude".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.11.2019Was weiß,
wer glaubt?
Im neuen Buch von
Jürgen Habermas fragt
die Vernunft nach
dem Erbe der Religion
Von Hans Joas
Es gibt kein Altern für den Geist – so lautete ein geflügeltes Wort des 19. Jahrhunderts. Die schönste Begründung dafür, warum trotz aller unbestreitbaren Befunde wie der Schwächung der Sinnesorgane und dem Schwinden der Gedächtniskräfte dieses Wort zutrifft, hat der große protestantische Theologe Friedrich Schleiermacher entwickelt – bemerkenswerterweise in den „Monologen“, einer seiner Jugendschriften. Die „großen heiligen Gedanken, die aus sich selbst der Geist erzeugt“ seien nicht einfach abhängig „von der äußeren Glieder Gebrauch“. Das monumentale Alterswerk von Deutschlands wohl bedeutendstem lebenden Philosophen wirkt wie eine Bestätigung dieses tröstlichen Gedankengangs.
Jürgen Habermas legt kurz nach seinem 90. Geburtstag ein äußerst umfangreiches Werk vor, das nicht weniger zu geben beansprucht als eine umfassende Geschichte der „westlichen“ Philosophie seit ihren Ursprüngen in der Antike bis ins späte 19. Jahrhundert. Keineswegs fasst hier einfach ein Denker in fortgeschrittenem Alter zu einer Summe zusammen, was ihn ein Leben lang und in seinen vielfältigen Schriften beschäftigt hat. Wie der Autor selbst im Vorwort freimütig eingesteht, hat er viele der klassischen Schriften der philosophischen Tradition erst jetzt wirklich studiert. In der Tat waren die Bezüge auf fast alle Denker vor Kant in Habermas’ Lebenswerk immer recht spärlich gewesen, was manche Kollegen zu spitzen Bemerkungen verführte, er sei eigentlich doch mehr Theoretiker moderner Gesellschaft und Politik als Philosoph. In dieser Weise nun über die eigenen bisherigen Grenzen hinauszugehen und ein Werk von höchster argumentativer Dichte, größtem Gedankenreichtum und innerer Konsistenz vorzulegen, verdient Bewunderung und uneingeschränkte Anerkennung.
Niemand wird von dem meinungsstarken und streitfreudigen Habermas einen neutralen Überblick über geistesgeschichtliche Entwicklungen erwartet haben. Sein Buch folgt denn auch einem klaren Leitfaden, nämlich der Frage nach dem Verhältnis von Glauben und Wissen, die schon in der aufsehenerregenden Friedenspreisrede von 2001 deutlich angeklungen war. Nach dieser Rede kam das Gerücht auf, Habermas bereite nun ein umfangreiches Werk über Religion und Religionsgeschichte vor. Davon kann beim nun vorliegenden Werk nicht wirklich die Rede sein, weil es Habermas nicht eigentlich um den Glauben oder die Religion geht, sondern um die – angebliche oder wirkliche – schrittweise Verselbständigung der Philosophie gegenüber religiösen und metaphysischen Voraussetzungen. Diese Selbständigkeit der Philosophie und des rationalen Argumentierens überhaupt ist es, was den Glutkern von Habermas’ Motivation ausmacht, seinen „heiligen Gedanken“, der auch seinen Blick auf die Geschichte der Philosophie und der Religion lenkt und leitet.
Habermas ist historisch viel zu gebildet, um das Verhältnis von Philosophie und Religion als äußerliche Konkurrenz zu missdeuten und ihre Verbindung in der europäischen Geistesgeschichte nachträglich zu beklagen. Deshalb idealisiert er auch kein vergangenes Zeitalter und träumt nicht von einer Rückkehr ins antike Griechenland, weder zu Platon noch zu den Vorsokratikern, und schon gar nicht ins christliche Mittelalter. Energisch grenzt er sich deshalb von Martin Heidegger, Leo Strauss und auch Karl Löwith ebenso ab wie von Carl Schmitt. „Erst im Lichte des Erbes, von dem sich die Philosophie in ihrer nachmetaphysischen Gestalt gelöst hat, erkennt man das Erbe, das sie angetreten hat, in seinen richtigen Proportionen: die Emanzipation zum Gebrauch der vernünftigen Freiheit bedeutet Befreiung und normative Bindung in einem.“
Aus diesem Grundgedanken resultiert die Einteilung der Philosophiegeschichte in Phasen. Habermas beginnt, und das ist durchaus originell, mit einer Anknüpfung an die Idee von Karl Jaspers, in der „Achsenzeit“ Mitte des letzten vorchristlichen Jahrtausends habe es in mehreren der großen Weltkulturen vergleichbare Durchbrüche gegeben zu einem anspruchsvollen metaphysischen Verständnis von Transzendenz und einem „moralischen Universalismus“, das heißt einem Ethos des umfassenden Bezugs zum Wohl aller Menschen und nicht nur derer, mit denen wir in einem Volk oder Staat ohnehin verbunden sind.
Was bei Jaspers noch in vielerlei Hinsicht bloß spekulativ und intuitiv war, ist durch einen breiten Strom historisch-soziologischer Forschung in den letzten Jahrzehnten immer mehr empirisch präzisiert und bereichert worden, und Habermas knüpft an die wichtigsten dieser Forschungen (Shmuel Eisenstadt, Robert Bellah) mit großer Ernsthaftigkeit an und weitet sogar kurz den Blick in Richtung der asiatischen Geschichte. Eigentlich aber führt ihn seine historische Rekonstruktion zur Verknüpfung des griechischen und des jüdisch-christlichen Durchbruchs im christlichen Platonismus und zur Entstehung der katholischen Kirche. Das Mittelalter wird im Zeichen einer fortschreitenden neuen Differenzierung von „Glauben“ und „Wissen“ gedeutet, bevor Luther und die Reformation in einer für die heutige Philosophiegeschichte überraschenden Weise als epochaler Einschnitt behandelt werden.
Für Habermas leistet Luthers klare Scheidung des Glaubens vom Wissen der umgekehrt akzentuierten Scheidung des Wissens vom Glauben unbeabsichtigt Vorschub. Die Aufklärung führt Habermas zufolge auf eine große Wegscheide zu, die mit den Namen David Hume und Immanuel Kant bezeichnet wird. Von Hume führe der Weg in einen reduktionistischen Naturalismus, von Kant in die Denkentwicklung der klassischen deutschen Philosophie zu Hegel und auch Marx. Was in dieser Zeit nur Unterströmung war, nämlich die Umstellung eines Vernunftbegriffes, der am einzelnen erkennenden Subjekt entwickelt wurde, auf Sprachgemeinschaften, „kommunikative Vergesellschaftung“, werde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einzelnen Denkern wie dem amerikanischen Pragmatisten Charles Peirce pionierhaft systematisiert. Fluchtpunkt dieser Darstellung, ohne plump ausgesprochen zu werden, ist dann in unserer Zeit für Habermas sein eigenes Denken.
Es ist absehbar, dass diese große Erzählung zum Gegenstand vieler Tagungen und Bücher werden wird, in denen die Plausibilität der einzelnen Interpretationen auf den Prüfstand gelangt. So soll es auch sein. Indem Habermas seinem Werk in lockerer Anspielung auf eine Schrift Johann Gottfried Herders den bescheiden-pluralistischen Titel „Auch eine Geschichte der Philosophie“ gegeben hat, räumt er von vornherein ein, einer Geschichte der Philosophie hätten auch ganz andere Leitfäden zugrunde liegen können. Hätte aber auch bei dem gewählten Leitfaden, bei der Konzentration auf Glauben und Wissen, eine andere Geschichte erzählt werden können? Das halte ich für die spannendere Frage.
Ein kleiner Hinweis auf eine mögliche Alternative findet sich versteckt in einer Fußnote des großen Werks. Dort heißt es, der Verfasser nehme als Philosoph „natürlich“ eine „asymmetrische Einstellung gegenüber dem Diskurs über Glauben und Wissen“ ein, weil er nachvollziehen wolle, „was die Philosophie aus diesem Diskurs gelernt hat“. Aber das scheint mir kein zwingendes Argument zu sein. Hätte der Philosoph nicht ebenso gut die Frage zugrunde legen können, wie die Philosophie in ihrer Geschichte zu einem angemessenen Verständnis des Glaubens kam oder noch kommen könne? Philosophen müssen sich ja nicht vorrangig für den Sonderstatus der Philosophie interessieren, und auch nicht nur für vergangene Lernprozesse, es könnte ihnen um die Bedingungen für gegenwärtige und zukünftige gehen.
In Habermas’ Geschichtserzählung finden sich sehr schöne Passagen zum Glaubensverständnis, etwa in den Abschnitten zu Augustinus und zu Pascal. Aber in den meisten Teilen dominiert die Frage nach der Herausbildung einer „säkularen“ und „autonomen“ Rationalität. Dabei ist nicht ganz klar, warum es hier bei aller Betonung der argumentativen Rationalität dieser beiden Beiwörter bedarf. Wenn „säkular“ heißen soll, dass etwa wissenschaftliche Debatten nicht der Kontrolle durch religiöse Institutionen unterliegen sollen, sondern in ihnen nur das überzeugende Argument zählt, dann ist die Bedeutung klar.
Aber nicht nur religiöse Institutionen sind eine potenzielle Bedrohung. Die Kontrolle durch „säkulare“ Institutionen, zum Beispiel eine kommunistische Partei oder ihren Staatsapparat, ist doch genauso abzulehnen wie religiöse Bevormundung. Und wenn wir die persönlichen religiösen Überzeugungen eines Denkers nicht nur als Verinnerlichung äußerlicher Autorität auffassen, sondern als echte Überzeugung, dann stellen diese zwar als solche noch kein Argument dar, wohl aber eine Quelle des Denkens. Solche Überzeugung unterscheidet sich nicht prinzipiell von den Wertgewissheiten, die bei säkularen Denkern ihrer rationalen Argumentation vorauslaufen. Auch das Demokratie-Pathos ist bei Habermas lebensgeschichtlich grundiert und nicht einfach argumentativ gewonnen. Die Unklarheit im Begriff des Säkularen hier, das Changieren zwischen einer starken und einer schwachen Bedeutung dieses Begriffs, trägt dazu bei, religiöse Menschen als andersartig erscheinen zu lassen, sie zu „exotisieren“.
Noch stärker ist das der Fall, wenn von der Autonomie solcher Rationalität die Rede ist. Der Begriff hat einen guten Sinn in der Abwehr machtförmiger Eingriffe, nicht aber, wenn der Philosophie eine Unabhängigkeit von vorreflexiven Überzeugungen zugesprochen wird, die sich noch nirgends gefunden hat. Gerade der amerikanische Pragmatismus, in dessen Darstellung Habermas seine Philosophiegeschichte gipfeln lässt, hat die „Vernunft“ nie als säkular und autonom behandelt, nicht als Substantiv, sondern als Adjektiv. Nicht „die Vernunft“ handelt, spricht, fordert – sondern wir Menschen können mehr oder weniger vernünftig reden und handeln, Gläubige ebenso wie Nichtgläubige.
Der Grundgestus von Habermas ist, dass Religion zwar heute „noch“ existiere, aber vom Richterstuhl der „Vernunft“ aus gesehen doch ein Relikt der Vergangenheit sei. Es bedürfte eines Durchgangs durch die Teile des Buches, in denen direkt von der Religion als einer „gegenwärtigen Gestalt des objektiven Geistes“ und von den Ursachen der europäischen Säkularisierungsgeschichte die Rede ist, um aufzuzeigen, welche Annahmen hier den Blick des Verfassers lenken. Oft sind es dabei nicht die Thesen selbst, sondern unbemerkte Begriffsverwendungen und Seitenbemerkungen, die Einblick in die Denkvoraussetzungen gewähren.
Wenn etwa, Max Weber folgend, die katholische Kirche als „Heilsanstalt“ bezeichnet wird, dann wird damit gewiss etwas für sie Wesentliches getroffen. Aber es handelt sich keineswegs, weder bei Weber noch bei Habermas, um eine neutrale soziologische Charakterisierung. Der lebendige Geist der Institution wird in dieser Bezeichnung verfehlt oder in Abrede gestellt.
Charakteristisch für das große vorliegende Werk ist, dass hier – anders als bei anderen maßgeblichen Philosophen unserer Zeit wie Charles Taylor und Paul Ricœur – nicht ein Denker mit dem Verhältnis von Glauben und Wissen im eigenen Denken ringt. Es geht bei Habermas immer um etwas, was in unserer Zeit bei allen historischen Verdiensten, die es habe, als bloßes Relikt erscheint und potenziell als Gefahr.
Je näher die Darstellung der Gegenwart rückt, desto stärker tritt die Frage nach einer zeitgenössischen Form des Christentums oder der Religion in den Hintergrund. Im Kapitel zu Friedrich Schleiermacher etwa spielen dessen epochale Reden von 1799 „Über die Religion“ „an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ praktisch keine Rolle. Schleiermachers Begriff des „Gefühls“ wird von Habermas durch Hegels Brille gelesen und simplifiziert dargestellt, als sei von bloßen Gefühlen ohne kognitiven Gehalt die Rede.
Und fast schon sensationell ist die Tatsache, dass im Kapitel über den Pragmatismus nur von Charles Peirce die Rede ist, nicht aber vom bekanntesten Vertreter dieser Denkschule, von William James, dessen Buch über Religion zudem das in der englischsprachigen Welt wohl verbreitetste überhaupt zum Thema ist. James, der anders als Peirce nicht an Kant, sondern an Hume anknüpfte, brächte, wäre er hier ernster genommen worden, auch die These von der großen Wegscheide Hume versus Kant ins Wanken.
Dabei geht es hier nicht einfach um philosophiegeschichtliche Fragen. Es geht um die Möglichkeit einer zeitgenössischen Gläubigkeit, die sehr wohl intellektuell rechtfertigbar ist. Karl Rahners berühmtes Wort, der Christ der Zukunft sei ein Mystiker, drückt eine Einsicht aus, die nicht auf das Christentum beschränkt ist. Nicht metaphysische Weltbilder ziehen die Menschen in den Bann von Religionen und nicht, wie Habermas meint, die sozialintegrativen Wirkungen der Rituale, sondern intensive außeralltägliche Erfahrungen, allein oder mit anderen, welche der Artikulation bedürfen und der Ermöglichung durch die Klugheit von Traditionen.
Dieses Opus magnum von Habermas lässt sich, was sich schon in seinen Stellungnahmen der letzten Jahre andeutete, als großartiges Plädoyer an die Adresse einer säkularen Öffentlichkeit lesen, die Gläubigen nicht aus ihrem Gespräch auszugrenzen. Man könnte es in diesem Sinne als Manifest eines „Anti-Säkularismus“ lesen. Aber für Gläubige schafft es eine unbehagliche Lage. Hier bietet einer der größten Denker unserer Zeit Dialog und Freundschaft an – und macht es doch schwer, das Angebot anzunehmen, weil das Bild vom Glauben, das er zeichnet, sich vom Selbstbild der Gläubigen so stark unterscheidet.
Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie. Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen. Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. Zusammen 1752 Seiten, 98 Euro. Der Soziologe und Sozialphilosoph Hans Joas lehrt an der Berliner Humboldt-Universität und an der University of Chicago.
Ohne dass er es plump ausspricht,
ist Habermas’ eigenes Denken
der Fluchtpunkt der Darstellung
Die Frage ist: Lässt sich eine
zeitgenössische Gläubigkeit
intellektuell rechtfertigen?
Jürgen Habermas bei der Vorstellung seines zweibändigen Werkes „Glauben und Wissen“ im Suhrkamp-Verlag in Berlin.
Foto: Bundesregierung / Jesco Denzel
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
wer glaubt?
Im neuen Buch von
Jürgen Habermas fragt
die Vernunft nach
dem Erbe der Religion
Von Hans Joas
Es gibt kein Altern für den Geist – so lautete ein geflügeltes Wort des 19. Jahrhunderts. Die schönste Begründung dafür, warum trotz aller unbestreitbaren Befunde wie der Schwächung der Sinnesorgane und dem Schwinden der Gedächtniskräfte dieses Wort zutrifft, hat der große protestantische Theologe Friedrich Schleiermacher entwickelt – bemerkenswerterweise in den „Monologen“, einer seiner Jugendschriften. Die „großen heiligen Gedanken, die aus sich selbst der Geist erzeugt“ seien nicht einfach abhängig „von der äußeren Glieder Gebrauch“. Das monumentale Alterswerk von Deutschlands wohl bedeutendstem lebenden Philosophen wirkt wie eine Bestätigung dieses tröstlichen Gedankengangs.
Jürgen Habermas legt kurz nach seinem 90. Geburtstag ein äußerst umfangreiches Werk vor, das nicht weniger zu geben beansprucht als eine umfassende Geschichte der „westlichen“ Philosophie seit ihren Ursprüngen in der Antike bis ins späte 19. Jahrhundert. Keineswegs fasst hier einfach ein Denker in fortgeschrittenem Alter zu einer Summe zusammen, was ihn ein Leben lang und in seinen vielfältigen Schriften beschäftigt hat. Wie der Autor selbst im Vorwort freimütig eingesteht, hat er viele der klassischen Schriften der philosophischen Tradition erst jetzt wirklich studiert. In der Tat waren die Bezüge auf fast alle Denker vor Kant in Habermas’ Lebenswerk immer recht spärlich gewesen, was manche Kollegen zu spitzen Bemerkungen verführte, er sei eigentlich doch mehr Theoretiker moderner Gesellschaft und Politik als Philosoph. In dieser Weise nun über die eigenen bisherigen Grenzen hinauszugehen und ein Werk von höchster argumentativer Dichte, größtem Gedankenreichtum und innerer Konsistenz vorzulegen, verdient Bewunderung und uneingeschränkte Anerkennung.
Niemand wird von dem meinungsstarken und streitfreudigen Habermas einen neutralen Überblick über geistesgeschichtliche Entwicklungen erwartet haben. Sein Buch folgt denn auch einem klaren Leitfaden, nämlich der Frage nach dem Verhältnis von Glauben und Wissen, die schon in der aufsehenerregenden Friedenspreisrede von 2001 deutlich angeklungen war. Nach dieser Rede kam das Gerücht auf, Habermas bereite nun ein umfangreiches Werk über Religion und Religionsgeschichte vor. Davon kann beim nun vorliegenden Werk nicht wirklich die Rede sein, weil es Habermas nicht eigentlich um den Glauben oder die Religion geht, sondern um die – angebliche oder wirkliche – schrittweise Verselbständigung der Philosophie gegenüber religiösen und metaphysischen Voraussetzungen. Diese Selbständigkeit der Philosophie und des rationalen Argumentierens überhaupt ist es, was den Glutkern von Habermas’ Motivation ausmacht, seinen „heiligen Gedanken“, der auch seinen Blick auf die Geschichte der Philosophie und der Religion lenkt und leitet.
Habermas ist historisch viel zu gebildet, um das Verhältnis von Philosophie und Religion als äußerliche Konkurrenz zu missdeuten und ihre Verbindung in der europäischen Geistesgeschichte nachträglich zu beklagen. Deshalb idealisiert er auch kein vergangenes Zeitalter und träumt nicht von einer Rückkehr ins antike Griechenland, weder zu Platon noch zu den Vorsokratikern, und schon gar nicht ins christliche Mittelalter. Energisch grenzt er sich deshalb von Martin Heidegger, Leo Strauss und auch Karl Löwith ebenso ab wie von Carl Schmitt. „Erst im Lichte des Erbes, von dem sich die Philosophie in ihrer nachmetaphysischen Gestalt gelöst hat, erkennt man das Erbe, das sie angetreten hat, in seinen richtigen Proportionen: die Emanzipation zum Gebrauch der vernünftigen Freiheit bedeutet Befreiung und normative Bindung in einem.“
Aus diesem Grundgedanken resultiert die Einteilung der Philosophiegeschichte in Phasen. Habermas beginnt, und das ist durchaus originell, mit einer Anknüpfung an die Idee von Karl Jaspers, in der „Achsenzeit“ Mitte des letzten vorchristlichen Jahrtausends habe es in mehreren der großen Weltkulturen vergleichbare Durchbrüche gegeben zu einem anspruchsvollen metaphysischen Verständnis von Transzendenz und einem „moralischen Universalismus“, das heißt einem Ethos des umfassenden Bezugs zum Wohl aller Menschen und nicht nur derer, mit denen wir in einem Volk oder Staat ohnehin verbunden sind.
Was bei Jaspers noch in vielerlei Hinsicht bloß spekulativ und intuitiv war, ist durch einen breiten Strom historisch-soziologischer Forschung in den letzten Jahrzehnten immer mehr empirisch präzisiert und bereichert worden, und Habermas knüpft an die wichtigsten dieser Forschungen (Shmuel Eisenstadt, Robert Bellah) mit großer Ernsthaftigkeit an und weitet sogar kurz den Blick in Richtung der asiatischen Geschichte. Eigentlich aber führt ihn seine historische Rekonstruktion zur Verknüpfung des griechischen und des jüdisch-christlichen Durchbruchs im christlichen Platonismus und zur Entstehung der katholischen Kirche. Das Mittelalter wird im Zeichen einer fortschreitenden neuen Differenzierung von „Glauben“ und „Wissen“ gedeutet, bevor Luther und die Reformation in einer für die heutige Philosophiegeschichte überraschenden Weise als epochaler Einschnitt behandelt werden.
Für Habermas leistet Luthers klare Scheidung des Glaubens vom Wissen der umgekehrt akzentuierten Scheidung des Wissens vom Glauben unbeabsichtigt Vorschub. Die Aufklärung führt Habermas zufolge auf eine große Wegscheide zu, die mit den Namen David Hume und Immanuel Kant bezeichnet wird. Von Hume führe der Weg in einen reduktionistischen Naturalismus, von Kant in die Denkentwicklung der klassischen deutschen Philosophie zu Hegel und auch Marx. Was in dieser Zeit nur Unterströmung war, nämlich die Umstellung eines Vernunftbegriffes, der am einzelnen erkennenden Subjekt entwickelt wurde, auf Sprachgemeinschaften, „kommunikative Vergesellschaftung“, werde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einzelnen Denkern wie dem amerikanischen Pragmatisten Charles Peirce pionierhaft systematisiert. Fluchtpunkt dieser Darstellung, ohne plump ausgesprochen zu werden, ist dann in unserer Zeit für Habermas sein eigenes Denken.
Es ist absehbar, dass diese große Erzählung zum Gegenstand vieler Tagungen und Bücher werden wird, in denen die Plausibilität der einzelnen Interpretationen auf den Prüfstand gelangt. So soll es auch sein. Indem Habermas seinem Werk in lockerer Anspielung auf eine Schrift Johann Gottfried Herders den bescheiden-pluralistischen Titel „Auch eine Geschichte der Philosophie“ gegeben hat, räumt er von vornherein ein, einer Geschichte der Philosophie hätten auch ganz andere Leitfäden zugrunde liegen können. Hätte aber auch bei dem gewählten Leitfaden, bei der Konzentration auf Glauben und Wissen, eine andere Geschichte erzählt werden können? Das halte ich für die spannendere Frage.
Ein kleiner Hinweis auf eine mögliche Alternative findet sich versteckt in einer Fußnote des großen Werks. Dort heißt es, der Verfasser nehme als Philosoph „natürlich“ eine „asymmetrische Einstellung gegenüber dem Diskurs über Glauben und Wissen“ ein, weil er nachvollziehen wolle, „was die Philosophie aus diesem Diskurs gelernt hat“. Aber das scheint mir kein zwingendes Argument zu sein. Hätte der Philosoph nicht ebenso gut die Frage zugrunde legen können, wie die Philosophie in ihrer Geschichte zu einem angemessenen Verständnis des Glaubens kam oder noch kommen könne? Philosophen müssen sich ja nicht vorrangig für den Sonderstatus der Philosophie interessieren, und auch nicht nur für vergangene Lernprozesse, es könnte ihnen um die Bedingungen für gegenwärtige und zukünftige gehen.
In Habermas’ Geschichtserzählung finden sich sehr schöne Passagen zum Glaubensverständnis, etwa in den Abschnitten zu Augustinus und zu Pascal. Aber in den meisten Teilen dominiert die Frage nach der Herausbildung einer „säkularen“ und „autonomen“ Rationalität. Dabei ist nicht ganz klar, warum es hier bei aller Betonung der argumentativen Rationalität dieser beiden Beiwörter bedarf. Wenn „säkular“ heißen soll, dass etwa wissenschaftliche Debatten nicht der Kontrolle durch religiöse Institutionen unterliegen sollen, sondern in ihnen nur das überzeugende Argument zählt, dann ist die Bedeutung klar.
Aber nicht nur religiöse Institutionen sind eine potenzielle Bedrohung. Die Kontrolle durch „säkulare“ Institutionen, zum Beispiel eine kommunistische Partei oder ihren Staatsapparat, ist doch genauso abzulehnen wie religiöse Bevormundung. Und wenn wir die persönlichen religiösen Überzeugungen eines Denkers nicht nur als Verinnerlichung äußerlicher Autorität auffassen, sondern als echte Überzeugung, dann stellen diese zwar als solche noch kein Argument dar, wohl aber eine Quelle des Denkens. Solche Überzeugung unterscheidet sich nicht prinzipiell von den Wertgewissheiten, die bei säkularen Denkern ihrer rationalen Argumentation vorauslaufen. Auch das Demokratie-Pathos ist bei Habermas lebensgeschichtlich grundiert und nicht einfach argumentativ gewonnen. Die Unklarheit im Begriff des Säkularen hier, das Changieren zwischen einer starken und einer schwachen Bedeutung dieses Begriffs, trägt dazu bei, religiöse Menschen als andersartig erscheinen zu lassen, sie zu „exotisieren“.
Noch stärker ist das der Fall, wenn von der Autonomie solcher Rationalität die Rede ist. Der Begriff hat einen guten Sinn in der Abwehr machtförmiger Eingriffe, nicht aber, wenn der Philosophie eine Unabhängigkeit von vorreflexiven Überzeugungen zugesprochen wird, die sich noch nirgends gefunden hat. Gerade der amerikanische Pragmatismus, in dessen Darstellung Habermas seine Philosophiegeschichte gipfeln lässt, hat die „Vernunft“ nie als säkular und autonom behandelt, nicht als Substantiv, sondern als Adjektiv. Nicht „die Vernunft“ handelt, spricht, fordert – sondern wir Menschen können mehr oder weniger vernünftig reden und handeln, Gläubige ebenso wie Nichtgläubige.
Der Grundgestus von Habermas ist, dass Religion zwar heute „noch“ existiere, aber vom Richterstuhl der „Vernunft“ aus gesehen doch ein Relikt der Vergangenheit sei. Es bedürfte eines Durchgangs durch die Teile des Buches, in denen direkt von der Religion als einer „gegenwärtigen Gestalt des objektiven Geistes“ und von den Ursachen der europäischen Säkularisierungsgeschichte die Rede ist, um aufzuzeigen, welche Annahmen hier den Blick des Verfassers lenken. Oft sind es dabei nicht die Thesen selbst, sondern unbemerkte Begriffsverwendungen und Seitenbemerkungen, die Einblick in die Denkvoraussetzungen gewähren.
Wenn etwa, Max Weber folgend, die katholische Kirche als „Heilsanstalt“ bezeichnet wird, dann wird damit gewiss etwas für sie Wesentliches getroffen. Aber es handelt sich keineswegs, weder bei Weber noch bei Habermas, um eine neutrale soziologische Charakterisierung. Der lebendige Geist der Institution wird in dieser Bezeichnung verfehlt oder in Abrede gestellt.
Charakteristisch für das große vorliegende Werk ist, dass hier – anders als bei anderen maßgeblichen Philosophen unserer Zeit wie Charles Taylor und Paul Ricœur – nicht ein Denker mit dem Verhältnis von Glauben und Wissen im eigenen Denken ringt. Es geht bei Habermas immer um etwas, was in unserer Zeit bei allen historischen Verdiensten, die es habe, als bloßes Relikt erscheint und potenziell als Gefahr.
Je näher die Darstellung der Gegenwart rückt, desto stärker tritt die Frage nach einer zeitgenössischen Form des Christentums oder der Religion in den Hintergrund. Im Kapitel zu Friedrich Schleiermacher etwa spielen dessen epochale Reden von 1799 „Über die Religion“ „an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ praktisch keine Rolle. Schleiermachers Begriff des „Gefühls“ wird von Habermas durch Hegels Brille gelesen und simplifiziert dargestellt, als sei von bloßen Gefühlen ohne kognitiven Gehalt die Rede.
Und fast schon sensationell ist die Tatsache, dass im Kapitel über den Pragmatismus nur von Charles Peirce die Rede ist, nicht aber vom bekanntesten Vertreter dieser Denkschule, von William James, dessen Buch über Religion zudem das in der englischsprachigen Welt wohl verbreitetste überhaupt zum Thema ist. James, der anders als Peirce nicht an Kant, sondern an Hume anknüpfte, brächte, wäre er hier ernster genommen worden, auch die These von der großen Wegscheide Hume versus Kant ins Wanken.
Dabei geht es hier nicht einfach um philosophiegeschichtliche Fragen. Es geht um die Möglichkeit einer zeitgenössischen Gläubigkeit, die sehr wohl intellektuell rechtfertigbar ist. Karl Rahners berühmtes Wort, der Christ der Zukunft sei ein Mystiker, drückt eine Einsicht aus, die nicht auf das Christentum beschränkt ist. Nicht metaphysische Weltbilder ziehen die Menschen in den Bann von Religionen und nicht, wie Habermas meint, die sozialintegrativen Wirkungen der Rituale, sondern intensive außeralltägliche Erfahrungen, allein oder mit anderen, welche der Artikulation bedürfen und der Ermöglichung durch die Klugheit von Traditionen.
Dieses Opus magnum von Habermas lässt sich, was sich schon in seinen Stellungnahmen der letzten Jahre andeutete, als großartiges Plädoyer an die Adresse einer säkularen Öffentlichkeit lesen, die Gläubigen nicht aus ihrem Gespräch auszugrenzen. Man könnte es in diesem Sinne als Manifest eines „Anti-Säkularismus“ lesen. Aber für Gläubige schafft es eine unbehagliche Lage. Hier bietet einer der größten Denker unserer Zeit Dialog und Freundschaft an – und macht es doch schwer, das Angebot anzunehmen, weil das Bild vom Glauben, das er zeichnet, sich vom Selbstbild der Gläubigen so stark unterscheidet.
Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie. Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen. Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. Zusammen 1752 Seiten, 98 Euro. Der Soziologe und Sozialphilosoph Hans Joas lehrt an der Berliner Humboldt-Universität und an der University of Chicago.
Ohne dass er es plump ausspricht,
ist Habermas’ eigenes Denken
der Fluchtpunkt der Darstellung
Die Frage ist: Lässt sich eine
zeitgenössische Gläubigkeit
intellektuell rechtfertigen?
Jürgen Habermas bei der Vorstellung seines zweibändigen Werkes „Glauben und Wissen“ im Suhrkamp-Verlag in Berlin.
Foto: Bundesregierung / Jesco Denzel
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de