"Auf dem Meer" legt vier Erzählungen von Gao Xingjian vor, die für die chinesische Literatur und ihre Entwicklung Wegmarken sind. In einem politischen Umfeld, in dem jede Äußerung zu Denunziation Anlass gab, versucht Gao Xingjian mit tastender Sprache Worte zu finden und Werte zu rehabilitieren, die uns elementar scheinen. Aber in der damaligen Welt war selbst die enge Beziehung zwischen Mutter und Kind ärgsten politischen Missverständnissen ausgesetzt. Mit Ernst und Ironie, aber auch mit skurrilen Spannungsbögen und unerwarteten Handlungsbrüchen entfalten diese Erzählungen unverwechselbar den Resonanzraum, in dem sich das Werk von Gao Xingjian entwickelte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.08.2001Muttersöhnchen
Gao Xingjian reut frühe Schuld
Daß er sich für einen treulosen Sohn hält, hat man lange vor der sechsten Wiederholung begriffen. Zumal er sich auch als pietätlosen und undankbaren Sohn bezeichnet oder wahlweise als einen nüchternen, egoistischen Menschen, mit einem mal leeren, mal nur von ihm selbst besetzten Herzen. Daß der Ich-Erzähler - ein Schriftsteller Anfang Vierzig - einen ganzen Monolog lang nicht nur die tote Mutter anfleht, sondern zwischendurch auch sich selbst in Du-Form anklagt, stellt die Geduld des Lesers zusätzlich auf die Probe. Daß man aber bei alldem nicht erfährt, warum der prominente Sohn nach über zwanzig Jahren auf einmal die einst ertrunkene, lange vergessene Mutter vor sich sieht, warum er gerade jetzt seine Schuld erkennt und bereut - diesen Mangel mag man dem Autor schließlich nicht mehr nachsehen.
Die Frage nach dem Warum des späten Schuldbekenntnisses hat Gao Xingjian in seiner Erzählung "Die Mutter" (1983) gar nicht gestellt. Der Grund für die radikale Selbstanklage des Ich-Erzählers erschöpft sich in drei Vokabeln: Überarbeitung, Hoffnungslosigkeit, Trostbedürfnis - wobei die Hoffnungslosigkeit schon wieder überwunden ist. Worin diese jedoch bestanden hat und wofür der Sohn jetzt den Trost der Mutter ersehnt, all das steht weder in noch zwischen den Zeilen geschrieben - und ist also nicht einmal als Geheimnis präsent.
Auch die anderen drei "frühen" Erzählungen des Chinesen Xingjian aus den Jahren 1982 bis 1984 (er war damals Anfang Vierzig), die zuerst 1989 in einem taiwanischen Verlag und nun unter dem Titel "Auf dem Meer" als Fischer-Taschenbuch erschienen sind, tragen nicht gerade dazu bei, das Interesse am letztjährigen Literatur-Nobelpreisträger zu wecken. (Gao Xingjian: "Auf dem Meer". Erzählungen. Aus dem Chinesischen übersetzt von Natascha Vittinghoff. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt 2000. 93 S., br., 17,90 DM.)
sus
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gao Xingjian reut frühe Schuld
Daß er sich für einen treulosen Sohn hält, hat man lange vor der sechsten Wiederholung begriffen. Zumal er sich auch als pietätlosen und undankbaren Sohn bezeichnet oder wahlweise als einen nüchternen, egoistischen Menschen, mit einem mal leeren, mal nur von ihm selbst besetzten Herzen. Daß der Ich-Erzähler - ein Schriftsteller Anfang Vierzig - einen ganzen Monolog lang nicht nur die tote Mutter anfleht, sondern zwischendurch auch sich selbst in Du-Form anklagt, stellt die Geduld des Lesers zusätzlich auf die Probe. Daß man aber bei alldem nicht erfährt, warum der prominente Sohn nach über zwanzig Jahren auf einmal die einst ertrunkene, lange vergessene Mutter vor sich sieht, warum er gerade jetzt seine Schuld erkennt und bereut - diesen Mangel mag man dem Autor schließlich nicht mehr nachsehen.
Die Frage nach dem Warum des späten Schuldbekenntnisses hat Gao Xingjian in seiner Erzählung "Die Mutter" (1983) gar nicht gestellt. Der Grund für die radikale Selbstanklage des Ich-Erzählers erschöpft sich in drei Vokabeln: Überarbeitung, Hoffnungslosigkeit, Trostbedürfnis - wobei die Hoffnungslosigkeit schon wieder überwunden ist. Worin diese jedoch bestanden hat und wofür der Sohn jetzt den Trost der Mutter ersehnt, all das steht weder in noch zwischen den Zeilen geschrieben - und ist also nicht einmal als Geheimnis präsent.
Auch die anderen drei "frühen" Erzählungen des Chinesen Xingjian aus den Jahren 1982 bis 1984 (er war damals Anfang Vierzig), die zuerst 1989 in einem taiwanischen Verlag und nun unter dem Titel "Auf dem Meer" als Fischer-Taschenbuch erschienen sind, tragen nicht gerade dazu bei, das Interesse am letztjährigen Literatur-Nobelpreisträger zu wecken. (Gao Xingjian: "Auf dem Meer". Erzählungen. Aus dem Chinesischen übersetzt von Natascha Vittinghoff. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt 2000. 93 S., br., 17,90 DM.)
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der Rezensent mit dem Kürzel "sus" lässt kein gutes Haar an diesem Erzählband. Zu redundant erscheint ihm die Erzählung "Die Mutter", dauernd erfahre man aufs Neue, wie treulos und egozentrisch der Sohn sich selbst findet. Doch darüber, weshalb er nach Jahren nun plötzlich "seine Schuld erkennt", sage der Erzähler nichts. Geradezu unverzeihlich findet dies "sus", dem die Vokabeln "Überarbeitung, Hoffnungslosigkeit, Trostbedürfnis" als Erklärungen einfach nicht genügen. Wenn wenigstens ein Geheimnis zwischen den Zeilen zu erahnen wäre, seufzt "sus", doch nicht einmal das sei der Fall. Auch die anderen drei Erzählungen, auf die der Rezensent nicht näher eingeht, wecken seiner Ansicht nach nicht gerade Neugier auf weitere Werke des "letztjährigen Literatur-Nobelpreisträgers".
© Perlentaucher Medien GmbH
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