Dieser aufsehenerregende Roman aus Ägypten erzählt davon, was es heißt, weder ankommen noch zurückkehren zu können.
Ein Ägypter lebt als Immigrant in London. Er arbeitet in der Wohnraumbehörde eines für seinen hohen Anteil an Einwanderern bekannten Bezirks. Aber anstatt Menschen eine Bleibe zu vermitteln, verzweifelt er an der Bürokratie.
Der Anruf eines Freundes verspricht seinem Leben einen neuen Sinn zu geben. Der Ägypter soll helfen, einen jungen Syrer zu beerdigen, der nach seiner Flucht in London verstarb. Schmerzliche Erinnerungen werden wach, an die eigene Einwanderergeschichte, an die Kindheit als ausgegrenzter koptischer Christ in Kairo
Auf dem Nullmeridian ist ein entlarvender, packender Roman über die Entrechteten unserer Zeit, deren Schicksal Shady Lewis mit diesem unvergesslichen Roman auf ebenso poetische wie eindrucksvolle Weise Gehör verschafft.
Ein Ägypter lebt als Immigrant in London. Er arbeitet in der Wohnraumbehörde eines für seinen hohen Anteil an Einwanderern bekannten Bezirks. Aber anstatt Menschen eine Bleibe zu vermitteln, verzweifelt er an der Bürokratie.
Der Anruf eines Freundes verspricht seinem Leben einen neuen Sinn zu geben. Der Ägypter soll helfen, einen jungen Syrer zu beerdigen, der nach seiner Flucht in London verstarb. Schmerzliche Erinnerungen werden wach, an die eigene Einwanderergeschichte, an die Kindheit als ausgegrenzter koptischer Christ in Kairo
Auf dem Nullmeridian ist ein entlarvender, packender Roman über die Entrechteten unserer Zeit, deren Schicksal Shady Lewis mit diesem unvergesslichen Roman auf ebenso poetische wie eindrucksvolle Weise Gehör verschafft.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Im Zentrum von Shady Lewis' Buch steht steht ein Ich-Erzähler, der, wie der Autor selbst, als koptischer Christ aus Ägypten nach London ausgewandert ist und nun in der Stadtverwaltung arbeitet und Bedürftigen Wohnraum zuteilt, erläutert Rezensentin Julia Baumann. Diese Tätigkeit spielt eine Rolle im Buch, erfahren wir, aber es geht auch um die Diskriminierungserfahrungen, die der Erzähler sowohl, religionsbedingt, in Ägypten, als auch, hautfarbenbedingt, in England machen muss. Außerdem macht sich Lewis laut Baumann über britische Hobby-Ägyptologen lustig und zeigt auch die Verwirrung auf, die im multiethnischen Londoner Alltag oft herrscht, was die Kritikerin authentisch findet. Am Ende bleibt der Erzähler ein Fremder, auch wenn er sich selbst nicht so sehe, meint die Kritikerin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.10.2023Zwischen Ost und West oszillierend
Im Roman "Auf dem Nullmeridian" erzählt Shady Lewis von Tragik und Komik einer Migration
Wie willkürlich Bürokratie und Verwaltung sind, merkt man besonders, wenn Menschen ihren prekären Lebenssituationen schutzlos ausgeliefert bleiben. Etwa bei der Wohnungsvergabe, wenn Mittellose oder psychisch Kranke in Heimen auf die Zuweisung von Wohnraum warten. In London, wo die Wohnungsnot groß ist, müssen Schutzbedürftige in solchen Übergangssituationen - von Lösungen kann keine Rede sein - ausharren, bis die Wohnraumbehörde Nachsicht hat. Eine dieser Personen, die sich nicht um die Menschen, sondern um ihre entpersonalisierten "Akten" kümmern, ist der Ich-Erzähler aus Shady Lewis' Roman "Auf dem Nullmeridian".
Die Erzählung von einer solchen "Akte", dem Vergabeprozess einer Wohnung an die psychisch kranke Frau A., macht aber nur einen kleinen Teil der Erzählung aus. Denn was Lewis schreibt, ist die Migrationsgeschichte des Erzählers, eines koptischen Christen, aus Kairo nach London, der sowohl in Ägypten aufgrund seines Glaubens als auch in England aufgrund seines Aussehens Diskriminierung bis hin zu verbaler und körperlicher Gewalt erfährt. Die Geschichte der Migration selbst bleibt dabei unerwähnt, trotzdem ist sie allgegenwärtig.
Überall finden sich Spuren seiner Vergangenheit aus Kairo. Neben der "Akte" Frau A., mit deren Sprachstörungen nur der Erzähler umgehen kann und die symbolisch für seine neue Arbeit und das Leben in London zu stehen scheint, befasst der Erzähler sich mit einem zweiten Fall, der privater Natur ist. Ghiyath, der Freund von Aiman, eines alten Bekannten des Erzählers aus Kairo, migrierte ebenfalls nach London und verstarb an einem Herzinfarkt. Aiman beauftragt den Erzähler, sich um die Beisetzung in London zu kümmern, die Familie des Toten werde in Kairo eine Totenfeier abhalten.
Mit Humor bringt Lewis das postkoloniale Erbe Englands zum Ausdruck, als der Erzähler den Leichnam im Krankenhaus aufsucht. Ein Mitarbeiter spielt sich als Ägyptologe auf, lässt den Erzähler kaum zu Wort kommen und erklärt auf unangenehmste Weise dem Ägypter dessen eigene Kultur: "Er sah mich gar nicht, ich war für ihn nur ein Dekor in einem pharaonischen Tempel, den er herbeifantasierte, und Ägypten, das er angeblich so gut kannte, war für ihn irgendwann vor fünftausend Jahren stehen geblieben."
Weil man den plötzlichen Tod nicht planen kann, findet Ghiyaths Familie spontan keine Räumlichkeit für die Trauerfeier und weicht auf eine Moschee aus, dessen Dienern der syrische Akzent ihrer Gäste verdächtig vorkommt. Die Polizei, zunächst noch den syrischen Kaffee und das süße Gebäck genießend, verhaftet prompt die gesamte Trauergemeinschaft. Und nachdem Aiman auch noch erklärt hat, die in der Moschee Feiernden seien Ismaeliten, herrscht vollkommene Verwirrung.
Diese Episoden, die mit solcher Leichtigkeit erzählt sind, dass sie schon fast komisch wirken, machen das Herzstück des Romans aus. Lewis' unvermittelte Sprünge mögen willkürlich wirken. Doch man merkt schnell, dass sie sich in die Willkür der Lebensgeschichte des Erzählers einfügen. Sie tun der Authentizität des Romans keinen Abbruch, im Gegenteil: Der Autor, selbst aus einer ägyptischen Familie koptischer Christen stammend, nach London migriert und dort in der Stadtverwaltung tätig, weiß, wovon er erzählt.
Doch in manchen Teilen herrscht blanke Verwirrung, etwa in den philosophischen Überlegungen eines Arbeitskollegen, der (nicht metaphorisch) ausführt, warum alle Iren, Kommunisten, Lesben und Chinesen in London schwarz seien und alle Nichtweißen zwingend Muslime. Andere Stellen, wie etwa das Sinnieren über die funktionale Differenzierung in England, über den "tiefen Glauben an Gebäude", lassen schmunzeln: "Verbrechen ließen sich durch Gefängnisse ausrotten, Krankheiten durch Krankenhäuser, Alte brachte man in Altenheime, Kinder wurden in Kitas und Schulen zugerichtet, Arme in Sozialwohnungen gesteckt." Wenn doch etwas schiefläuft, dann, weil die Betroffenen im falschen Gebäude untergebracht werden.
Ohne seine Fremdheit konkret zu betonen, wird eindrücklich klar, dass der Erzähler sie auch in London nicht loswird. Er geht mit ihr locker um, Rassismus und postkoloniale Ressentiments sind trotzdem allgegenwärtig. Der Erzähler lässt sich etwa einen Bart wachsen ("das war damals gerade Mode"), trinkt keinen Alkohol mehr ("weil ich Magenprobleme hatte"), läuft mit Zahnstochern im Mund herum ("weil mir meine Zahnärztin geraten hatte, ich solle mein Zahnfleisch besser pflegen") und trägt ein Langhemd ("weil es bequem war"). Aber eigentlich geht es darum, die Engländer in ihren Vorurteilen gegenüber einem Ägypter zu bestätigen, statt sie mit seinem koptischen Glauben zu verwirren.
Nicht nur mit seinem Wohnort London, sondern auch mit seiner empfundenen und zugeschriebenen Identität befindet sich der Erzähler auf dem Nullmeridian: in der Schwebe zwischen Ost und West. JULIA BAUMANN
Shady Lewis: "Auf dem Nullmeridian". Roman.
Aus dem Arabischen von Günther Orth. Hoffmann und Campe, Hamburg 2023. 222 S., geb., 24 ,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Roman "Auf dem Nullmeridian" erzählt Shady Lewis von Tragik und Komik einer Migration
Wie willkürlich Bürokratie und Verwaltung sind, merkt man besonders, wenn Menschen ihren prekären Lebenssituationen schutzlos ausgeliefert bleiben. Etwa bei der Wohnungsvergabe, wenn Mittellose oder psychisch Kranke in Heimen auf die Zuweisung von Wohnraum warten. In London, wo die Wohnungsnot groß ist, müssen Schutzbedürftige in solchen Übergangssituationen - von Lösungen kann keine Rede sein - ausharren, bis die Wohnraumbehörde Nachsicht hat. Eine dieser Personen, die sich nicht um die Menschen, sondern um ihre entpersonalisierten "Akten" kümmern, ist der Ich-Erzähler aus Shady Lewis' Roman "Auf dem Nullmeridian".
Die Erzählung von einer solchen "Akte", dem Vergabeprozess einer Wohnung an die psychisch kranke Frau A., macht aber nur einen kleinen Teil der Erzählung aus. Denn was Lewis schreibt, ist die Migrationsgeschichte des Erzählers, eines koptischen Christen, aus Kairo nach London, der sowohl in Ägypten aufgrund seines Glaubens als auch in England aufgrund seines Aussehens Diskriminierung bis hin zu verbaler und körperlicher Gewalt erfährt. Die Geschichte der Migration selbst bleibt dabei unerwähnt, trotzdem ist sie allgegenwärtig.
Überall finden sich Spuren seiner Vergangenheit aus Kairo. Neben der "Akte" Frau A., mit deren Sprachstörungen nur der Erzähler umgehen kann und die symbolisch für seine neue Arbeit und das Leben in London zu stehen scheint, befasst der Erzähler sich mit einem zweiten Fall, der privater Natur ist. Ghiyath, der Freund von Aiman, eines alten Bekannten des Erzählers aus Kairo, migrierte ebenfalls nach London und verstarb an einem Herzinfarkt. Aiman beauftragt den Erzähler, sich um die Beisetzung in London zu kümmern, die Familie des Toten werde in Kairo eine Totenfeier abhalten.
Mit Humor bringt Lewis das postkoloniale Erbe Englands zum Ausdruck, als der Erzähler den Leichnam im Krankenhaus aufsucht. Ein Mitarbeiter spielt sich als Ägyptologe auf, lässt den Erzähler kaum zu Wort kommen und erklärt auf unangenehmste Weise dem Ägypter dessen eigene Kultur: "Er sah mich gar nicht, ich war für ihn nur ein Dekor in einem pharaonischen Tempel, den er herbeifantasierte, und Ägypten, das er angeblich so gut kannte, war für ihn irgendwann vor fünftausend Jahren stehen geblieben."
Weil man den plötzlichen Tod nicht planen kann, findet Ghiyaths Familie spontan keine Räumlichkeit für die Trauerfeier und weicht auf eine Moschee aus, dessen Dienern der syrische Akzent ihrer Gäste verdächtig vorkommt. Die Polizei, zunächst noch den syrischen Kaffee und das süße Gebäck genießend, verhaftet prompt die gesamte Trauergemeinschaft. Und nachdem Aiman auch noch erklärt hat, die in der Moschee Feiernden seien Ismaeliten, herrscht vollkommene Verwirrung.
Diese Episoden, die mit solcher Leichtigkeit erzählt sind, dass sie schon fast komisch wirken, machen das Herzstück des Romans aus. Lewis' unvermittelte Sprünge mögen willkürlich wirken. Doch man merkt schnell, dass sie sich in die Willkür der Lebensgeschichte des Erzählers einfügen. Sie tun der Authentizität des Romans keinen Abbruch, im Gegenteil: Der Autor, selbst aus einer ägyptischen Familie koptischer Christen stammend, nach London migriert und dort in der Stadtverwaltung tätig, weiß, wovon er erzählt.
Doch in manchen Teilen herrscht blanke Verwirrung, etwa in den philosophischen Überlegungen eines Arbeitskollegen, der (nicht metaphorisch) ausführt, warum alle Iren, Kommunisten, Lesben und Chinesen in London schwarz seien und alle Nichtweißen zwingend Muslime. Andere Stellen, wie etwa das Sinnieren über die funktionale Differenzierung in England, über den "tiefen Glauben an Gebäude", lassen schmunzeln: "Verbrechen ließen sich durch Gefängnisse ausrotten, Krankheiten durch Krankenhäuser, Alte brachte man in Altenheime, Kinder wurden in Kitas und Schulen zugerichtet, Arme in Sozialwohnungen gesteckt." Wenn doch etwas schiefläuft, dann, weil die Betroffenen im falschen Gebäude untergebracht werden.
Ohne seine Fremdheit konkret zu betonen, wird eindrücklich klar, dass der Erzähler sie auch in London nicht loswird. Er geht mit ihr locker um, Rassismus und postkoloniale Ressentiments sind trotzdem allgegenwärtig. Der Erzähler lässt sich etwa einen Bart wachsen ("das war damals gerade Mode"), trinkt keinen Alkohol mehr ("weil ich Magenprobleme hatte"), läuft mit Zahnstochern im Mund herum ("weil mir meine Zahnärztin geraten hatte, ich solle mein Zahnfleisch besser pflegen") und trägt ein Langhemd ("weil es bequem war"). Aber eigentlich geht es darum, die Engländer in ihren Vorurteilen gegenüber einem Ägypter zu bestätigen, statt sie mit seinem koptischen Glauben zu verwirren.
Nicht nur mit seinem Wohnort London, sondern auch mit seiner empfundenen und zugeschriebenen Identität befindet sich der Erzähler auf dem Nullmeridian: in der Schwebe zwischen Ost und West. JULIA BAUMANN
Shady Lewis: "Auf dem Nullmeridian". Roman.
Aus dem Arabischen von Günther Orth. Hoffmann und Campe, Hamburg 2023. 222 S., geb., 24 ,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Mit Humor bringt Lewis das postkoloniale Erbe Englands zum Ausdruck.« Julia Baumann Frankfurter Allgemeine Zeitung