Der erste Band erzählender Prosa aus dem Nachlaß mit bisher 170 unveröffentlichten Texten zeigt die durch die Jahrzehnte ungebrochene Fabulierfähigkeit Wolfgang Koeppens. Enthalten sind u. a. frühe Versuche aus dem Jahr 1923 bis hin zu Im Hochsitz, der letzten veröffentlichten Erzählung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.08.2000Liebe durch dünnstes Glas
Wolfgang Koeppens Prosa aus dem Nachlaß · Von Thomas Wirtz
"Ich bin Schriftsteller von Beruf und leugne, es sei ein Beruf." War dieser Leugner von Beruf überhaupt noch ein Schriftsteller? Wolfgang Koeppen gilt als der berühmteste Verstummer der bundesrepublikanischen Literaturgeschichte, früh rückte in seine Vita die achselzuckende Angabe ein: Mehr nicht erschienen. In den dreißiger Jahren waren zwei Romane in einem jüdischen Verlag erschienen, bei Bruno Cassirer in Berlin, denen von der Zeit übel mitgespielt wurde. In der Verdunkelung, die folgte, war Koeppen ausschließlich mit der Sorge beschäftigt, sich berufsfern "unterzustellen", beim Film und in der behördlich unbemerkten Anonymität.
Als er 1953 mit den "Tauben im Gras" aus der Vergessenheit wiederauftauchte, schien ein zweiter Anfang möglich: Ganz nah umkreiste er in den fünfziger Jahren die Adenauer-Gesellschaft, stand ihrem Verdrängen im Wege und zählte die Opfer. Seine melancholischen Helden flüchteten aus dem Bonner Treibhaus mit einem Sprung von der Rheinbrücke oder begegneten dem Tod in Rom. In dieser Welt war ihnen nicht mehr zu helfen, sie nahmen die Schuld auf sich. Koeppens Reiseberichte aus den sechziger Jahren - nach Rußland, Frankreich und in die Vereinigten Staaten - wichen diesem deutschen Pandämonium aus, zogen sich in die Ferne zurück, igelten sich in der Distanz ein. Am Ende dieser Dienstfahrten stand das Schweigen, vielberedet von der Kritik.
Diesen Tod zu Lebzeiten machte man zu einem Skandal, und man lastete ihn Koeppen an. Gerüchte von einer Schreibhemmung machten die Runde, zuerst besorgt hinter vorgehaltener Hand weitergetragen, schließlich mit medizinischer Kühle in vielen Interviews bedauert, als sei dem Berufsunfähigen nicht mehr zu helfen. Gesprächspartner gaben unbestellte gute Ratschläge, der höfliche Koeppen zerknirschte, bessern konnte er sich nicht. 1976 erinnerte noch einmal ein schmales Bändchen an seine fortgesetzte Existenz, die Gesammelten Werke zogen zehn Jahre später zu seinem achtzigsten Geburtstag den Schlußstrich: Mehr als diese sechs Bände war nicht zu erwarten. Der Schriftsteller Koeppen hatte Geschichte gemacht, und nun war er selbst Geschichte geworden. 1993 empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode.
Und jetzt dieser Band, nach einem Briefzitat an seinen Verleger Siegfried Unseld "Auf dem Phantasieroß" betitelt, als glaubte er sich selbst schon heruntergefallen: fast 700 Seiten Prosa aus dem Nachlaß, 170 weitgehend unbekannte Stücke aus sieben Jahrzehnten, ein einziger, von Alfred Estermann sorgfältig betreuter "Monolog gegen die Welt". Der Beruf des Schriftstellers erlaubt keine Kündigung, und so hat Wolfgang Koeppen seine Ablage gefüllt, ohne an Leserschaft noch zu glauben. Dieser Band, umfangreicher als jeder seiner schmalen Romane, ist deshalb ein Ereignis in zweifachem Sinn: Er widerlegt die These vom Verstummen, weil Koeppen mit dem Schreiben als einem "düsteren Selbstgespräch" bitterernst machte. Und er breitet in seiner gedrängten Summe eine Anatomie dieses Autors aus, der von seinen Themen nicht lassen konnte, weil ihm ein anderes Leben nicht zur Verfügung stand. Wolfgang Koeppen und dieser Band sind eines, sie bilden eine Werkgemeinschaft. Wo die Gesammelten Werke den Erfolg behaupten und vorgeben, der geschriebene Satz haben die Selbstzweifel am Schlußpunkt abgeschüttelt, fängt der Nachlaß wieder von vorne an.
Die ganz frühen Texte beeindrucken fast schon wieder durch ihre Unoriginalität, ihre Koeppen-Ferne. Friedhofsstimmung breitet sich faltenreich aus, wie sie schwieriger Jugend erwartbar gut ansteht, eine süße Schwärze, die am Moder schnüffelt und sich an der Vergänglichkeit berauscht. Koeppen verläßt das bedrückende Greifswald früh, mehr als die Geburt hatte er dieser Stadt nicht zu verdanken. Der Nachlaß zeichnet diese Übersiedlung nach Berlin in den Papieren auf: Der zugereiste Großstädter schreibt Großstadtfeuilletons, kleine Auftritte kleiner Angestellter auf der Asphaltbühne. Es sind anonyme Typen, wie sie das Straßencafé und die Nachrichten aus aller Welt hervorbringen, die hier schneller Karriere machen, als sich ein Teller waschen läßt. Ihr Schicksal ist nur eine Gaslaternenepisode, leuchtet kurz auf und verliert sich zwischen dem Bürgersteiggewimmel.
Koeppen hat später behauptet: "Mein Zuhause waren die großen Städte." Der Satz stimmt nur, wenn man alle Assoziationen an Geborgenheit aus diesem Zuhause streicht. Koeppen hat gefroren und gehungert in Berlin, und diese Entbehrungen haben auch seine Arbeiten asketisch ausgedünnt. Sie wirken oft blutleer, angestrengt in ihrer zugespitzten Erfindung: literarische Beschaffungsmaßnahmen. Interessanter als die fehlende Autorenstimme ist ihr Briefkopf: "Wichmannstr. 18", "Kaiser-Allee 202", "Kurfürstenstr. 111" steht über den Geschichten, Wegmarken einer Odyssee durch möblierte Hinterhofzimmer. Oft liegen Absagen von Redaktionen bei, denen sich die Arbeiten vergebens angeboten haben. Dem Berufsschriftsteller tragen sie keinen Lohn ein, und auch postumer Lorbeer ist mit ihnen nicht zu haben.
Plötzlich aber steht zwischen diesen gesichtslosen Zeilen "Der Tod meiner Mutter Maria", und in einem Moment kann man sich diesen Nachlaßband nicht mehr aus seinem Regal wegdenken. Ende 1925 starb Koeppens Mutter, und fünf Monate später schreibt der aus Berlin zurückgeflohene Sohn diese Selbstabrechnung, die so schwer wie ein Grabstein ist. Es ist der Nachruf eines "ewig Schiffbruchleidenden" auf das eigene und fremde Leben, ein graberdeschwarzes "Sterbebild", das Hoffnung nur aus dem unmöglichen Literatenerfolg erwartet: "Und ich will Dir eine Totenfeier sein / Und meine Dichtung dessen Schein". Koeppen hat seine eheliche Geburt ein Leben lang erlitten und sich selbst zum Vorwurf gemacht: "Dann kam ein Sturz. Dr. med. Reinhold Halben (Privatdozent an der Augenklinik) - ich glaube, ein interessanter Menschentyp beherrschte sie und gab ihr ein Kind: Mich." Rücksichtslos arbeitet diese Erinnerung gegen sich und findet genau den Punkt, wo sie mit Nadelspitzen den anhaltenden Schmerz hervorrufen kann.
Koeppen hat in solchen Arbeiten sein Thema gefunden, auch wenn die Zeitungsanekdote immer wieder dazwischendrängt. Er gleicht den barocken Anatomiedarstellungen eines Vesalius, wo Modelle sich in den anmutigsten Stellungen die Haut vom Leib reißen. Denn diese grausamen Entblößer, die dem Betrachter ihre Eingeweide entgegenhalten, ziehen sich mit ihrer Pose zugleich in die Schmerzlosigkeit zurück. Es sind Statuen aus Fleisch, verfremdetes Leben, das seine Innereien ganz kühl seziert. Koeppen übernimmt dieses ästhetische Schaustellen, weil seine aufgerissene Autobiographie damit in mitleidlose Ferne rückt. Nichts an der Totenklage ist peinlich, die Diagnose des eigenen Sterbens alles andere als obszön: Es ist großartige Literatur, die das ausgeweidete Ich im Schutz ästhetischer Distanz läßt.
Eine ganze Reihe früher Texte übt sich in diesem autobiographischen, verdeckt entblößenden Schreiben. Vor allem der Sybille-Komplex nennt das Leiden beim Eigennamen. Der mittellose Koeppen hatte sich Anfang der dreißiger Jahre in die Schauspielerin Sybille Schloß unglücklich verliebt und dies als angemessene Unerträglichkeit jeder Beziehung erkannt. Sein erster Roman "Eine unglückliche Liebe" hat daraus schon literarisches Kapital geschlagen und "die Wand aus dünnstem Glas . . . zwischen ihnen" beschrieben. Sie ist die Klagemauer, die Koeppens Nachlaßprosa weiter aufschichtet, um Liebe als ein notwendiges "Unglücklichsein" vorzuführen. Dieser Petrarkismus, der das Messer mit Vorliebe am eigenen Gedärm wetzt, geht einher mit einem bisher unterschätzten Motiv: "und im übrigen sind wir ja schwul". Homosexualität ist das wiederkehrende Mittel, die Liebe zwischen Mann und Frau zu vereiteln, ein gewissermaßen natürlicher Beweis ihrer Unvereinbarkeit. Beides weiß sie auf das wunderbar grausamste zu verbinden: ein Leben zu zerstören - wie dasjenige von Keetenheuves Frau im Treibhaus - und es im faszinierten Abstand zu halten. Homosexualität ist die Bande, über die ein Dritter vergeblich angespielt werden soll. Daß Liebesnot erfinderisch macht, wußte der Schriftsteller Koeppen selbstquälerisch zu nutzen.
Den nachhaltigsten Eindruck in diesem Band hinterlassen die abgebrochenen Romanprojekte. Koeppen hat in seinen Interviews mit vielen Andeutungen an ihrem Geheimnis gearbeitet. Die "Jawang-Gesellschaft" etwa, 1937 als dritter Roman begonnen, sei im holländischen Exil "angefangen", "halb vollendet", "gerettet", "verbrannt" worden. Nun ist dieses Spekulationsobjekt auf fast hundert Seiten nachzulesen, ein schweres metaphysisches Bekenntnis, ein Dekadenzroman aus der Joseph-Conrad-Welt. Nie war Koeppen weiter von seinem episodischen Vernetzungsstil entfernt als in diesem Glaubensding. Dieser Roman steht nicht nur in der Biographie Koeppens auf einer Kippe, sondern beendet auch mit seinen letztmals durchgeführten Motiven - Seefahrt, Exotismus, Abenteurertum - das europamüde Frühwerk. Nach 1945 rückt Koeppen näher an die Bundesrepublik. Fliehen kann man von dort nur zeitlich zurück, in die Jugend.
Nachlässe gleichen nicht eingehaltenen Versprechen: Der Autor beginnt eine große Form und endet enttäuschend im Abbruch. Einige dieser Verluste aus der späteren, der schweigenden Zeit lassen sich jetzt im Nachlesen verschmerzen: Die Grotesken mit ihren tanzenden Bären und fliegenden Kochtöpfen überzeugen nur selten, ihr Lachen ist zu bitter, der Sinn zu offensichtlich. Auch die mythologischen Wiederbelebungen wirken flach, wenn ihnen der Nachkriegsalltag als Gegengewicht fehlt. Schmerzlich aber berührt der Verlust von Koeppens autobiographischem Zwischenkriegsroman. Hier ist Koeppen in jedem Sinne ganz nahe bei sich, ein Erinnerungskünstler, der sein Leben neu erschafft.
"Der Tod ist zuverlässig, auch mich wird er mal besuchen. Im Leben wartet man auf viel und es kommt nie; aber der Tod kommt bestimmt." Dieser Satz steht in Koeppens erster Arbeit von 1923. Als sich am 15. März 1996 der lebenslang erwartete Besuch einstellt, macht Koeppen den Fehler, an diesem Tag zu Hause zu sein.
Wolfgang Koeppen: "Auf dem Phantasieroß". Prosa aus dem Nachlaß. Herausgegeben von Alfred Estermann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 779 S., geb., 64,- DM.
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Wolfgang Koeppens Prosa aus dem Nachlaß · Von Thomas Wirtz
"Ich bin Schriftsteller von Beruf und leugne, es sei ein Beruf." War dieser Leugner von Beruf überhaupt noch ein Schriftsteller? Wolfgang Koeppen gilt als der berühmteste Verstummer der bundesrepublikanischen Literaturgeschichte, früh rückte in seine Vita die achselzuckende Angabe ein: Mehr nicht erschienen. In den dreißiger Jahren waren zwei Romane in einem jüdischen Verlag erschienen, bei Bruno Cassirer in Berlin, denen von der Zeit übel mitgespielt wurde. In der Verdunkelung, die folgte, war Koeppen ausschließlich mit der Sorge beschäftigt, sich berufsfern "unterzustellen", beim Film und in der behördlich unbemerkten Anonymität.
Als er 1953 mit den "Tauben im Gras" aus der Vergessenheit wiederauftauchte, schien ein zweiter Anfang möglich: Ganz nah umkreiste er in den fünfziger Jahren die Adenauer-Gesellschaft, stand ihrem Verdrängen im Wege und zählte die Opfer. Seine melancholischen Helden flüchteten aus dem Bonner Treibhaus mit einem Sprung von der Rheinbrücke oder begegneten dem Tod in Rom. In dieser Welt war ihnen nicht mehr zu helfen, sie nahmen die Schuld auf sich. Koeppens Reiseberichte aus den sechziger Jahren - nach Rußland, Frankreich und in die Vereinigten Staaten - wichen diesem deutschen Pandämonium aus, zogen sich in die Ferne zurück, igelten sich in der Distanz ein. Am Ende dieser Dienstfahrten stand das Schweigen, vielberedet von der Kritik.
Diesen Tod zu Lebzeiten machte man zu einem Skandal, und man lastete ihn Koeppen an. Gerüchte von einer Schreibhemmung machten die Runde, zuerst besorgt hinter vorgehaltener Hand weitergetragen, schließlich mit medizinischer Kühle in vielen Interviews bedauert, als sei dem Berufsunfähigen nicht mehr zu helfen. Gesprächspartner gaben unbestellte gute Ratschläge, der höfliche Koeppen zerknirschte, bessern konnte er sich nicht. 1976 erinnerte noch einmal ein schmales Bändchen an seine fortgesetzte Existenz, die Gesammelten Werke zogen zehn Jahre später zu seinem achtzigsten Geburtstag den Schlußstrich: Mehr als diese sechs Bände war nicht zu erwarten. Der Schriftsteller Koeppen hatte Geschichte gemacht, und nun war er selbst Geschichte geworden. 1993 empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode.
Und jetzt dieser Band, nach einem Briefzitat an seinen Verleger Siegfried Unseld "Auf dem Phantasieroß" betitelt, als glaubte er sich selbst schon heruntergefallen: fast 700 Seiten Prosa aus dem Nachlaß, 170 weitgehend unbekannte Stücke aus sieben Jahrzehnten, ein einziger, von Alfred Estermann sorgfältig betreuter "Monolog gegen die Welt". Der Beruf des Schriftstellers erlaubt keine Kündigung, und so hat Wolfgang Koeppen seine Ablage gefüllt, ohne an Leserschaft noch zu glauben. Dieser Band, umfangreicher als jeder seiner schmalen Romane, ist deshalb ein Ereignis in zweifachem Sinn: Er widerlegt die These vom Verstummen, weil Koeppen mit dem Schreiben als einem "düsteren Selbstgespräch" bitterernst machte. Und er breitet in seiner gedrängten Summe eine Anatomie dieses Autors aus, der von seinen Themen nicht lassen konnte, weil ihm ein anderes Leben nicht zur Verfügung stand. Wolfgang Koeppen und dieser Band sind eines, sie bilden eine Werkgemeinschaft. Wo die Gesammelten Werke den Erfolg behaupten und vorgeben, der geschriebene Satz haben die Selbstzweifel am Schlußpunkt abgeschüttelt, fängt der Nachlaß wieder von vorne an.
Die ganz frühen Texte beeindrucken fast schon wieder durch ihre Unoriginalität, ihre Koeppen-Ferne. Friedhofsstimmung breitet sich faltenreich aus, wie sie schwieriger Jugend erwartbar gut ansteht, eine süße Schwärze, die am Moder schnüffelt und sich an der Vergänglichkeit berauscht. Koeppen verläßt das bedrückende Greifswald früh, mehr als die Geburt hatte er dieser Stadt nicht zu verdanken. Der Nachlaß zeichnet diese Übersiedlung nach Berlin in den Papieren auf: Der zugereiste Großstädter schreibt Großstadtfeuilletons, kleine Auftritte kleiner Angestellter auf der Asphaltbühne. Es sind anonyme Typen, wie sie das Straßencafé und die Nachrichten aus aller Welt hervorbringen, die hier schneller Karriere machen, als sich ein Teller waschen läßt. Ihr Schicksal ist nur eine Gaslaternenepisode, leuchtet kurz auf und verliert sich zwischen dem Bürgersteiggewimmel.
Koeppen hat später behauptet: "Mein Zuhause waren die großen Städte." Der Satz stimmt nur, wenn man alle Assoziationen an Geborgenheit aus diesem Zuhause streicht. Koeppen hat gefroren und gehungert in Berlin, und diese Entbehrungen haben auch seine Arbeiten asketisch ausgedünnt. Sie wirken oft blutleer, angestrengt in ihrer zugespitzten Erfindung: literarische Beschaffungsmaßnahmen. Interessanter als die fehlende Autorenstimme ist ihr Briefkopf: "Wichmannstr. 18", "Kaiser-Allee 202", "Kurfürstenstr. 111" steht über den Geschichten, Wegmarken einer Odyssee durch möblierte Hinterhofzimmer. Oft liegen Absagen von Redaktionen bei, denen sich die Arbeiten vergebens angeboten haben. Dem Berufsschriftsteller tragen sie keinen Lohn ein, und auch postumer Lorbeer ist mit ihnen nicht zu haben.
Plötzlich aber steht zwischen diesen gesichtslosen Zeilen "Der Tod meiner Mutter Maria", und in einem Moment kann man sich diesen Nachlaßband nicht mehr aus seinem Regal wegdenken. Ende 1925 starb Koeppens Mutter, und fünf Monate später schreibt der aus Berlin zurückgeflohene Sohn diese Selbstabrechnung, die so schwer wie ein Grabstein ist. Es ist der Nachruf eines "ewig Schiffbruchleidenden" auf das eigene und fremde Leben, ein graberdeschwarzes "Sterbebild", das Hoffnung nur aus dem unmöglichen Literatenerfolg erwartet: "Und ich will Dir eine Totenfeier sein / Und meine Dichtung dessen Schein". Koeppen hat seine eheliche Geburt ein Leben lang erlitten und sich selbst zum Vorwurf gemacht: "Dann kam ein Sturz. Dr. med. Reinhold Halben (Privatdozent an der Augenklinik) - ich glaube, ein interessanter Menschentyp beherrschte sie und gab ihr ein Kind: Mich." Rücksichtslos arbeitet diese Erinnerung gegen sich und findet genau den Punkt, wo sie mit Nadelspitzen den anhaltenden Schmerz hervorrufen kann.
Koeppen hat in solchen Arbeiten sein Thema gefunden, auch wenn die Zeitungsanekdote immer wieder dazwischendrängt. Er gleicht den barocken Anatomiedarstellungen eines Vesalius, wo Modelle sich in den anmutigsten Stellungen die Haut vom Leib reißen. Denn diese grausamen Entblößer, die dem Betrachter ihre Eingeweide entgegenhalten, ziehen sich mit ihrer Pose zugleich in die Schmerzlosigkeit zurück. Es sind Statuen aus Fleisch, verfremdetes Leben, das seine Innereien ganz kühl seziert. Koeppen übernimmt dieses ästhetische Schaustellen, weil seine aufgerissene Autobiographie damit in mitleidlose Ferne rückt. Nichts an der Totenklage ist peinlich, die Diagnose des eigenen Sterbens alles andere als obszön: Es ist großartige Literatur, die das ausgeweidete Ich im Schutz ästhetischer Distanz läßt.
Eine ganze Reihe früher Texte übt sich in diesem autobiographischen, verdeckt entblößenden Schreiben. Vor allem der Sybille-Komplex nennt das Leiden beim Eigennamen. Der mittellose Koeppen hatte sich Anfang der dreißiger Jahre in die Schauspielerin Sybille Schloß unglücklich verliebt und dies als angemessene Unerträglichkeit jeder Beziehung erkannt. Sein erster Roman "Eine unglückliche Liebe" hat daraus schon literarisches Kapital geschlagen und "die Wand aus dünnstem Glas . . . zwischen ihnen" beschrieben. Sie ist die Klagemauer, die Koeppens Nachlaßprosa weiter aufschichtet, um Liebe als ein notwendiges "Unglücklichsein" vorzuführen. Dieser Petrarkismus, der das Messer mit Vorliebe am eigenen Gedärm wetzt, geht einher mit einem bisher unterschätzten Motiv: "und im übrigen sind wir ja schwul". Homosexualität ist das wiederkehrende Mittel, die Liebe zwischen Mann und Frau zu vereiteln, ein gewissermaßen natürlicher Beweis ihrer Unvereinbarkeit. Beides weiß sie auf das wunderbar grausamste zu verbinden: ein Leben zu zerstören - wie dasjenige von Keetenheuves Frau im Treibhaus - und es im faszinierten Abstand zu halten. Homosexualität ist die Bande, über die ein Dritter vergeblich angespielt werden soll. Daß Liebesnot erfinderisch macht, wußte der Schriftsteller Koeppen selbstquälerisch zu nutzen.
Den nachhaltigsten Eindruck in diesem Band hinterlassen die abgebrochenen Romanprojekte. Koeppen hat in seinen Interviews mit vielen Andeutungen an ihrem Geheimnis gearbeitet. Die "Jawang-Gesellschaft" etwa, 1937 als dritter Roman begonnen, sei im holländischen Exil "angefangen", "halb vollendet", "gerettet", "verbrannt" worden. Nun ist dieses Spekulationsobjekt auf fast hundert Seiten nachzulesen, ein schweres metaphysisches Bekenntnis, ein Dekadenzroman aus der Joseph-Conrad-Welt. Nie war Koeppen weiter von seinem episodischen Vernetzungsstil entfernt als in diesem Glaubensding. Dieser Roman steht nicht nur in der Biographie Koeppens auf einer Kippe, sondern beendet auch mit seinen letztmals durchgeführten Motiven - Seefahrt, Exotismus, Abenteurertum - das europamüde Frühwerk. Nach 1945 rückt Koeppen näher an die Bundesrepublik. Fliehen kann man von dort nur zeitlich zurück, in die Jugend.
Nachlässe gleichen nicht eingehaltenen Versprechen: Der Autor beginnt eine große Form und endet enttäuschend im Abbruch. Einige dieser Verluste aus der späteren, der schweigenden Zeit lassen sich jetzt im Nachlesen verschmerzen: Die Grotesken mit ihren tanzenden Bären und fliegenden Kochtöpfen überzeugen nur selten, ihr Lachen ist zu bitter, der Sinn zu offensichtlich. Auch die mythologischen Wiederbelebungen wirken flach, wenn ihnen der Nachkriegsalltag als Gegengewicht fehlt. Schmerzlich aber berührt der Verlust von Koeppens autobiographischem Zwischenkriegsroman. Hier ist Koeppen in jedem Sinne ganz nahe bei sich, ein Erinnerungskünstler, der sein Leben neu erschafft.
"Der Tod ist zuverlässig, auch mich wird er mal besuchen. Im Leben wartet man auf viel und es kommt nie; aber der Tod kommt bestimmt." Dieser Satz steht in Koeppens erster Arbeit von 1923. Als sich am 15. März 1996 der lebenslang erwartete Besuch einstellt, macht Koeppen den Fehler, an diesem Tag zu Hause zu sein.
Wolfgang Koeppen: "Auf dem Phantasieroß". Prosa aus dem Nachlaß. Herausgegeben von Alfred Estermann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 779 S., geb., 64,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main