Ist das Leben ein ewiger Balanceakt? Darius Kopp drohte an seinem Unglück zu zerbrechen. Drei Jahre sind vergangen, seit seine Frau Flora, seine große Liebe, gestorben ist. Der IT-Experte ist mit Floras Asche durch Europa gereist und schließlich auf Sizilien gelandet. Dort taucht eines Tages unverhofft seine 17-jährige Nichte auf. Das Mädchen ist allein unterwegs und weicht ihm nicht mehr von der Seite. Lorelei braucht Darius' Hilfe - und er die ihre. Mit ihr geht er zurück nach Berlin. Und lernt, sein Glück daran zu messen, was man durch eigenen Willen verändern kann - und was nicht.
buecher-magazin.deDarius Kopp hat immer noch nicht zur Ruhe gefunden, immer noch ist er auf dem Weg, auf der Suche?…?aber nach was? Ein Rückblick: Darius Kopp, ein gutmütiger Mann, der vielleicht etwas blauäugig durchs Leben geht, wird unmittelbarer mit voller Wucht aus der Bahn geworfen, als sich seine Frau Flora das Leben nimmt. Im letzten Teil der Trilogie folgen wir dem Mann nach Sizilien, wo er die Asche seiner Frau auf dem Ätna/in den Ätna streuen möchte. Doch auch das gelingt ihm nicht so recht. Er schlittert von einem Ereignis zum nächsten, bis er auf seine 17-jährige Nichte trifft, die ebenso durch das Leben strudelt wie er. Gemeinsam kehren sie nach Berlin zurück und versuchen, dem Leben eine neue Wendung zu geben. Terézia Moras Sprache ist erneut wortgewaltig und fordert den Leser, die Erzählperspektive wechselt ständig, Wörter werden wieder gestrichen … Nicht nur inhaltlich wird der Leser so auf eine harte Probe gestellt, und das ist durchaus positiv gemeint. Die Büchner-Preisträgerin spielt mit der Sprache, zieht den Leser mit in Darius’ Abgrund und zeigt, dass sie zu Recht als eine der bedeutendsten Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur gehandelt wird.
Mit „Auf dem Seil“ endet Darius Kopps langer Weg, wohin er führt, sei nicht verraten.
© BÜCHERmagazin, Tanja Lindauer (lin)
Mit „Auf dem Seil“ endet Darius Kopps langer Weg, wohin er führt, sei nicht verraten.
© BÜCHERmagazin, Tanja Lindauer (lin)
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.09.2019LITERATUR
Am Rand des Kraters
Zum Abschluss der Darius-Kopp-Trilogie schickt Terézia Mora
ihren Computer-Nerd an den Nullpunkt seines Lebens
VON HELMUT BÖTTIGER
Auch IT-Spezialisten stürzen schnell ab. Darius Kopp, der Held in Terézia Moras Roman, hätte sich ein paar Jahre vorher wohl nicht träumen lassen, dass er sich jetzt in Catania als Pizzabäcker durchschlägt, in der Wohnung eines todkranken alten Deutschen Unterschlupf finden muss und jeden Cent umdreht. Die Autorin hat mit dieser Figur bereits großen Erfolg gehabt, sie hat mit ihm 2013 den „Deutschen Buchpreis“ erhalten und 2018 nicht zuletzt durch ihn auch den Büchnerpreis. Darius Kopp ist ein Medium, das die Zeiten durchdringt und schon durch seinen Beruf für die absolute Gegenwart steht.
„Auf dem Seil“ ist der letzte Band einer Trilogie, die diesem Experten für drahtlose Netzwerke gilt, und er steht in gewisser Weise auch für einen Balanceakt der Autorin. Man muss die beiden vorangegangenen Romane „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ und „Das Ungeheuer“ nicht unbedingt gelesen haben, um die aktuellen Wendungen seiner Geschichte mitverfolgen zu können. Aber um die Fallhöhe zu ermessen, auf der sich das Ganze bewegt, wäre es doch von Vorteil. Wer die ersten beiden Bücher nicht kennt, wird sie sich nach diesem dritten Band auf jeden Fall noch vornehmen. Obwohl in „Auf dem Seil“ die Vorgeschichte Darius Kopps, wie in einem mit Andeutungen und Geheimnissen operierenden Krimi, natürlich langsam enthüllt wird: seine hoch bezahlte Tätigkeit als einziger Vertreter der US-Firma Fidelis Wireless in Berlin, der Suizid seiner Frau Flora und der Abbruch sämtlicher Beziehungen danach, seine anschließende rastlose Tour durch Osteuropa mit der Asche seiner Frau. Wir treffen ihn nun am Beginn des Romans auf Sizilien an, wo er scheinbar endgültig gestrandet ist. Hier findet er auch den Ort, an dem er die sterblichen Überreste seiner Frau bestatten kann: am Rand eines Kraters im Gebiet des Ätna, bei einem vom Blitz getroffenen Baum – es ist das symbolische Bild, nach dem er jahrelang gesucht hat.
Darius Kopp ist ein merkwürdiger Held, einer von denen, die zu sofortiger Identifikation einladen, ist er nicht: fahl und dick, ein Nerd, von dessen Innenleben man nur indirekt etwas erfährt in den einfachen, aber raffinierten Sätzen Terézia Moras, in denen unvermittelt von der ersten in die dritten Person gewechselt werden kann und wieder zurück. Das schafft eine flirrende, spannungsreiche Atmosphäre, transportiert ein Gefühl des Nicht-Greifbaren und Unsicheren. Darius Kopp ist ein zeitgenössischer Wiedergänger von Robert Musils Figur Ulrich in dessen Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – auch er ein Ingenieur, durch den die Zeitstimmungen hindurchgehen und der die Entwicklungstendenzen um sich herum ratlos zu fassen versucht. Die unverwechselbar ironisch-schnippische, einzelne Details scharf heraushebende Erzählhaltung Moras hat auch etwas mit solchen literarischen Spiegelmotiven zu tun. Das Absurde sammelt sich in unwesentlichen, leicht zu übersehenden Einzelheiten und wird wie durch eine Lupe vergrößert.
Eine höhere Ironie scheint sich auch in der Form dieses dritten Teils der Trilogie zu zeigen. Während Terézia Mora in den ersten beiden Büchern durchaus mehrspurig vorging, mit abrupten Wechseln der Perspektiven und in „Das Ungeheuer“ sogar mit grafischen Experimenten, ist „Auf dem Seil“ nun linear und realistisch durcherzählt, ganz nah an den Figuren und der Handlung. Darius Kopp selbst allerdings hat etwas Irritierendes, Vielschichtiges. Der Leser wird hineingezogen in Vorgänge, die aus einer Innenwelt kommen, die sich zu entziehen scheint.
Der Held wird meist mit Vor- und Nachname benannt, wie eine Spielfigur. Das markiert Distanz, er ist Teil einer Versuchsanordnung, die erst nach und nach kenntlich wird. Auf dem tiefsten Punkt, nach dem Verlust seiner Frau, dem Kappen sämtlicher Bezüge, ohne Geld als Outlaw in Catania gestrandet und nach drei Jahren orientierungsloser Irrfahrten sagt Darius Kopp zu Beginn des Buches: „Ich kann nicht anders, als glücklich zu sein.“
Das Leben als IT-Ingenieur hat er weit hinter sich gelassen. Und nachdem er die Begräbnisstätte für seine Frau gefunden hat, steht er an einem Nullpunkt, der vielleicht auch einen Neuanfang markiert. Langsam nimmt er seine Umwelt stärker wahr, freut sich auf den Sonnenaufgang und die Abende auf der Terrasse mit dem Geruch des Meeres, und das Pizzabacken tagsüber erledigt er gewissenhaft und sogar mit einem immer größer werdenden Interesse für Geschmäcker und Nuancen.
Es kommt jedoch etwas dazwischen, ein Einbruch aus der Vergangenheit. Zufällig, als Kopp noch als Fahrer bei geführten Ätnatouren arbeitet, stößt er in einer Touristengruppe auf seine Schwester Marlene. Obwohl er jeglichen Kontakt mit seiner Familie abgebrochen hat und auch nicht näher auf Marlene eingeht, setzt das etwas in Gang: Einige Monate später stöbert ihn deren Tochter auf, die anspielungsreich „Lorelei“ heißt, von zu Hause ausgerissen ist und von keinem der längst getrennten Elternteile mehr unterstützt wird. Sie sucht bei Kopp für eine unbestimmte Zeit Zuflucht und ist, wie sich dann herausstellt, 17 Jahre alt und schwanger.
Durch die Familie, die er hinter sich gelassen und die seine Frau Flora einmal als „Terrorgemeinschaft“ bezeichnet hat, gerät er in neue Verwicklungen. Lore muss sich ständig erbrechen, doch die Bewegung, die durch sie in Kopps Leben kommt, führt zu einem unerwarteten Effekt: Kopp fühlt sich plötzlich wieder für jemanden verantwortlich, spürt so etwas wie Bindung, und darin besteht die ungewöhnliche Entwicklungsgeschichte dieses Romans. Abseits des gesellschaftlichen Normalzustands stößt Kopp auf Wärmequellen, die er zuerst kaum wahrnimmt.
Der verschrobene alte Deutsche gehört dazu, der sich an einem verkommenen Strand eine improvisierte Hütte baut, der unkomplizierte, aus Afrika stammende Kollege in der Pizzeria, den er dann auch bei sich übernachten lässt – und dass in seiner Nichte Lore etwas verborgen liegt, wonach er sich sehnt, ist angesichts ihres haltlosen Zustands auch für ihn selbst kaum zu ahnen. Terézia Mora gelingen präzise, dichte Schilderungen von sozialen Milieus, die ansonsten in der deutschen Gegenwartsliteratur selten vorkommen. Und als Darius Kopp nach langer Zeit mit Lore wieder nach Berlin kommt, um ihr für eine Übergangszeit zu helfen, geraten Szenerien ins Visier, welche die aktuelle gesellschaftliche Situation unaufdringlich, aber markant, schräg und gewitzt beleuchten.
Der Netzwerkexperte und Digitalmanager, wie er die Welt aus der Perspektive von ganz unten sieht, am finanziellen Abgrund: diese Konstellation führt zu einer illusions- und schonungslosen Schilderung der Überlebensstrategien im postbürgerlichen Kapitalismus, mit makabren und überraschenden Pointen.
Terézia Mora hat ein Talent dafür, unverwechselbare Figuren zu entwerfen, und sie ist eine Expertin für Zwischenzonen, für Identitäten jenseits aller Zuweisungen, für die Funken, die man aus dem Zusammenprall unterschiedlichster Gegenstände und Materialien schlagen kann. „Ich könnte auf einem Seil schlafen, wenn es sein müsste“, sagt Darius Kopp einmal – und gegen Ende dieses unberechenbaren Romans weiß man, dass in dieser schwindelerregenden Botschaft auch eine Hoffnung liegen kann.
Terézia Mora: Auf dem Seil. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2019, 368 Seiten, 24 Euro.
Wie Musils Ulrich ist auch
Darius jemand, durch den die
Zeitstimmungen hindurchgehen
Zeitweilig arbeitet der ehemalige
IT-Ingenieur als Fahrer für
geführte Ätna-Touren
Der Netzwerker sieht
plötzlich die Welt aus der
Perspektive von ganz unten
In Sizilien, am Fuße des Ätna gestrandet, sucht Darius Kopp nach einem Neustart seines Lebens.
Foto: getty images
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Am Rand des Kraters
Zum Abschluss der Darius-Kopp-Trilogie schickt Terézia Mora
ihren Computer-Nerd an den Nullpunkt seines Lebens
VON HELMUT BÖTTIGER
Auch IT-Spezialisten stürzen schnell ab. Darius Kopp, der Held in Terézia Moras Roman, hätte sich ein paar Jahre vorher wohl nicht träumen lassen, dass er sich jetzt in Catania als Pizzabäcker durchschlägt, in der Wohnung eines todkranken alten Deutschen Unterschlupf finden muss und jeden Cent umdreht. Die Autorin hat mit dieser Figur bereits großen Erfolg gehabt, sie hat mit ihm 2013 den „Deutschen Buchpreis“ erhalten und 2018 nicht zuletzt durch ihn auch den Büchnerpreis. Darius Kopp ist ein Medium, das die Zeiten durchdringt und schon durch seinen Beruf für die absolute Gegenwart steht.
„Auf dem Seil“ ist der letzte Band einer Trilogie, die diesem Experten für drahtlose Netzwerke gilt, und er steht in gewisser Weise auch für einen Balanceakt der Autorin. Man muss die beiden vorangegangenen Romane „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ und „Das Ungeheuer“ nicht unbedingt gelesen haben, um die aktuellen Wendungen seiner Geschichte mitverfolgen zu können. Aber um die Fallhöhe zu ermessen, auf der sich das Ganze bewegt, wäre es doch von Vorteil. Wer die ersten beiden Bücher nicht kennt, wird sie sich nach diesem dritten Band auf jeden Fall noch vornehmen. Obwohl in „Auf dem Seil“ die Vorgeschichte Darius Kopps, wie in einem mit Andeutungen und Geheimnissen operierenden Krimi, natürlich langsam enthüllt wird: seine hoch bezahlte Tätigkeit als einziger Vertreter der US-Firma Fidelis Wireless in Berlin, der Suizid seiner Frau Flora und der Abbruch sämtlicher Beziehungen danach, seine anschließende rastlose Tour durch Osteuropa mit der Asche seiner Frau. Wir treffen ihn nun am Beginn des Romans auf Sizilien an, wo er scheinbar endgültig gestrandet ist. Hier findet er auch den Ort, an dem er die sterblichen Überreste seiner Frau bestatten kann: am Rand eines Kraters im Gebiet des Ätna, bei einem vom Blitz getroffenen Baum – es ist das symbolische Bild, nach dem er jahrelang gesucht hat.
Darius Kopp ist ein merkwürdiger Held, einer von denen, die zu sofortiger Identifikation einladen, ist er nicht: fahl und dick, ein Nerd, von dessen Innenleben man nur indirekt etwas erfährt in den einfachen, aber raffinierten Sätzen Terézia Moras, in denen unvermittelt von der ersten in die dritten Person gewechselt werden kann und wieder zurück. Das schafft eine flirrende, spannungsreiche Atmosphäre, transportiert ein Gefühl des Nicht-Greifbaren und Unsicheren. Darius Kopp ist ein zeitgenössischer Wiedergänger von Robert Musils Figur Ulrich in dessen Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – auch er ein Ingenieur, durch den die Zeitstimmungen hindurchgehen und der die Entwicklungstendenzen um sich herum ratlos zu fassen versucht. Die unverwechselbar ironisch-schnippische, einzelne Details scharf heraushebende Erzählhaltung Moras hat auch etwas mit solchen literarischen Spiegelmotiven zu tun. Das Absurde sammelt sich in unwesentlichen, leicht zu übersehenden Einzelheiten und wird wie durch eine Lupe vergrößert.
Eine höhere Ironie scheint sich auch in der Form dieses dritten Teils der Trilogie zu zeigen. Während Terézia Mora in den ersten beiden Büchern durchaus mehrspurig vorging, mit abrupten Wechseln der Perspektiven und in „Das Ungeheuer“ sogar mit grafischen Experimenten, ist „Auf dem Seil“ nun linear und realistisch durcherzählt, ganz nah an den Figuren und der Handlung. Darius Kopp selbst allerdings hat etwas Irritierendes, Vielschichtiges. Der Leser wird hineingezogen in Vorgänge, die aus einer Innenwelt kommen, die sich zu entziehen scheint.
Der Held wird meist mit Vor- und Nachname benannt, wie eine Spielfigur. Das markiert Distanz, er ist Teil einer Versuchsanordnung, die erst nach und nach kenntlich wird. Auf dem tiefsten Punkt, nach dem Verlust seiner Frau, dem Kappen sämtlicher Bezüge, ohne Geld als Outlaw in Catania gestrandet und nach drei Jahren orientierungsloser Irrfahrten sagt Darius Kopp zu Beginn des Buches: „Ich kann nicht anders, als glücklich zu sein.“
Das Leben als IT-Ingenieur hat er weit hinter sich gelassen. Und nachdem er die Begräbnisstätte für seine Frau gefunden hat, steht er an einem Nullpunkt, der vielleicht auch einen Neuanfang markiert. Langsam nimmt er seine Umwelt stärker wahr, freut sich auf den Sonnenaufgang und die Abende auf der Terrasse mit dem Geruch des Meeres, und das Pizzabacken tagsüber erledigt er gewissenhaft und sogar mit einem immer größer werdenden Interesse für Geschmäcker und Nuancen.
Es kommt jedoch etwas dazwischen, ein Einbruch aus der Vergangenheit. Zufällig, als Kopp noch als Fahrer bei geführten Ätnatouren arbeitet, stößt er in einer Touristengruppe auf seine Schwester Marlene. Obwohl er jeglichen Kontakt mit seiner Familie abgebrochen hat und auch nicht näher auf Marlene eingeht, setzt das etwas in Gang: Einige Monate später stöbert ihn deren Tochter auf, die anspielungsreich „Lorelei“ heißt, von zu Hause ausgerissen ist und von keinem der längst getrennten Elternteile mehr unterstützt wird. Sie sucht bei Kopp für eine unbestimmte Zeit Zuflucht und ist, wie sich dann herausstellt, 17 Jahre alt und schwanger.
Durch die Familie, die er hinter sich gelassen und die seine Frau Flora einmal als „Terrorgemeinschaft“ bezeichnet hat, gerät er in neue Verwicklungen. Lore muss sich ständig erbrechen, doch die Bewegung, die durch sie in Kopps Leben kommt, führt zu einem unerwarteten Effekt: Kopp fühlt sich plötzlich wieder für jemanden verantwortlich, spürt so etwas wie Bindung, und darin besteht die ungewöhnliche Entwicklungsgeschichte dieses Romans. Abseits des gesellschaftlichen Normalzustands stößt Kopp auf Wärmequellen, die er zuerst kaum wahrnimmt.
Der verschrobene alte Deutsche gehört dazu, der sich an einem verkommenen Strand eine improvisierte Hütte baut, der unkomplizierte, aus Afrika stammende Kollege in der Pizzeria, den er dann auch bei sich übernachten lässt – und dass in seiner Nichte Lore etwas verborgen liegt, wonach er sich sehnt, ist angesichts ihres haltlosen Zustands auch für ihn selbst kaum zu ahnen. Terézia Mora gelingen präzise, dichte Schilderungen von sozialen Milieus, die ansonsten in der deutschen Gegenwartsliteratur selten vorkommen. Und als Darius Kopp nach langer Zeit mit Lore wieder nach Berlin kommt, um ihr für eine Übergangszeit zu helfen, geraten Szenerien ins Visier, welche die aktuelle gesellschaftliche Situation unaufdringlich, aber markant, schräg und gewitzt beleuchten.
Der Netzwerkexperte und Digitalmanager, wie er die Welt aus der Perspektive von ganz unten sieht, am finanziellen Abgrund: diese Konstellation führt zu einer illusions- und schonungslosen Schilderung der Überlebensstrategien im postbürgerlichen Kapitalismus, mit makabren und überraschenden Pointen.
Terézia Mora hat ein Talent dafür, unverwechselbare Figuren zu entwerfen, und sie ist eine Expertin für Zwischenzonen, für Identitäten jenseits aller Zuweisungen, für die Funken, die man aus dem Zusammenprall unterschiedlichster Gegenstände und Materialien schlagen kann. „Ich könnte auf einem Seil schlafen, wenn es sein müsste“, sagt Darius Kopp einmal – und gegen Ende dieses unberechenbaren Romans weiß man, dass in dieser schwindelerregenden Botschaft auch eine Hoffnung liegen kann.
Terézia Mora: Auf dem Seil. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2019, 368 Seiten, 24 Euro.
Wie Musils Ulrich ist auch
Darius jemand, durch den die
Zeitstimmungen hindurchgehen
Zeitweilig arbeitet der ehemalige
IT-Ingenieur als Fahrer für
geführte Ätna-Touren
Der Netzwerker sieht
plötzlich die Welt aus der
Perspektive von ganz unten
In Sizilien, am Fuße des Ätna gestrandet, sucht Darius Kopp nach einem Neustart seines Lebens.
Foto: getty images
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2019Der Sturz ist mit drin im Lebenspaket
Wer fünfzig ist, kann alles werden: Terézia Mora führt ihren Helden Darius Kopp zurück ins Leben.
Von Tilman Spreckelsen
Darius Kopp, fast fünfzig, schreibt sich eine Liste mit zwei Spalten. Links, unter der lakonischen Überschrift "Fort", hält er die Stichworte "Ehefrau", "Wohnung (Adresse noch da)", "Alle Gegenstände, die wir besaßen", "Alle Ersparnisse und Versicherungen", "Alle Zeugnisse im Original" und schließlich "Alle Jobs" fest - eine erschütternde Reihe von Verlusten, die für die Leser von Terézia Moras bisherigen Romanen um den IT-Spezialisten Kopp sogar noch erschütternder ist, weil dessen Ehefrau Flora nicht einfach nur fort ist, sondern sich umgebracht hat. Der 2013 erschienene Roman "Das Ungeheuer" schilderte die ziellose Fahrt des verwitweten Kopp durch Süd- und Osteuropa, im Gepäck Floras Asche und einen Laptop mit ihren oft rabenschwarzen Tagebuchnotizen.
Nun, zwei Handlungsjahre später, zu Beginn von "Auf dem Seil", dem gerade erschienenen Folgeroman, hat sich Kopp auf Sizilien eingerichtet. Er hat Floras Asche auf dem Ätna verstreut und sich mit der Hotelbesitzerin Gabriella zusammengetan, für die er Hausmeisterarbeiten erledigt. Ob er so glücklich ist, wie er gern behauptet, steht dahin, zur Ruhe kommt er jedenfalls nicht, obwohl er sich den Ansprüchen, die andere auf ihn erheben, geschickt entzieht - so verlässt er wiederum ein Jahr später die zunehmend mit ihm unzufriedene Gabriella, arbeitet in Catania als Pizzabäcker und wohnt im Stadthaus des deutschen Auswanderers "Itzehoe", das er mit seinem Kollegen Matteo, eigentlich Metin, aus Algerien teilt. Der Umzug dorthin ist nur der Auftakt einer Reihe weiterer, ausgelöst durch die Ankunft von Kopps Nichte Lorelei in Catania. Sie quartiert sich in Itzehoes Wohnung ein, obwohl sich ihr Onkel seit Jahren von seiner Familie ferngehalten, jeden Kontakt geradezu verweigert hatte, und als sich herausstellt, dass ihre ständige Übelkeit aus einer Schwangerschaft resultiert, von der ihre Mutter aber nichts wissen soll, ist Kopp plötzlich in einer Rolle, die einzunehmen er zuvor konsequent vermieden hatte: Er muss sich kümmern.
Moras Handlungskonstrukt bewährt sich dabei so gut, weil in der Gestalt jener Lorelei gleich zwei Problembündel an Kopp herangetragen werden. Indem er sich der Nichte annimmt, stellt er sich zugleich den komplizierten Familienverhältnissen, die von Streit und Trennungen, von häufigen Partnerwechseln und der resultierenden Instabilität vor allem für die betroffenen Kinder gezeichnet sind. Die naheliegende Reaktion Kopps darauf, der totale Bruch mit den anderen, lässt sich aber nicht durchhalten, wenn man auf diese Weise in die Pflicht genommen wird, so dass sich die wenigen harschen Worte, die dieser grundfriedliche Mensch im Verlauf dieses Romans verliert, immer an Verwandte richten, die zu dieser Art der Zuwendung nicht bereit sind.
Loreleis fordernde Anwesenheit aber bringt - neben dieser Wandlung Kopps - noch etwas anderes mit sich: Ihr Onkel reist mit ihr zurück nach Berlin, was er jahrelang vermieden hatte, und kommt mit der Nichte jeweils für einige Tage bei Freunden unter oder in kurzfristig gemieteten Wohnungen, so dass ein Panorama der unterschiedlichen Hauptstadtbezirke entsteht, entworfen jeweils aus der prekären Perspektive mittelloser Mieter. Dabei erweist sich nicht nur, auf wen aus dem alten Umfeld noch Verlass ist und auf wen nicht, geschildert wird nicht nur das komplizierte Geflecht von Dankbarkeit und den Grenzen dessen, was man als Besucher oder Untermieter alles hinnehmen muss.
Vor den Augen des Lesers öffnet sich Kopp auch Schritt für Schritt wieder all dem, wovor er geflohen war, er knüpft an Ereignisse und Beziehungen an, die im ersten, ihm gewidmeten Roman der Trilogie, "Der einzige Mann auf dem Kontinent", entwickelt werden, und auf den letzten Seiten des aktuellen Buchs ist noch immer unklar, was aus den knapp vierzigtausend Euro wird, die Kopp zu Beginn des ersten Romans ausgehändigt worden waren.
Man könnte auch sagen: Kopp zwingt sich, die fest zugekniffenen Augen zu öffnen. Wie er sich an das herantastet, was schmerzt, und wie er dabei zurückzuckt, wenn ein Gedanke in die falsche Richtung weist, in eine nämlich, in der das Unerträgliche lauert, die Erinnerung an Floras Selbstmord, all dies entwirft Mora meisterlich, mit großer Sicherheit und zugleich so elegant, dass man den Titel des Romans nicht nur auf die von Unsicherheit geprägte Situation der Hauptfigur anwenden möchte, sondern auch auf die Schreibbewegung der Autorin.
Denn die souverän - bisweilen mitten im Satz - frei wechselnde Erzählperspektive, die schon in den beiden früheren Romanen zu erkennen war, bewährt sich hier aufs schönste, weil das Verfahren deutlich macht, wie sehr Kopp Flora internalisiert hat. Kopp wird von außen betrachtet und unversehens von innen, das "Er" und das "Ich" verschwimmen, aber auch das "Du" meldet sich und wird angesprochen, was quälend ist und schön und schließlich in die Erkenntnis mündet, dass es Bereiche in Kopps Leben gibt, die immer von Flora besetzt sein werden, auch wenn der Schmerz, die Trauer um sie nicht mehr übermächtig sein werden. "Seitdem du mich verlassen hast, war das mit drin im Paket", heißt es einmal: "Dass ich irgendwo auf die Erde falle und dort bleibe. Auch ich schwebte im Grenzbereich zwischen Leben und Tod, nicht nur du! Mehr noch, ich tue es immer noch, und du?"
Aus all dem erwächst das Bedürfnis, reinen Tisch zu machen, Bilanz zu ziehen, und da gibt es auch die Habenseite. Die andere Spalte von Kopps Liste jedenfalls nennt unter der Rubrik "Da" auch: "Mutter, Vater, Schwester, Nichte", "Rolf, Halldor, Muck", "der Laptop", "Das Geld (auf Sperrkonto)", "der Anwalt", "Der Lebenslauf, den du gestalten kannst, wie du willst" und schließlich "4 Recommandations", Empfehlungen also von alten Freunden oder Geschäftspartnern, was angesichts von Kopps desolater beruflichen Situation einigermaßen erstaunlich ist.
Geht das auf? Tote Ehefrau gegen lebende Nichte, verlorene Eigentumswohnung gegen die hilfreichen Freunde Rolf, Halldor und Muck? Natürlich nicht, für eine Bilanz ist das Aufrechnen von Schmerz gegen Glück denkbar ungeeignet. Dass aber am Ende Kopp überhaupt dazu in der Lage ist, die Habenseite wahrzunehmen, ist mehr als ein erster Schritt. "Wir sind 50", sagt sein Freund Rolf zu ihm, "aus uns kann noch alles werden."
Terézia Mora: "Auf dem Seil". Roman.
Luchterhand Verlag, München 2019. 368 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer fünfzig ist, kann alles werden: Terézia Mora führt ihren Helden Darius Kopp zurück ins Leben.
Von Tilman Spreckelsen
Darius Kopp, fast fünfzig, schreibt sich eine Liste mit zwei Spalten. Links, unter der lakonischen Überschrift "Fort", hält er die Stichworte "Ehefrau", "Wohnung (Adresse noch da)", "Alle Gegenstände, die wir besaßen", "Alle Ersparnisse und Versicherungen", "Alle Zeugnisse im Original" und schließlich "Alle Jobs" fest - eine erschütternde Reihe von Verlusten, die für die Leser von Terézia Moras bisherigen Romanen um den IT-Spezialisten Kopp sogar noch erschütternder ist, weil dessen Ehefrau Flora nicht einfach nur fort ist, sondern sich umgebracht hat. Der 2013 erschienene Roman "Das Ungeheuer" schilderte die ziellose Fahrt des verwitweten Kopp durch Süd- und Osteuropa, im Gepäck Floras Asche und einen Laptop mit ihren oft rabenschwarzen Tagebuchnotizen.
Nun, zwei Handlungsjahre später, zu Beginn von "Auf dem Seil", dem gerade erschienenen Folgeroman, hat sich Kopp auf Sizilien eingerichtet. Er hat Floras Asche auf dem Ätna verstreut und sich mit der Hotelbesitzerin Gabriella zusammengetan, für die er Hausmeisterarbeiten erledigt. Ob er so glücklich ist, wie er gern behauptet, steht dahin, zur Ruhe kommt er jedenfalls nicht, obwohl er sich den Ansprüchen, die andere auf ihn erheben, geschickt entzieht - so verlässt er wiederum ein Jahr später die zunehmend mit ihm unzufriedene Gabriella, arbeitet in Catania als Pizzabäcker und wohnt im Stadthaus des deutschen Auswanderers "Itzehoe", das er mit seinem Kollegen Matteo, eigentlich Metin, aus Algerien teilt. Der Umzug dorthin ist nur der Auftakt einer Reihe weiterer, ausgelöst durch die Ankunft von Kopps Nichte Lorelei in Catania. Sie quartiert sich in Itzehoes Wohnung ein, obwohl sich ihr Onkel seit Jahren von seiner Familie ferngehalten, jeden Kontakt geradezu verweigert hatte, und als sich herausstellt, dass ihre ständige Übelkeit aus einer Schwangerschaft resultiert, von der ihre Mutter aber nichts wissen soll, ist Kopp plötzlich in einer Rolle, die einzunehmen er zuvor konsequent vermieden hatte: Er muss sich kümmern.
Moras Handlungskonstrukt bewährt sich dabei so gut, weil in der Gestalt jener Lorelei gleich zwei Problembündel an Kopp herangetragen werden. Indem er sich der Nichte annimmt, stellt er sich zugleich den komplizierten Familienverhältnissen, die von Streit und Trennungen, von häufigen Partnerwechseln und der resultierenden Instabilität vor allem für die betroffenen Kinder gezeichnet sind. Die naheliegende Reaktion Kopps darauf, der totale Bruch mit den anderen, lässt sich aber nicht durchhalten, wenn man auf diese Weise in die Pflicht genommen wird, so dass sich die wenigen harschen Worte, die dieser grundfriedliche Mensch im Verlauf dieses Romans verliert, immer an Verwandte richten, die zu dieser Art der Zuwendung nicht bereit sind.
Loreleis fordernde Anwesenheit aber bringt - neben dieser Wandlung Kopps - noch etwas anderes mit sich: Ihr Onkel reist mit ihr zurück nach Berlin, was er jahrelang vermieden hatte, und kommt mit der Nichte jeweils für einige Tage bei Freunden unter oder in kurzfristig gemieteten Wohnungen, so dass ein Panorama der unterschiedlichen Hauptstadtbezirke entsteht, entworfen jeweils aus der prekären Perspektive mittelloser Mieter. Dabei erweist sich nicht nur, auf wen aus dem alten Umfeld noch Verlass ist und auf wen nicht, geschildert wird nicht nur das komplizierte Geflecht von Dankbarkeit und den Grenzen dessen, was man als Besucher oder Untermieter alles hinnehmen muss.
Vor den Augen des Lesers öffnet sich Kopp auch Schritt für Schritt wieder all dem, wovor er geflohen war, er knüpft an Ereignisse und Beziehungen an, die im ersten, ihm gewidmeten Roman der Trilogie, "Der einzige Mann auf dem Kontinent", entwickelt werden, und auf den letzten Seiten des aktuellen Buchs ist noch immer unklar, was aus den knapp vierzigtausend Euro wird, die Kopp zu Beginn des ersten Romans ausgehändigt worden waren.
Man könnte auch sagen: Kopp zwingt sich, die fest zugekniffenen Augen zu öffnen. Wie er sich an das herantastet, was schmerzt, und wie er dabei zurückzuckt, wenn ein Gedanke in die falsche Richtung weist, in eine nämlich, in der das Unerträgliche lauert, die Erinnerung an Floras Selbstmord, all dies entwirft Mora meisterlich, mit großer Sicherheit und zugleich so elegant, dass man den Titel des Romans nicht nur auf die von Unsicherheit geprägte Situation der Hauptfigur anwenden möchte, sondern auch auf die Schreibbewegung der Autorin.
Denn die souverän - bisweilen mitten im Satz - frei wechselnde Erzählperspektive, die schon in den beiden früheren Romanen zu erkennen war, bewährt sich hier aufs schönste, weil das Verfahren deutlich macht, wie sehr Kopp Flora internalisiert hat. Kopp wird von außen betrachtet und unversehens von innen, das "Er" und das "Ich" verschwimmen, aber auch das "Du" meldet sich und wird angesprochen, was quälend ist und schön und schließlich in die Erkenntnis mündet, dass es Bereiche in Kopps Leben gibt, die immer von Flora besetzt sein werden, auch wenn der Schmerz, die Trauer um sie nicht mehr übermächtig sein werden. "Seitdem du mich verlassen hast, war das mit drin im Paket", heißt es einmal: "Dass ich irgendwo auf die Erde falle und dort bleibe. Auch ich schwebte im Grenzbereich zwischen Leben und Tod, nicht nur du! Mehr noch, ich tue es immer noch, und du?"
Aus all dem erwächst das Bedürfnis, reinen Tisch zu machen, Bilanz zu ziehen, und da gibt es auch die Habenseite. Die andere Spalte von Kopps Liste jedenfalls nennt unter der Rubrik "Da" auch: "Mutter, Vater, Schwester, Nichte", "Rolf, Halldor, Muck", "der Laptop", "Das Geld (auf Sperrkonto)", "der Anwalt", "Der Lebenslauf, den du gestalten kannst, wie du willst" und schließlich "4 Recommandations", Empfehlungen also von alten Freunden oder Geschäftspartnern, was angesichts von Kopps desolater beruflichen Situation einigermaßen erstaunlich ist.
Geht das auf? Tote Ehefrau gegen lebende Nichte, verlorene Eigentumswohnung gegen die hilfreichen Freunde Rolf, Halldor und Muck? Natürlich nicht, für eine Bilanz ist das Aufrechnen von Schmerz gegen Glück denkbar ungeeignet. Dass aber am Ende Kopp überhaupt dazu in der Lage ist, die Habenseite wahrzunehmen, ist mehr als ein erster Schritt. "Wir sind 50", sagt sein Freund Rolf zu ihm, "aus uns kann noch alles werden."
Terézia Mora: "Auf dem Seil". Roman.
Luchterhand Verlag, München 2019. 368 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Terézia Mora hat ein Talent dafür, unverwechselbare Figuren zu entwerfen, und sie ist eine Expertin für Zwischenzonen, für Identitäten jenseits aller Zuweisungen.« Helmut Böttiger / Süddeutsche Zeitung