Ein junger Mann reist zur Beerdigung seines Großvaters in eine kleine griechische Stadt und begegnet dort: seiner Mutter. Dieser atmosphärisch dichte, sprachlich fein gearbeitete Roman einer deutsch-griechischen Familie entführt den Leser in den Sommer und ans Meer - und in die Abgründe und Hoffnungen einer Liebe.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002Retusche am Familienbild
Zielflughafen Saloniki: Andreas Schäfer geht auf Griechenlandreise / Von Burkhard Scherer
So viel ist unstrittig: Panajotis' Lebensmotti waren "Milch. Und für die Haut Nivea!" sowie "Gesundheit! Durchsetzungskraft! Geduld!" Fast alles andere aber steht jetzt, wo er tot ist, zur Disposition: sein Charakter, sein Haus, der Zusammenhalt der verbliebenen Familie. Markos, der das alles erzählt, hat von dem Ableben seines Großvaters durch einen Anruf seiner Mutter Dimitra erfahren, ein Tod im eigenen Haus im gesegneten Alter von mehr als achtzig Jahren in den Armen der Tochter. Und ein Tod in fast zweitausend Kilometer Entfernung, in der Nähe von Saloniki. Panajotis' Söhne, der Kellner Jorgos und der Internist Makis, wohnen in Hamburg, wo auch ihr Vater mal gearbeitet hat, als Krankenpfleger. Der Enkel Markos wohnt in Berlin. Sie alle machen sich nun auf den Weg nach Messara, zur Beerdigung des Patriarchen, in drei verschiedenen Flugzeugen mit Zielflughafen Saloniki.
Was sie eint und trennt, ist, daß sie etwas zu verschweigen haben. Markos ist nicht mehr der vielversprechende, sondern der abgebrochene Jurastudent und nun Teilhaber eines Kurierdienstes. Makis, der erfolgreiche Internist, hat seine zwei erwachsenen Kinder so weit aus der Hand verloren, daß an deren Teilnahme bei der Beerdigung ihres Großvaters gar nicht zu denken ist. Und Jorgos hat als statusmäßiges Schlußlicht noch eine Rechnung in unbekannter Höhe mit seinen privilegierteren Geschwistern offen. Als der in Polohemd und Jogginghose in Saloniki landet, hat sein Neffe Markos gerade einen japanischen Kleinwagen für sie beide geliehen und für Onkel Makis samt Frau, die erst am nächsten Tag erwartet werden, einen Mercedes 230 C reserviert. Und er hat Angst "davor, daß nach Panajotis' Tod auch noch anderes geschehen könnte, was nicht mehr rückgängig zu machen ist".
Die Angst ist berechtigt. Eineinhalb Tage später, bei der Totenmesse für den Großvater, stellt Markos fest: "Die Verbundenheit zwischen uns existiert nicht mehr, die Ordnung hat sich aufgelöst." Dazu bedurfte es keines Eklats oder spektakulärer Szenen, sondern nur des Zusammenseins an einem Ort und den dort verbreiteten, nicht allen bekannten Informationen oder auch nur unwahr beantworteten Nachfragen, die neue Distanz schaffen zwischen dem Fragenden und dem Befragten. So kann Jorgos es nicht lassen, darauf hinzuweisen, daß der Verblichene auch zu Lebzeiten seiner mittlerweile lange verstorbenen Gattin Evdokia durchaus anderen Damen leiblich zugetan war, bisweilen in Hör- und Sichtweite seiner hier versammelten Kinder.
Und Dimitra soll Auskunft geben, wie es denn mit ihr und den Männern so laufe, wo ihr Mann, Markos' Vater, doch schon so lange tot sei wie der Junge alt: siebenundzwanzig Jahre. Auskunft darüber aber kann sie sich selbst kaum geben. Statt dessen berät sie mit ihrem Athener Büro Landsleute aus dem Kreis der Besserverdienenden bei der Gestaltung ihrer Wohnungen und Geschäftsräume, schließlich hatte sie einmal ein paar Semester Innenarchitektur in Hannover studiert. Ihre Gestaltungsvorschläge tendieren zur Moderne - daß die Klientel die Entwürfe regelmäßig durch eine unterschiedliche Anzahl dorischer Säulen zumindest teilgraecisiert sehen will, erträgt sie inzwischen fast stoisch, das schon, aber nicht neugierige Nachfragen nach "Freunden".
Die Geschichte, die Andreas Schäfer hier erzählt, ist die einer Standardsituation, ein Familientreffen mit Folgen. Wie er das macht, ist herausragend. Nichts daran wirkt forciert oder auf Effekt getrimmt, wobei der Stoff dazu reichlich Gelegenheit geboten hätte, bei den eingesprenkelten Reminiszenzen an früheres Familienleben etwa, bei Markos' Nachmittag auf der einsamen Insel mit der Jugendliebe Evi und dem von Onkel Makis entwendeten Motorboot "Evdokia II". Da rechnet bei deren Rückkehr sogar Markos' Mutter damit, daß es dort zu mehr gekommen sei als zum Tauchen oder Schwimmen. Daß sie sich darin irrt, produziert dann aber an anderer Stelle und im Präsens einen melancholischen Stich, als Evi mit dem Kind ihres jetzigen Mannes auf dem Arm bei der Beerdigung auftaucht. Das heißt, Andreas Schäfer erzählt mit großer Disziplin und Konsistenz, und wo er ins Detail geht, evozieren diese Einzelheiten - im Gegensatz zu anderen Wortartisten, wo diese mit Hölzchen und Stöckchen beliebig ein Geschichtchen auf unterste Romanlänge strecken müssen - tragfähig Bilder und Stimmungen.
"Auf dem Weg nach Messara" ist auch eine deutsch-griechische Geschichte, die lebendige Menschen in die Häuser auf den Touristenpostkarten plaziert, die sich in diesem Fall noch der Diskussion mit den mindestens ebenso lebendigen Griechen stellen müssen, ob sich nicht die Europäische Union an ihrem Land als Wiege der Demokratie orientieren solle, statt ständig den gegenteiligen Aufruf zu formulieren, und ob nicht auch sie fänden, daß man eigentlich nur hier leben könne.
Andreas Schäfer ist deutsch-griechischer Abstammung, und so mag es sein, daß sich sein Erstling nahe an seiner Erfahrung bewegt. Es wäre schade, wenn er sich mit diesem gelungenen Debüt schon leergeschrieben hätte.
Andreas Schäfer: "Auf dem Weg nach Messara". Roman. Alexander Fest Verlag, Berlin 2002. 187 S., geb., 17,90.
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Zielflughafen Saloniki: Andreas Schäfer geht auf Griechenlandreise / Von Burkhard Scherer
So viel ist unstrittig: Panajotis' Lebensmotti waren "Milch. Und für die Haut Nivea!" sowie "Gesundheit! Durchsetzungskraft! Geduld!" Fast alles andere aber steht jetzt, wo er tot ist, zur Disposition: sein Charakter, sein Haus, der Zusammenhalt der verbliebenen Familie. Markos, der das alles erzählt, hat von dem Ableben seines Großvaters durch einen Anruf seiner Mutter Dimitra erfahren, ein Tod im eigenen Haus im gesegneten Alter von mehr als achtzig Jahren in den Armen der Tochter. Und ein Tod in fast zweitausend Kilometer Entfernung, in der Nähe von Saloniki. Panajotis' Söhne, der Kellner Jorgos und der Internist Makis, wohnen in Hamburg, wo auch ihr Vater mal gearbeitet hat, als Krankenpfleger. Der Enkel Markos wohnt in Berlin. Sie alle machen sich nun auf den Weg nach Messara, zur Beerdigung des Patriarchen, in drei verschiedenen Flugzeugen mit Zielflughafen Saloniki.
Was sie eint und trennt, ist, daß sie etwas zu verschweigen haben. Markos ist nicht mehr der vielversprechende, sondern der abgebrochene Jurastudent und nun Teilhaber eines Kurierdienstes. Makis, der erfolgreiche Internist, hat seine zwei erwachsenen Kinder so weit aus der Hand verloren, daß an deren Teilnahme bei der Beerdigung ihres Großvaters gar nicht zu denken ist. Und Jorgos hat als statusmäßiges Schlußlicht noch eine Rechnung in unbekannter Höhe mit seinen privilegierteren Geschwistern offen. Als der in Polohemd und Jogginghose in Saloniki landet, hat sein Neffe Markos gerade einen japanischen Kleinwagen für sie beide geliehen und für Onkel Makis samt Frau, die erst am nächsten Tag erwartet werden, einen Mercedes 230 C reserviert. Und er hat Angst "davor, daß nach Panajotis' Tod auch noch anderes geschehen könnte, was nicht mehr rückgängig zu machen ist".
Die Angst ist berechtigt. Eineinhalb Tage später, bei der Totenmesse für den Großvater, stellt Markos fest: "Die Verbundenheit zwischen uns existiert nicht mehr, die Ordnung hat sich aufgelöst." Dazu bedurfte es keines Eklats oder spektakulärer Szenen, sondern nur des Zusammenseins an einem Ort und den dort verbreiteten, nicht allen bekannten Informationen oder auch nur unwahr beantworteten Nachfragen, die neue Distanz schaffen zwischen dem Fragenden und dem Befragten. So kann Jorgos es nicht lassen, darauf hinzuweisen, daß der Verblichene auch zu Lebzeiten seiner mittlerweile lange verstorbenen Gattin Evdokia durchaus anderen Damen leiblich zugetan war, bisweilen in Hör- und Sichtweite seiner hier versammelten Kinder.
Und Dimitra soll Auskunft geben, wie es denn mit ihr und den Männern so laufe, wo ihr Mann, Markos' Vater, doch schon so lange tot sei wie der Junge alt: siebenundzwanzig Jahre. Auskunft darüber aber kann sie sich selbst kaum geben. Statt dessen berät sie mit ihrem Athener Büro Landsleute aus dem Kreis der Besserverdienenden bei der Gestaltung ihrer Wohnungen und Geschäftsräume, schließlich hatte sie einmal ein paar Semester Innenarchitektur in Hannover studiert. Ihre Gestaltungsvorschläge tendieren zur Moderne - daß die Klientel die Entwürfe regelmäßig durch eine unterschiedliche Anzahl dorischer Säulen zumindest teilgraecisiert sehen will, erträgt sie inzwischen fast stoisch, das schon, aber nicht neugierige Nachfragen nach "Freunden".
Die Geschichte, die Andreas Schäfer hier erzählt, ist die einer Standardsituation, ein Familientreffen mit Folgen. Wie er das macht, ist herausragend. Nichts daran wirkt forciert oder auf Effekt getrimmt, wobei der Stoff dazu reichlich Gelegenheit geboten hätte, bei den eingesprenkelten Reminiszenzen an früheres Familienleben etwa, bei Markos' Nachmittag auf der einsamen Insel mit der Jugendliebe Evi und dem von Onkel Makis entwendeten Motorboot "Evdokia II". Da rechnet bei deren Rückkehr sogar Markos' Mutter damit, daß es dort zu mehr gekommen sei als zum Tauchen oder Schwimmen. Daß sie sich darin irrt, produziert dann aber an anderer Stelle und im Präsens einen melancholischen Stich, als Evi mit dem Kind ihres jetzigen Mannes auf dem Arm bei der Beerdigung auftaucht. Das heißt, Andreas Schäfer erzählt mit großer Disziplin und Konsistenz, und wo er ins Detail geht, evozieren diese Einzelheiten - im Gegensatz zu anderen Wortartisten, wo diese mit Hölzchen und Stöckchen beliebig ein Geschichtchen auf unterste Romanlänge strecken müssen - tragfähig Bilder und Stimmungen.
"Auf dem Weg nach Messara" ist auch eine deutsch-griechische Geschichte, die lebendige Menschen in die Häuser auf den Touristenpostkarten plaziert, die sich in diesem Fall noch der Diskussion mit den mindestens ebenso lebendigen Griechen stellen müssen, ob sich nicht die Europäische Union an ihrem Land als Wiege der Demokratie orientieren solle, statt ständig den gegenteiligen Aufruf zu formulieren, und ob nicht auch sie fänden, daß man eigentlich nur hier leben könne.
Andreas Schäfer ist deutsch-griechischer Abstammung, und so mag es sein, daß sich sein Erstling nahe an seiner Erfahrung bewegt. Es wäre schade, wenn er sich mit diesem gelungenen Debüt schon leergeschrieben hätte.
Andreas Schäfer: "Auf dem Weg nach Messara". Roman. Alexander Fest Verlag, Berlin 2002. 187 S., geb., 17,90
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Andreas Nentwich bespricht einen seiner Ansicht nach "vielversprechenden Debutroman" des in Berlin lebenden deutsch-griechischen Autors Andreas Schäfer. Der Roman, in dem es um ein Zusammentreffen einer deutsch-griechischen Familie in Griechenland anlässlich der Beerdigung des Großvaters geht, besteche besonders durch die scharf gezeichneten Charakterprofile. Der Rezensent spricht von einer "nüchternen Elegie", die ein Griechenland zeige, das jenseits aller Klischees liege, und ist gespannt auf das nächste Werk dieses Autors.
© Perlentaucher Medien GmbH
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