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Produktdetails
  • Verlag: Attempto
  • ISBN-13: 9783893083480
  • ISBN-10: 3893083480
  • Artikelnr.: 10433180
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.11.2004

Joch der Völker
Gibt es guten und schlechten Nationalismus?
Brauchen wir noch mehr Arbeiten zum Nationalismus und zum Nationalstaat? Ja, sagt dieses Buch - zumal, wenn die Nationalismusforschung Ertrag bringen kann für das Verständnis der heutigen Probleme nationaler und „ethnischer” Ein- und Ausgrenzungen. Dies haben in einer Vorlesungsreihe an der Universität Tübingen namhafte Spezialisten einem nicht spezialisierten Publikum nahe zu bringen versucht, und darin ist das Buch, das die Vorträge zusammenbringt, eine Besonderheit.
„Partizipation” und Aggression sind, so sagt Dieter Langewiesche in seinem Beitrag, die beiden immer schon im Nationalismus vorhandenen Pole. Es sei deshalb schlicht unsinnig, zwischen den (guten) Nationalstaatsbewegungen und dem (schlechten) extremen Nationalismus unterscheiden zu wollen. Jost Dülffer richtet den Blick auf die Grundprinzipien der Friedensregelungen nach dem Ersten Weltkrieg. Für die Siegernationen waren keineswegs ethnische Grenzen entscheidend: Wirtschaftliche und sicherheitspolitische Motive wogen vor.
Holm Sundhaussen geht der „Ethnisierung von Staat, Nation und Gerechtigkeit” nach. 1925 fand die erste völkerrechtlich sanktionierte Massenvertreibung statt, mit der vom Völkerbund vermittelten griechisch-türkischen Konvention von 1923. Sundhaussen zeigt, wie das von „diskreten” Übergängen zwischen Sprachgemeinschaft, Familienstrukturen und Alltagsbräuchen geprägte Osmanische Reich im Rahmen der Nationalisierung zum „türkischen Joch” uminterpretiert wurde. Und im Ersten Weltkrieg wurden dann die Bevölkerungsverschiebungen allmählich systematisiert, wie am bulgarischen Fall demonstriert wird.
Aus dem Beitrag von Hans Lemberg über die Minderheiten in der Zwischenkriegszeit sei hier nur die bemerkenswerte Feststellung herausgegriffen, wie stark Lenin und die Bolschewisten sich die Nationalitätenproblematik propagandistisch zunutze machten, sowie die sehr informative Darstellung der Probleme des Minderheitenschutzes nach 1919. Nicht Illusionisten und Ideologen waren im Vorfeld der verhängnisvollen nationalen Abgrenzung in den Friedensverträgen von 1919 tätig, sondern weltweit anerkannte Fachleute!
Der Herausgeber widmet sich dem noch heute brisanten Thema der „nationalen Purifizierung” während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Den Auftakt für die gewaltsame Vertreibung bildete das Münchener Abkommen von 1938. Die deutschen und sowjetischen Aussiedlungen setzten den ganzen Kontinent in Bewegung. Die Brutalität des totalitären Regimes fand aber immer noch traditionalistische Rechtfertigungen, etwa wenn Arnold Toynbee seit 1940 Bevölkerungsverschiebungen „als Beitrag zum Frieden” klassifizierte. Die wilden Vertreibungen von 1945/46 waren Rache, kamen aber zugleich als gut begründbare Lösungen daher.
Drei weitere Beiträge, von Dieter Oberndörfer, Egbert Jahn und Otfried Höffe, verlängern diese historischen Darstellungen in die Aktualität. Oberndörfer diskutiert das Problem „sozialverträglicher Zuwanderung” und belegt mit Zahlen, dass die Furcht vor „Überflutung” Deutschlands unbegründet ist, ja die Zukunftsfähigkeit Deutschlands und Europas gefährdet. Jahn schildert das Problem von Staatlichkeit und Nationalbewusstsein in der russischen Föderation, der Philosoph Höffe schließt mit einer Betrachtung über den Platz von Nationalstaaten im Zeitalter der Globalisierung. Können wir in Höffes Sinne erreichen, was schon der Traum der Aufklärung war: dass man nationalbewusst und gleichzeitig Weltbürger sein kann? Die Einlösung dieser Hoffnung ist nicht sicher. Fest steht indes, dass dieser Band rundherum gelungen ist, originell im Ansatz, breit im Forschungsspektrum, informativ und gut lesbar.
GERD KRUMEICH
MATHIAS BEER (Hrsg.): Auf dem Weg zum ethnisch reinen Nationalstaat? Europa in Geschichte und Gegenwart. Attempto-Verlag, Tübingen 2004. 231 Seiten, 19,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Alle, die glauben, es gäbe bereits genug Arbeiten zum Nationalismus, dürfte dieser Sammelband von Mathias Beer eines Besseren belehren, ist Gerd Krumeich überzeugt. Der Band ist aus einer Vorlesungsreihe an der Universität Tübingen hervorgegangen, an der sich laut Krumeich "namhafte Spezialisten" beteiligt haben. Dieter Langewiesche behandelt etwa die beiden Pole des Nationalismus, Partizipation und Aggression, Holm Sundhausen blickt auf die "Ethnisierung von Staat, Nation und Gerechtigkeit" nach dem Ersten Weltkrieg, Herausgeber Beer selbst widmet sich den nationalen Säuberungen nach 1945, und Otfried Höfe steuert Betrachtungen über den Nationalstaat in globalisierten Zeiten, informiert der Rezensent über den Inhalt. Auch Beiträge von Jost Düffel, Dieter Oberndörfer und Egbert Jahn hat er mit Interesse gelesen, was ihm zu dem Schluss führt, dass es sich hier um einen rundum gelungen, informativen und lesbaren Band handelt.

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