"Heute kann von einem Aufholprozeß des Ostens keine Rede mehr sein. Die Wertschöpfung im Osten liegt bei weniger als zwei Dritteln; ohne die Finanztransfers aus dem Westen läge sie nur bei der Hälfte. () Immer noch hat die große Mehrheit der Deutschen nicht verstanden, dass die Zukunftsfähigkeit unseres Landes entscheidend davon abhängen wird, ob und wie schnell es uns gelingt, im Osten des Vaterlandes annähernd gleiche ökonomische Bedingungen herzustellen wie im Westen. Was also ist zu tun? Wir brauchen für die Wirtschaft im Osten eine besondere, allein den Osten begünstigende wirtschaftspolitische Anstrengung. Dafür liegen mindestens drei Vorschläge auf dem Tisch, die der gleichzeitigen Verwirklichung bedürfen." (Helmut Schmidt)
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Annette Weinke stellt zwei Bücher zur Wiedervereinigung vor, die zum 15. Jahrestag der deutschen Einheit erschienen sind. Helmut Schmidts Buch, das 16 zwischen 1989 und 2004 verfasste Texte und Interviews enthält, gewinnt nicht zuletzt deshalb das Wohlwollen der Rezensentin, weil es auf "dramatische Untertöne" völlig verzichtet, ohne jedoch den "Ernst der Lage" zu verschweigen. "Mutig" findet Weinke, dass auch Beiträge noch einmal abgedruckt worden sind, in denen sich Schmidt zur jeweiligen aktuellen Lage äußert, was bei "Interventionen zum politischen Tagesgeschehen" ja stets die Gefahr von "Fehlprognosen und Schönfärberei" birgt, wie die Rezensentin zu bedenken gibt. Schmidt allerdings formuliert bereits hier "nüchtern und klar" Probleme und "Einwände" zur Wiedervereinigung, die sich später als richtig herausgestellt haben, lobt Weinke. Der ehemalige Bundeskanzler übt wie zu erwarten "harsche Kritik" an Kohls Politik, verschweigt aber auch dessen Verdienste um die deutsche Einheit keineswegs, stellt die Rezensentin weiter fest, die alles in allem von diesem Buch sehr eingenommen ist.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2005Rat auf Raten
Altbundeskanzler Schmidts Bilanz des deutschen Vereinigungsprozesses
Helmut Schmidt: Auf dem Weg zur deutschen Einheit. Bilanz und Ausblick. Rowohlt Verlag, Reinbek 2005. 223 Seiten, 19,90 [Euro].
Jetzt schaut er zurück: Nachdem Helmut Schmidt vor Jahresfrist den Blick in die Zukunft gerichtet und die "Gewinner und Verlierer in der Welt von morgen" unter die Lupe genommen hat, läßt er jetzt seinen Leser noch einmal an seiner Sicht der deutschen Einheit teilhaben, und die war von Anfang an nicht weniger skeptisch als seine heutige Einschätzung der morgigen Welt. Der Band versammelt sechzehn Beiträge, die Schmidt zwischen Dezember 1989 und August 2004 zu Papier gebracht hat, zumeist für die Wochenzeitung "Die Zeit", die er seit seinem erzwungenen Auszug aus dem Kanzleramt im Oktober 1982 mit herausgibt. Ein aktuelles Nachwort zieht eine "Zwischenbilanz" des Vereinigungsprozesses. So verschieden die Anlässe und so unterschiedlich die Fragestellung der einzelnen Beiträge auch sind, eines haben sie gemeinsam: die Mahnung.
Das fängt schon im Dezember 1989 an. Die Deutschen reiben sich noch die Augen ob der ersten "Revolution" in ihrer Geschichte, "welche den Namen verdient", da erhebt der Altbundeskanzler auch schon den Zeigefinger und warnt vor falschen, übereilten, irreversiblen Schritten. Damals, wenige Wochen nach dem Mauerfall, kommen die Warnungen noch als "Bitten an die Deutschen hüben und drüben" daher. Wenig später ist es mit solcher Geduld vorbei. Fortan geht Schmidt mit seinen Landsleuten - und natürlich insbesondere mit der Politik - ins Gericht, hält ihnen ihre Fehler beziehungsweise ihre "Kardinalfehler" vor und läßt sie wissen, "was der Osten wirklich braucht". Da schwingt viel Enttäuschung mit, denn wie die meisten Angehörigen seiner Generation war auch Schmidt an jenem 9. November 1989 "zutiefst ergriffen": "Seit Jahrzehnten hatte ich nicht mehr gehofft, diesen Tag noch selbst zu erleben. Allerdings hatte ich nie gezweifelt: Der Tag wird kommen", wenn auch wohl erst "im 21. Jahrhundert."
Keinen Zweifel hatte Schmidt auch an den Problemen, die sich im Falle einer Wiedervereinigung auftun würden. Als Beleg für diese Weitsicht zitiert er ein Gutachten über mögliche Stufen eines wirtschaftlichen und sozialen Wiedervereinigungsprozesses, das unter seiner Federführung im Zusammenhang mit dem berühmten sogenannten Deutschlandplan der SPD vom März 1959 entstanden war. Die Studie "machte keinen Hehl daraus, daß die Wiedervereinigung zunächst eine große Entlassungswelle in der DDR bewirken und die Gefahr eines ruinösen Wettbewerbs zu Lasten der ostdeutschen Industrie auslösen würde". So Schmidt im Rückblick. Hätte man nur auf ihn gehört. Man tat es nicht, und das war ein Fehler: ". . . leider hat man 1989/90 in Bonn nichts davon wissen wollen . . . Keiner der Vorschläge, die in den Deutschlandplan der SPD von 1959 Eingang gefunden hatten, wurde drei Jahrzehnte später realisiert." Das mag an dem Umstand gelegen haben, daß 1989 die Sozialdemokraten nicht die Regierung stellten, hatte aber vielleicht auch damit zu tun, daß der besagte Plan faktisch auf eine Anerkennung der DDR hinauslief.
Jedenfalls kommt es zu einer Serie von "Fehlentscheidungen" und mit ihnen zu der fatalen Folge, daß "im Osten des Vaterlandes" nicht "annähernd gleiche ökonomische Bedingungen" herrschen wie im Westen. Wenn Helmut Schmidt etwas umtreibt, dann ist es der Wunsch, das zu ändern und den "wirtschaftlichen Aufholprozeß des Ostens wieder in Gang zu bringen". Je näher die Entstehungszeiten der einzelnen Beiträge der Gegenwart kommen, um so dominanter wird dieses Thema: "Dies sollen blühende Landschaften sein?", fragt er schon im Februar 1993 und liefert die Antwort gleich mit: "Nein - so haben wir uns die Vereinigung unseres Volkes nicht vorgestellt!"
Nun wäre die Lektüre solcher Lamenti ermüdend, beließe es Schmidt bei der Kritik. Das aber tut er nicht, im Gegenteil: Er muntert auf - "Traut euch was zu!" - und macht Vorschläge, die sich im Kern auf drei reduzieren lassen: "Spielraum für Deregulierung, damit sich ein gewerblicher Mittelstand entwickeln kann"; eine "spürbare Mehrwertsteuer-Präferenz, zum Beispiel bis zum Jahre 2020 nur den halben Steuersatz"; Konzentration auf regionale Schwerpunkte, sogenannte Wachstumskerne. Und natürlich sollten nicht nur Regierung und Opposition, sondern "die ganze politische Klasse . . . diese drei Ratschläge aufgreifen und verwirklichen".
An Selbstbewußtsein hat es dem elder statesman und angesehenen Wirtschaftsfachmann nie gefehlt. Und doch geht Helmut Schmidt nicht in dieser Rolle auf. In seinen Beiträgen wird etwas von jener Sensibilität spürbar, die ihn stets auch ausgezeichnet hat und die erklären dürfte, warum der Mann in diesen Tagen so populär ist: "Die seelische und geistige Integration beider Teile unserer Nation", schreibt er im Mai 1991, "die seelische Verschmelzung kann längere Zeit benötigen als nur eine Generation . . . Was wir brauchen, ist ein gewaltiger Aufschwung des Gemeinsinns und der Brüderlichkeit."
GREGOR SCHÖLLGEN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Altbundeskanzler Schmidts Bilanz des deutschen Vereinigungsprozesses
Helmut Schmidt: Auf dem Weg zur deutschen Einheit. Bilanz und Ausblick. Rowohlt Verlag, Reinbek 2005. 223 Seiten, 19,90 [Euro].
Jetzt schaut er zurück: Nachdem Helmut Schmidt vor Jahresfrist den Blick in die Zukunft gerichtet und die "Gewinner und Verlierer in der Welt von morgen" unter die Lupe genommen hat, läßt er jetzt seinen Leser noch einmal an seiner Sicht der deutschen Einheit teilhaben, und die war von Anfang an nicht weniger skeptisch als seine heutige Einschätzung der morgigen Welt. Der Band versammelt sechzehn Beiträge, die Schmidt zwischen Dezember 1989 und August 2004 zu Papier gebracht hat, zumeist für die Wochenzeitung "Die Zeit", die er seit seinem erzwungenen Auszug aus dem Kanzleramt im Oktober 1982 mit herausgibt. Ein aktuelles Nachwort zieht eine "Zwischenbilanz" des Vereinigungsprozesses. So verschieden die Anlässe und so unterschiedlich die Fragestellung der einzelnen Beiträge auch sind, eines haben sie gemeinsam: die Mahnung.
Das fängt schon im Dezember 1989 an. Die Deutschen reiben sich noch die Augen ob der ersten "Revolution" in ihrer Geschichte, "welche den Namen verdient", da erhebt der Altbundeskanzler auch schon den Zeigefinger und warnt vor falschen, übereilten, irreversiblen Schritten. Damals, wenige Wochen nach dem Mauerfall, kommen die Warnungen noch als "Bitten an die Deutschen hüben und drüben" daher. Wenig später ist es mit solcher Geduld vorbei. Fortan geht Schmidt mit seinen Landsleuten - und natürlich insbesondere mit der Politik - ins Gericht, hält ihnen ihre Fehler beziehungsweise ihre "Kardinalfehler" vor und läßt sie wissen, "was der Osten wirklich braucht". Da schwingt viel Enttäuschung mit, denn wie die meisten Angehörigen seiner Generation war auch Schmidt an jenem 9. November 1989 "zutiefst ergriffen": "Seit Jahrzehnten hatte ich nicht mehr gehofft, diesen Tag noch selbst zu erleben. Allerdings hatte ich nie gezweifelt: Der Tag wird kommen", wenn auch wohl erst "im 21. Jahrhundert."
Keinen Zweifel hatte Schmidt auch an den Problemen, die sich im Falle einer Wiedervereinigung auftun würden. Als Beleg für diese Weitsicht zitiert er ein Gutachten über mögliche Stufen eines wirtschaftlichen und sozialen Wiedervereinigungsprozesses, das unter seiner Federführung im Zusammenhang mit dem berühmten sogenannten Deutschlandplan der SPD vom März 1959 entstanden war. Die Studie "machte keinen Hehl daraus, daß die Wiedervereinigung zunächst eine große Entlassungswelle in der DDR bewirken und die Gefahr eines ruinösen Wettbewerbs zu Lasten der ostdeutschen Industrie auslösen würde". So Schmidt im Rückblick. Hätte man nur auf ihn gehört. Man tat es nicht, und das war ein Fehler: ". . . leider hat man 1989/90 in Bonn nichts davon wissen wollen . . . Keiner der Vorschläge, die in den Deutschlandplan der SPD von 1959 Eingang gefunden hatten, wurde drei Jahrzehnte später realisiert." Das mag an dem Umstand gelegen haben, daß 1989 die Sozialdemokraten nicht die Regierung stellten, hatte aber vielleicht auch damit zu tun, daß der besagte Plan faktisch auf eine Anerkennung der DDR hinauslief.
Jedenfalls kommt es zu einer Serie von "Fehlentscheidungen" und mit ihnen zu der fatalen Folge, daß "im Osten des Vaterlandes" nicht "annähernd gleiche ökonomische Bedingungen" herrschen wie im Westen. Wenn Helmut Schmidt etwas umtreibt, dann ist es der Wunsch, das zu ändern und den "wirtschaftlichen Aufholprozeß des Ostens wieder in Gang zu bringen". Je näher die Entstehungszeiten der einzelnen Beiträge der Gegenwart kommen, um so dominanter wird dieses Thema: "Dies sollen blühende Landschaften sein?", fragt er schon im Februar 1993 und liefert die Antwort gleich mit: "Nein - so haben wir uns die Vereinigung unseres Volkes nicht vorgestellt!"
Nun wäre die Lektüre solcher Lamenti ermüdend, beließe es Schmidt bei der Kritik. Das aber tut er nicht, im Gegenteil: Er muntert auf - "Traut euch was zu!" - und macht Vorschläge, die sich im Kern auf drei reduzieren lassen: "Spielraum für Deregulierung, damit sich ein gewerblicher Mittelstand entwickeln kann"; eine "spürbare Mehrwertsteuer-Präferenz, zum Beispiel bis zum Jahre 2020 nur den halben Steuersatz"; Konzentration auf regionale Schwerpunkte, sogenannte Wachstumskerne. Und natürlich sollten nicht nur Regierung und Opposition, sondern "die ganze politische Klasse . . . diese drei Ratschläge aufgreifen und verwirklichen".
An Selbstbewußtsein hat es dem elder statesman und angesehenen Wirtschaftsfachmann nie gefehlt. Und doch geht Helmut Schmidt nicht in dieser Rolle auf. In seinen Beiträgen wird etwas von jener Sensibilität spürbar, die ihn stets auch ausgezeichnet hat und die erklären dürfte, warum der Mann in diesen Tagen so populär ist: "Die seelische und geistige Integration beider Teile unserer Nation", schreibt er im Mai 1991, "die seelische Verschmelzung kann längere Zeit benötigen als nur eine Generation . . . Was wir brauchen, ist ein gewaltiger Aufschwung des Gemeinsinns und der Brüderlichkeit."
GREGOR SCHÖLLGEN
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