Sylvia Nasars Buch ist die dramatische Biographie des genialen Mathematikers John Nash, der an paranoider Schizophrenie erkrankte, wahnsinnig wurde und nach seiner Heilung 1994 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt. Eine aufwühlende Geschichte von einem Genie und dessen Sieg über eine schreckliche Krankheit.
Wie ein Verrückter bei Verstand blieb / Von Reinhard Kaiser
Im Februar 1959 hält der Mathematiker Eugenio Calabi, Mitglied des höchst angesehenen Institute for Advanced Studies in Princeton, einen Vortrag am kaum minder angesehenen Massachusetts Institute of Technology in Cambridge bei Boston. Das Publikum besteht aus lauter hochkarätigen Fachleuten. Während Calabi spricht, beginnt in einer der hinteren Reihen plötzlich jemand laut zu reden.
Viele Zuhörer kennen den Störer - es ist John Nash, geboren 1928 in Bluefield, West Virginia, Dozent am MIT, vorher Princeton. Seit seiner Dissertation von 1949 über "Nicht-kooperative Spiele" gilt er als einer der originellsten Köpfe unter den Mathematikern Amerikas. Leute, die beurteilen können, was Nash in den Sphären, die sein Interesse wecken, zu Wege bringt, bezeichnen ihn als Genie. In diesem Augenblick jedoch fragt er seinen Vordermann so laut, dass alle im Saal es hören: "Vazquez, wussten Sie, dass ich auf dem Titelbild der Zeitschrift Life bin?" und fährt fort, man habe sein Foto dort so verändert, dass er wie Papst Johannes XXIII. aussehe. Nash insistiert so laut und so lange, dass Vazquez sich schließlich umdreht und ihn fragt, woher er wisse, dass jenes Titelbild ihn zeige. Erstens, antwortet Nash, sei Johannes (im Englischen: John) nicht der wahre Name des Papstes, sondern sein eigener Name, und zweitens sei die Dreiundzwanzig seine, Nashs, "Lieblingsprimzahl". Alle haben den Wortwechsel mitbekommen. Calabi setzt seinen Vortrag fort, als wäre nichts gewesen.
Genie und Wahnsinn - die Beschreibung des Lebens von John Nash zwischen diese beiden, einst von Cesare Lombroso eingepflanzten Pole zu spannen liegt nahe. Sylvia Nasar tut dies in ihrer Biografie, ohne sich auf Lombroso und seine psychiatrische Metaphysik einzulassen. Dennoch erweist sich ihr Thema als tückisch. Genie und Wahnsinn sind im Falle John Nashs nämlich offenbar durch Beschreibung nicht gleichermaßen anschaulich zu machen. Die Verwirrungen im Gefolge der "paranoiden Schizophrenie", die nach der oben geschilderten Episode bei John Nash diagnostiziert wurde, lassen sich besser erzählen und plastischer darstellen als die intellektuellen Hochleistungen, die er an den vorgeschobensten Positionen seines Fachgebiets vollbringt. Selbst versierten Fachkollegen bereitete es oft erhebliche Mühen, überhaupt zu begreifen, worin die Relevanz und die Eleganz der Lösungen lag, die Nash für Probleme vorschlug, die als unlösbar galten.
Eine Einführung in John Nashs Arbeiten und Denken ist aus diesem Buch also nicht zu gewinnen, wohl aber eine Fülle von Innenansichten aus dem amerikanischen Wissenschaftsbetrieb zur Zeit des Kalten Krieges. Die Rand-Corporation, der "Think Tank", in dem Nash von 1951 bis zu seinem Hinauswurf im Jahre 1955 als Berater tätig war, hat die Aufgabe, das Undenkbare (den Atomkrieg, die Wasserstoffbombe) zu denken. Dabei erzeugt schon das gewöhnliche Spiel der Rivalitäten und Intrigen bei der Vergabe von akademischen Ämtern und Würden einen enormen Druck. Hochleistungsmathematik hat mit dem Hochleistungssport gemeinsam, dass wirkliche Großtaten von Leuten, die sie bis zu ihrem dreißigsten Lebensjahr nicht vollbracht haben, auch nachher nicht mehr erwartet werden.
Nash ist dreißig, als seine Geisteskrankheit offen ausbricht. Er hat, seinen staunenswerten Leistungen zum Trotz, noch keine feste Professur, keinen bedeutenden Preis erhalten. Auch sein privates Leben bietet ihm keinen Halt: ein Hin und Her zwischen verschiedenen Männern und einer Frau, Eleanor, die er nicht heiraten will, dazu ein unehelicher Sohn, um den er sich nicht kümmert. Das persönliche Chaos wird noch größer, als er sich von einer Studentin erobern lässt und sie heiratet. Auch mit Alicia hat er einen Sohn, und sie ist es, die nun mit wachsender Besorgnis aus nächster Nähe die Verrückungen in seinem Geist und seinem Verhalten wahrnimmt, bis zu dem Punkt, wo sie sich und ihr Kind so sehr gefährdet fühlt, dass sie gegen den Willen ihres Mannes dessen Einlieferung in eine psychiatrische Anstalt betreibt. Als Nash nach ein paar Wochen wieder entlassen wird, ist er nur scheinbar geheilt - und das erste von dreißig "verlorenen Jahren" hat eben erst begonnen.
Sylvia Nasar muss über ein großes Geschick verfügen, Menschen zum Erzählen und zur Offenheit zu bringen. Immerhin handelt ihre Biografie von einem Lebenden, und ihre wichtigsten Quellen sind die Interviews mit Leuten, die im Laufe der Jahre auf diese oder jene Weise in Beziehung zu John Nash getreten sind. Nach langen Jahren und vielen bedrückenden Szenen hat diese Geschichte einen halbwegs glücklichen Ausgang. Die paranoide Schizophrenie wird von vielen für unheilbar gehalten, und Fälle von Gesundung sind tatsächlich sehr selten. Doch Ende der achtziger Jahre taucht John Nash aus seiner Geisteskrankheit auf. Er kann sich wieder der Mathematik zuwenden und bekommt 1994 zusammen mit zwei anderen Vertretern der "Spieltheorie" den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften.
Was Nashs "Remission", vielleicht sogar seine Genesung, nach so langer Zeit bewirkt hat, ist unklar. Sylvia Nasar vermutet, ein wichtiger Faktor sei eine Umgebung gewesen, die ihm seine Ruhe ließ. Für Nash war dies nicht die Klinik und auch nicht der Schoß der Familie, sondern die Welt der Institute und Bibliotheken, der Teestunden in den Dozentenzimmern, der Vorträge und Vorlesungen. Princeton hat sich in seinem Fall als tolerante "Therapiegemeinschaft" erwiesen. Nashs Beziehung zur Realität konnte sich wohl deshalb wieder stabilisieren, weil sie nie ganz abgebrochen ist. Sein letzter Halt sind die Zahlen. Sie garantieren ihm einen Rest von Ordnung.
Als "Phantom der Fine Hall" führt Nash in Princeton jahrelang ein akademisches Schattendasein. Er wandert durch die Gänge, sitzt in der Bibliothek, verharrt in Vorlesungssälen, schweift im Park umher. Manche Sekretärinnen fürchten sich vor ihm. Auf den Tafeln der Seminarräume hinterlässt er seltsame Kreidebotschaften. Studenten, die von John Nash nie gehört haben oder ihn für tot halten, studieren sie genau, und manchmal schreiben sie sie Wort für Wort ab, um sie Jahre oder Jahrzehnte später seiner Biografin zu übermitteln: "Mao Tse-tungs Bar-Mizwa fand 13 Jahre, 13 Monate und 13 Tage nach Breschnews Beschneidung statt."
So willkommen diese und viele andere Fundstücke sind - gelegentlich wünscht man sich, die Autorin hätte angesichts der Fülle des Materials entschlossener ausgewählt. Auch die deutsche Übersetzung lässt Wünsche offen, namentlich beim Umgang mit dem erweiterten Infinitiv von "werden": "In Princeton beginnt Nashs Denken drängend und konzentriert zu werden." Vor allem im ersten Viertel des Buches treibt die stilistische Unbeholfenheit an Dutzenden von Stellen sonderbare Blüten, die offenbar kein Lektorat pflücken wollte oder konnte.
Die Lektüre dieses verstörenden Buches wird durch solches Ungeschick zwar hier und da gestört, aber dem Sog, den die Geschichte, je weiter man in ihr vorankommt, desto stärker entfaltet, kann dies nichts anhaben. Die mathematischen Leistungen ihrer genialen Hauptfigur mögen uns fern bleiben. Aber gerade weil John Nash nicht als Geistesheros und nicht einmal durchwegs in freundlichem Licht gezeigt wird, tritt uns der Bericht über sein Verschwinden im Wahnsinn und seine Wiederkehr besonders nah.
Sylvia Nasar: "Auf den fremden Meeren des Denkens". Das Leben des genialen Mathematikers John Nash. Aus dem Amerikanischen von Cäcilie Pleininger und Anja Hansen-Schmidt. Piper Verlag, München, Zürich 1999. 575 S., 26 Abb., geb., 68,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als "Biografie von einem Lebenden" findet Reinhard Kaiser dieses Buch erstaunlich und fazinierend. Er lobt, mit welcher Sensibilität Sylvia Nasar Freunde und Familie dieses genialen Mathematikers interviewte, der lange Zeit als ein verrücktes Gepenst durch die Universität von Princeton irrte, denn Nash war nicht nur der Spezialist für "nicht-kooperative Spiele" - offensichtlich eine esoterische mathematische Theorie -, sondern er litt auch an einer "paranoiden Schizophrenie", aus der er nach Jahrzehnten der Umnachtung erst in den achtziger Jahren wieder auftauchte. Man dürfe von diesem Buch keine Einführung in Nashs mathematischen Funde erwarten, die für einen gewöhnlichen Leser nicht nachvollziehbar seien, aber dafür biete das Buch Einblicke in die amerikanische Wissenschaftsszene. Die Übersetzung tadelt Kaiser als unbeholfen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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