»Er war der Rockstar unter den Intellektuellen.« Nils Minkmar in 'DER SPIEGEL'
Globalisierung, Klimawandel, Mythologie und Popkultur - als Intellektueller von Weltruf verfügte Umberto Eco über eine einzigartige geistige Spannweite. Sprachlich brillant und mit intelligentem Witz stellt er dies in den hier versammelten Texten unter Beweis, die eine Blaupause seines Lebenswerks darstellen. Streifzüge durch Literatur, Sprache, Kunst und Philosophie verschmelzen mit messerscharfen Beobachtungen zu Politik und Zeitgeschehen. Spielerisch präsentiert, üppig illustriert und vonungebrochener Aktualität.
Globalisierung, Klimawandel, Mythologie und Popkultur - als Intellektueller von Weltruf verfügte Umberto Eco über eine einzigartige geistige Spannweite. Sprachlich brillant und mit intelligentem Witz stellt er dies in den hier versammelten Texten unter Beweis, die eine Blaupause seines Lebenswerks darstellen. Streifzüge durch Literatur, Sprache, Kunst und Philosophie verschmelzen mit messerscharfen Beobachtungen zu Politik und Zeitgeschehen. Spielerisch präsentiert, üppig illustriert und vonungebrochener Aktualität.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.2019Meister aller Klassen
Wiedersehen mit einem großen Traditionsbewahrer: Umberto Ecos Mailänder Vorträge zeigen noch einmal die geistige Spannweite des italienischen Universalgelehrten - und seinen Witz.
Wie viel ärmer Italien, Europa, ja die Welt ohne Umberto Eco ist, spürt man in diesen Tagen, wenn einem zum unaufhaltsamen Aufstieg des Matteo Salvini kaum etwas anderes mehr einfallen will als hilfloses Zähneknirschen. Der 2016 verstorbene Eco hätte wunderbare Formulierungen zur Politik des Lega-Chefs gefunden, Kommentare in jener subtilen Mischung von polemischer Schärfe, analytischer Präzision und sprudelndem Witz, die seine unermüdlichen Attacken auf Silvio Berlusconi auszeichnete.
Wer gegen den Vormarsch der Populisten das Leitbild einer qualifizierten, durch fundierte Information und besonnene Argumentation gebildeten Öffentlichkeit hochhielt, hatte in Eco einen starken Rückhalt. Denn er war gleichsam die Verkörperung dieses Öffentlichkeitsideals, ein Philosoph, Romancier und Kolumnist, der verschiedenste Bühnen der Publizität - vom Hörsaal bis hin zur Fernsehshow - gleichermaßen souverän zu bespielen wusste.
So ist auch der nun erschienene Nachlassband "Auf den Schultern von Riesen" ein Dokument von Ecos öffentlicher Wirksamkeit. Er versammelt zwölf Vorträge, die Eco in den Jahren 2001 bis 2015 zur Eröffnung des Mailänder Kulturfestivals "La Milanesiana" hielt. Sie zeigen einmal mehr die geistige Spannweite dieses Universalgelehrten, der schlicht auch ein ausgebuffter Unterhaltungskünstler war. Eco musste nicht aktuell sein, um ein großes Publikum zu fesseln. Nach Ausweis des Personenregisters ist der in diesem Buch am häufigsten erwähnte Autor Thomas von Aquin, gefolgt von Augustinus und Dante. Berlusconi taucht nur zweimal am Rande auf.
Aber natürlich ahnt man, dass es auch um den "Cavaliere" gehen wird, wenn ein Vortrag den Titel "Falsches sagen, lügen, fälschen" trägt. Der Name Berlusconi fällt dann zwar nirgendwo, Eco handelt ausschließlich von Klassikern des Barockzeitalters. In deren Beschreibungen einer Lügenrhetorik, "die die Sitten versengt und das Gemeinwesen in Brand setzt", sind die Brandstifter von heute aber unschwer greifbar. In ähnlicher Weise hat jüngst Stephen Greenblatt in "Tyrant: Shakespeare on Politics" (2018) die skrupellose Politik des amerikanischen Präsidenten durch eine einlässliche Lektüre von Shakespeares Königsdramen ins rechte Licht gerückt - ohne den Namen Trump auch nur ein einziges Mal zu nennen.
Solche unausdrücklichen Spiegelungen sind bei Eco indessen nur ein Nebeneffekt. Tatsächlich verlangt er seinem Publikum in dem erwähnten Vortrag ein gehöriges Maß an begrifflicher Differenzierungsarbeit ab. Schon der Titel gibt ja vor, dass Falsches sagen, lügen und (ver)fälschen nicht dasselbe sind, und es bleibt bei weitem nicht bei diesen Abgrenzungen. Was unterscheidet, fragt der Semiotiker weiter, die "Verhehlung" (im italienischen Original "dissimulazione") von der "Verstellung" ("simulazione"), wo ereignet sich der Übergang vom Verhehlen zur "extremen Diskretion"? Welchen Status hat in diesem Kontext die "Unaufrichtigkeit" (Sartres "mauvaise foi")? Wie verbirgt Ironie das eigentlich Gemeinte? Warum ist die literarische Fiktion keine Lüge?
Dass dieser Durchgang durch alle möglichen Formen des Nicht-direkt-die-Wahrheit-Sagens ausgesprochen kurzweilig gerät, liegt an Ecos Pointierungsgabe und seiner originellen Auswahl von Zitaten aus zwei Jahrtausenden europäischer Kulturgeschichte. Wer kennt schon den italienischen Barockautor Torquato Accetto und sein feines Lob der "ehrenwerten Verhehlung" ("dissimulazione onesta"), die nichts vortäuschen will, sondern eben nur nicht zeigt, was man ist: "denn das Verhehlen ist nichts anderes als ein Schleier aus ehrenwerter Finsternis und gewaltsamer Rücksicht, hinter dem nicht das Falsche entsteht, sondern der dem Wahren ein wenig Ruhe gönnt".
Den folgenden Vortrag "Über einige Formen der Unvollkommenheit in der Kunst" eröffnet Eco mit Thomas von Aquins Gedanken zur Auferstehung des Fleisches. In welchem Zustand werden sich, wenn die Toten den Gräbern entsteigen, ihre Gedärme befinden, die ja, so paraphrasiert Eco, "ebenfalls Glieder des menschlichen Körpers sind, aber gewiss nicht voller Unreinem auferstehen könnten und ebenso wenig leer, da die Natur das Leere scheue"? Sie werden, dekretiert der heilige Thomas, "nicht voller scheußlichem Unrat, sondern voll edler Körpersäfte sein". Und da Jesus laut Lukas-Evangelium versprochen hat: "Kein Haar von eurem Haupte soll verloren gehen", werden für den Aquinaten auch Haare, Finger- und Fußnägel ins ewige Leben hinübergerettet. Nicht aber die Geschlechtsteile! Ecos Kommentar: "So als könnte man sich im Himmel zwar die Haare frisieren lassen, aber nicht lieben."
Mit solchen Pointen wartet das Buch beständig auf, setzt dabei aber nie allein auf den komischen Effekt, sondern macht ihn zum Ausgangspunkt anspruchsvoller philosophischer Reflexion. Wenn man ein Grundthema der zwölf Essays benennen sollte, wäre das Unvollkommene ein guter Kandidat. Es begegnet in den anderen Texten als das Hässliche im Gegensatz zum Schönen, das Relative in Opposition zum Absoluten, das Profane als Widerpart des Heiligen. Ohne den Begriff zu verwenden, erzählt Eco, verstreut über die einzelnen Vorträge, eine kleine Geschichte der ästhetischen Theodizee. Er zeigt, wie schon die frühen Vordenker des Christentums das Unschöne "entübelt" (O. Marquard) haben, indem sie es zunächst zur unverzichtbaren Kontrastfolie und dann zum notwendigen Ingrediens des Schönen erklärten.
Wie immer erläutert Eco den Gedankengang an prägnanten Zitaten aus dem Fundus der mittelalterlichen Philosophie. "Was in einem Teil des Ganzen", heißt es bei Johannes Scotus Eriugena, "für sich genommen als missgestaltet erscheint, wird aufs Ganze gesehen nicht nur schön, weil es wohlgeordnet ist, sondern ist auch Ursache der Schönheit des Ganzen." In der Moderne kommt es schließlich unter dem Leitbegriff des "Erhabenen" zur völligen Positivierung des Unschönen, Unvollkommenen in all seinen Facetten: als Interessantes, Frappantes, Fragmentarisches, Dionysisches, Groteskes und so weiter.
Eco legt hier den Akzent auf ein eher unscheinbares Phänomen. Er skizziert eine Poetik des "Füllsels" (ital.: "zeppa") und führt in einem köstlichen Streifzug durch die Literaturgeschichte vor, wie auch die gelungensten Werke von belanglosen Partien leben, ohne die wir die poetischen Verzückungsspitzen wohl gar nicht ertragen könnten. Der große Traditionsbewahrer Eco hat hier keine Hemmungen, sich lausbübisch auch einmal am Übervater der ganzen Kultur seines Landes zu vergreifen: "Ich würde es wagen zu sagen (...), dass ein Vers wie ,Nel mezzo del cammin di nostra vita' die leiernde Würde eines Füllsels hat. Wenn nicht ,Die Göttliche Komödie' danach käme, hätten wir ihm nicht viel Bedeutung beigemessen."
MANFRED KOCH
Umberto Eco: "Auf den Schultern von Riesen". Das Schöne, die Lüge und das Geheimnis.
Aus dem Italienischen von Martina Kempter und Burkhart Kroeber. Hanser Verlag, München 2019. 414 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wiedersehen mit einem großen Traditionsbewahrer: Umberto Ecos Mailänder Vorträge zeigen noch einmal die geistige Spannweite des italienischen Universalgelehrten - und seinen Witz.
Wie viel ärmer Italien, Europa, ja die Welt ohne Umberto Eco ist, spürt man in diesen Tagen, wenn einem zum unaufhaltsamen Aufstieg des Matteo Salvini kaum etwas anderes mehr einfallen will als hilfloses Zähneknirschen. Der 2016 verstorbene Eco hätte wunderbare Formulierungen zur Politik des Lega-Chefs gefunden, Kommentare in jener subtilen Mischung von polemischer Schärfe, analytischer Präzision und sprudelndem Witz, die seine unermüdlichen Attacken auf Silvio Berlusconi auszeichnete.
Wer gegen den Vormarsch der Populisten das Leitbild einer qualifizierten, durch fundierte Information und besonnene Argumentation gebildeten Öffentlichkeit hochhielt, hatte in Eco einen starken Rückhalt. Denn er war gleichsam die Verkörperung dieses Öffentlichkeitsideals, ein Philosoph, Romancier und Kolumnist, der verschiedenste Bühnen der Publizität - vom Hörsaal bis hin zur Fernsehshow - gleichermaßen souverän zu bespielen wusste.
So ist auch der nun erschienene Nachlassband "Auf den Schultern von Riesen" ein Dokument von Ecos öffentlicher Wirksamkeit. Er versammelt zwölf Vorträge, die Eco in den Jahren 2001 bis 2015 zur Eröffnung des Mailänder Kulturfestivals "La Milanesiana" hielt. Sie zeigen einmal mehr die geistige Spannweite dieses Universalgelehrten, der schlicht auch ein ausgebuffter Unterhaltungskünstler war. Eco musste nicht aktuell sein, um ein großes Publikum zu fesseln. Nach Ausweis des Personenregisters ist der in diesem Buch am häufigsten erwähnte Autor Thomas von Aquin, gefolgt von Augustinus und Dante. Berlusconi taucht nur zweimal am Rande auf.
Aber natürlich ahnt man, dass es auch um den "Cavaliere" gehen wird, wenn ein Vortrag den Titel "Falsches sagen, lügen, fälschen" trägt. Der Name Berlusconi fällt dann zwar nirgendwo, Eco handelt ausschließlich von Klassikern des Barockzeitalters. In deren Beschreibungen einer Lügenrhetorik, "die die Sitten versengt und das Gemeinwesen in Brand setzt", sind die Brandstifter von heute aber unschwer greifbar. In ähnlicher Weise hat jüngst Stephen Greenblatt in "Tyrant: Shakespeare on Politics" (2018) die skrupellose Politik des amerikanischen Präsidenten durch eine einlässliche Lektüre von Shakespeares Königsdramen ins rechte Licht gerückt - ohne den Namen Trump auch nur ein einziges Mal zu nennen.
Solche unausdrücklichen Spiegelungen sind bei Eco indessen nur ein Nebeneffekt. Tatsächlich verlangt er seinem Publikum in dem erwähnten Vortrag ein gehöriges Maß an begrifflicher Differenzierungsarbeit ab. Schon der Titel gibt ja vor, dass Falsches sagen, lügen und (ver)fälschen nicht dasselbe sind, und es bleibt bei weitem nicht bei diesen Abgrenzungen. Was unterscheidet, fragt der Semiotiker weiter, die "Verhehlung" (im italienischen Original "dissimulazione") von der "Verstellung" ("simulazione"), wo ereignet sich der Übergang vom Verhehlen zur "extremen Diskretion"? Welchen Status hat in diesem Kontext die "Unaufrichtigkeit" (Sartres "mauvaise foi")? Wie verbirgt Ironie das eigentlich Gemeinte? Warum ist die literarische Fiktion keine Lüge?
Dass dieser Durchgang durch alle möglichen Formen des Nicht-direkt-die-Wahrheit-Sagens ausgesprochen kurzweilig gerät, liegt an Ecos Pointierungsgabe und seiner originellen Auswahl von Zitaten aus zwei Jahrtausenden europäischer Kulturgeschichte. Wer kennt schon den italienischen Barockautor Torquato Accetto und sein feines Lob der "ehrenwerten Verhehlung" ("dissimulazione onesta"), die nichts vortäuschen will, sondern eben nur nicht zeigt, was man ist: "denn das Verhehlen ist nichts anderes als ein Schleier aus ehrenwerter Finsternis und gewaltsamer Rücksicht, hinter dem nicht das Falsche entsteht, sondern der dem Wahren ein wenig Ruhe gönnt".
Den folgenden Vortrag "Über einige Formen der Unvollkommenheit in der Kunst" eröffnet Eco mit Thomas von Aquins Gedanken zur Auferstehung des Fleisches. In welchem Zustand werden sich, wenn die Toten den Gräbern entsteigen, ihre Gedärme befinden, die ja, so paraphrasiert Eco, "ebenfalls Glieder des menschlichen Körpers sind, aber gewiss nicht voller Unreinem auferstehen könnten und ebenso wenig leer, da die Natur das Leere scheue"? Sie werden, dekretiert der heilige Thomas, "nicht voller scheußlichem Unrat, sondern voll edler Körpersäfte sein". Und da Jesus laut Lukas-Evangelium versprochen hat: "Kein Haar von eurem Haupte soll verloren gehen", werden für den Aquinaten auch Haare, Finger- und Fußnägel ins ewige Leben hinübergerettet. Nicht aber die Geschlechtsteile! Ecos Kommentar: "So als könnte man sich im Himmel zwar die Haare frisieren lassen, aber nicht lieben."
Mit solchen Pointen wartet das Buch beständig auf, setzt dabei aber nie allein auf den komischen Effekt, sondern macht ihn zum Ausgangspunkt anspruchsvoller philosophischer Reflexion. Wenn man ein Grundthema der zwölf Essays benennen sollte, wäre das Unvollkommene ein guter Kandidat. Es begegnet in den anderen Texten als das Hässliche im Gegensatz zum Schönen, das Relative in Opposition zum Absoluten, das Profane als Widerpart des Heiligen. Ohne den Begriff zu verwenden, erzählt Eco, verstreut über die einzelnen Vorträge, eine kleine Geschichte der ästhetischen Theodizee. Er zeigt, wie schon die frühen Vordenker des Christentums das Unschöne "entübelt" (O. Marquard) haben, indem sie es zunächst zur unverzichtbaren Kontrastfolie und dann zum notwendigen Ingrediens des Schönen erklärten.
Wie immer erläutert Eco den Gedankengang an prägnanten Zitaten aus dem Fundus der mittelalterlichen Philosophie. "Was in einem Teil des Ganzen", heißt es bei Johannes Scotus Eriugena, "für sich genommen als missgestaltet erscheint, wird aufs Ganze gesehen nicht nur schön, weil es wohlgeordnet ist, sondern ist auch Ursache der Schönheit des Ganzen." In der Moderne kommt es schließlich unter dem Leitbegriff des "Erhabenen" zur völligen Positivierung des Unschönen, Unvollkommenen in all seinen Facetten: als Interessantes, Frappantes, Fragmentarisches, Dionysisches, Groteskes und so weiter.
Eco legt hier den Akzent auf ein eher unscheinbares Phänomen. Er skizziert eine Poetik des "Füllsels" (ital.: "zeppa") und führt in einem köstlichen Streifzug durch die Literaturgeschichte vor, wie auch die gelungensten Werke von belanglosen Partien leben, ohne die wir die poetischen Verzückungsspitzen wohl gar nicht ertragen könnten. Der große Traditionsbewahrer Eco hat hier keine Hemmungen, sich lausbübisch auch einmal am Übervater der ganzen Kultur seines Landes zu vergreifen: "Ich würde es wagen zu sagen (...), dass ein Vers wie ,Nel mezzo del cammin di nostra vita' die leiernde Würde eines Füllsels hat. Wenn nicht ,Die Göttliche Komödie' danach käme, hätten wir ihm nicht viel Bedeutung beigemessen."
MANFRED KOCH
Umberto Eco: "Auf den Schultern von Riesen". Das Schöne, die Lüge und das Geheimnis.
Aus dem Italienischen von Martina Kempter und Burkhart Kroeber. Hanser Verlag, München 2019. 414 S., geb., 32,- [Euro].
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.09.2019Traumschiffbruch
mit Sharon Stone
Umberto Eco über das Schöne,
die Lüge und das Geheimnis
Als Umberto Eco im Februar 2016 starb, trauerte man in Italien um einen Mann, der mehr gewesen war als nur ein ausgezeichneter Gelehrter und Schriftsteller. Umberto Eco, das war nicht nur der überall auf der Welt geachtete Autor eines Romans, den alle kannten, und der Schöpfer einer Zeichentheorie, die es auf die Literaturlisten unzähliger kulturwissenschaftlicher und linguistischer Seminare gebracht hatte. Umberto Eco, das war vielmehr auch der gemütliche, wohlmeinende Professor der Universität Bologna, der bärtige, verschmitzte Mann mit der großen Brille, der über eine riesige Bibliothek verfügte und zu jeder Frage die interessantesten Werke auch längst vergangener Jahrhunderte aufzuschlagen wusste, immer an der entscheidenden Stelle.
Unter dem Titel „Auf den Schultern von Riesen“ ist nun auch auf Deutsch eine Sammlung von zwölf Vorträgen erschienen, die Umberto Eco über ebenso viele Jahre hinweg bei einem sommerlichen Kulturfestival in Mailand gehalten hat. Sie handeln von Themen, die man von ihm kennt: von der Frage, was schön und was hässlich sei, von der Frage nach dem Absoluten, von der Unterscheidung zwischen realen und fiktiven Personen, vom Wesen der Verschwörung. Und wie immer zieht Eco bei der Erörterung dieser Probleme nicht nur die gesamte abendländische Geistesgeschichte heran, sondern wildert auch in der populären Kultur, beim Grafen von Monte Christo zum Beispiel, oder in „Casablanca“, dem Film mit Ingrid Bergman und Humphrey Bogart. Oder er wünscht sich, auf einer polynesischen Insel Schiffbruch zu erleiden, in Gesellschaft von Sharon Stone. Stets geht man belehrt aus der Lektüre hervor, und auch wenn der Leser am Ende immer noch nicht weiß, woran er zuverlässig eine Verschwörungstheorie erkennen kann, so hat er doch zumindest verstanden, wie verbreitet und fruchtbar solche Lehren sind – und dass die Übergänge zwischen den Ideen der Rosenkreuzer und den Romanen von Dan Brown allenfalls graduell sind.
Die Wirklichkeit zu erkennen, hatte William von Baskerville, der Held des Romans „Der Name der Rose“, gelehrt, das heiße: in die vermeintlich regellose Vielfalt der Erscheinungen eine Ordnung zu bringen, von der man zwar wisse, dass sie nur bedingt haltbar, weil an den Einzelnen gebunden sei, die aber doch das Einzige sei, woran man sich halten könne. In diesem Franziskaner verbarg sich, was die meisten Leser dieses Buchs bald verstanden, eine Selbstdarstellung seines Autors. Das gilt nicht nur in einem persönlichen Sinn. Denn so, wie der Mönch aus dem Spätmittelalter an die Regeln seines Ordens und die Lehren der Kirchenväter gebunden erschien, denen er selbstbewusst und kritisch gegenübertrat, so trat Umberto Eco als ein freisinniger Gelehrter in gleichwohl scholastischer Tradition auf. Dieses geschichtliche Erbe, als Amt begriffen, stünde einem nordeuropäischen Professor, den Mainzer Philosophen Kurt Flasch ausgenommen, nicht mehr zur Verfügung. In Umberto Eco aber blieb die Geschichte der europäischen Universität lebendig, auch in ihrer engen Bindung an die katholische Kirche, weshalb sowohl Thomas von Aquin als auch Joseph Ratzinger, erst als Kardinal, dann als Papst Benedikt XVI., zu den wiederkehrenden Gestalten dieser Vorträge gehören – der eine als zwar historische, aber doch auch philosophische Autorität, der andere als eher unfertiger Denker.
Die italienische Universität hat in Deutschland nicht den besten Ruf. Zu hierarchisch scheinen die Institutionen aufgebaut zu sein, zu sehr auf positives Wissen ausgerichtet das Studium, zu formalisiert die Examina. Aus den Vorträgen von Umberto Eco lässt sich, gleichsam als essenzieller Nebeneffekt, lernen, dass auch die auf diese Weise noch immer lebendige Scholastik eine andere Seite besitzt. In Gestalt von Eco tritt einem eine Gelehrtheit gegenüber, zu der es hierzulande kein Äquivalent gibt. Sie erscheint in Gestalt imaginärer Netze, in denen sich das antike Rom mit dem modernen Mailand verbindet und in die das heutige Italien gleichsam eingesponnen wird. Auf dieser Grundlage mag geschehen, was geschehen will: Immer erscheint es gebunden an sehr lange und sehr melancholische Traditionen, die letztlich weniger wissenschaftlicher als vielmehr sozialer oder kultureller Natur sind.
Über die Rosenkreuzer schreibt Eco, sie hätten im 17. Jahrhundert von einer Geheimgesellschaft geträumt, „die Gold, Silber und Edelsteine im Überfluss besitzt und an die Könige verteilt, damit diese ihren Pflichten und legitimen Zielen nachkommen können“. Man muss nur die materiellen in immaterielle Güter übersetzen, um zu verstehen, was Umberto Eco an einer solchen Verschwörung faszinierte. Jeder Vortrag muss ihm als ein Kassiber erschienen sein, jedes Buch als konspirativer Akt der Vermittlung zwischen einer nie hinreichend aufgeklärten Gegenwart und ihren intellektuellen Möglichkeiten. Denn Zeichen sind die Dinge, und keineswegs deutungslos.
THOMAS STEINFELD
Umberto Eco: Auf den Schultern von Riesen. Das Schöne, die Lüge und das Geheimnis. Aus dem Italienischen von Martina Kempter und Burkhart Kroeber. Carl Hanser Verlag, München 2019. 416 Seiten, 32 Euro.
Eco trat als ein freisinniger
Gelehrter in gleichwohl
scholastischer Tradition auf
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
mit Sharon Stone
Umberto Eco über das Schöne,
die Lüge und das Geheimnis
Als Umberto Eco im Februar 2016 starb, trauerte man in Italien um einen Mann, der mehr gewesen war als nur ein ausgezeichneter Gelehrter und Schriftsteller. Umberto Eco, das war nicht nur der überall auf der Welt geachtete Autor eines Romans, den alle kannten, und der Schöpfer einer Zeichentheorie, die es auf die Literaturlisten unzähliger kulturwissenschaftlicher und linguistischer Seminare gebracht hatte. Umberto Eco, das war vielmehr auch der gemütliche, wohlmeinende Professor der Universität Bologna, der bärtige, verschmitzte Mann mit der großen Brille, der über eine riesige Bibliothek verfügte und zu jeder Frage die interessantesten Werke auch längst vergangener Jahrhunderte aufzuschlagen wusste, immer an der entscheidenden Stelle.
Unter dem Titel „Auf den Schultern von Riesen“ ist nun auch auf Deutsch eine Sammlung von zwölf Vorträgen erschienen, die Umberto Eco über ebenso viele Jahre hinweg bei einem sommerlichen Kulturfestival in Mailand gehalten hat. Sie handeln von Themen, die man von ihm kennt: von der Frage, was schön und was hässlich sei, von der Frage nach dem Absoluten, von der Unterscheidung zwischen realen und fiktiven Personen, vom Wesen der Verschwörung. Und wie immer zieht Eco bei der Erörterung dieser Probleme nicht nur die gesamte abendländische Geistesgeschichte heran, sondern wildert auch in der populären Kultur, beim Grafen von Monte Christo zum Beispiel, oder in „Casablanca“, dem Film mit Ingrid Bergman und Humphrey Bogart. Oder er wünscht sich, auf einer polynesischen Insel Schiffbruch zu erleiden, in Gesellschaft von Sharon Stone. Stets geht man belehrt aus der Lektüre hervor, und auch wenn der Leser am Ende immer noch nicht weiß, woran er zuverlässig eine Verschwörungstheorie erkennen kann, so hat er doch zumindest verstanden, wie verbreitet und fruchtbar solche Lehren sind – und dass die Übergänge zwischen den Ideen der Rosenkreuzer und den Romanen von Dan Brown allenfalls graduell sind.
Die Wirklichkeit zu erkennen, hatte William von Baskerville, der Held des Romans „Der Name der Rose“, gelehrt, das heiße: in die vermeintlich regellose Vielfalt der Erscheinungen eine Ordnung zu bringen, von der man zwar wisse, dass sie nur bedingt haltbar, weil an den Einzelnen gebunden sei, die aber doch das Einzige sei, woran man sich halten könne. In diesem Franziskaner verbarg sich, was die meisten Leser dieses Buchs bald verstanden, eine Selbstdarstellung seines Autors. Das gilt nicht nur in einem persönlichen Sinn. Denn so, wie der Mönch aus dem Spätmittelalter an die Regeln seines Ordens und die Lehren der Kirchenväter gebunden erschien, denen er selbstbewusst und kritisch gegenübertrat, so trat Umberto Eco als ein freisinniger Gelehrter in gleichwohl scholastischer Tradition auf. Dieses geschichtliche Erbe, als Amt begriffen, stünde einem nordeuropäischen Professor, den Mainzer Philosophen Kurt Flasch ausgenommen, nicht mehr zur Verfügung. In Umberto Eco aber blieb die Geschichte der europäischen Universität lebendig, auch in ihrer engen Bindung an die katholische Kirche, weshalb sowohl Thomas von Aquin als auch Joseph Ratzinger, erst als Kardinal, dann als Papst Benedikt XVI., zu den wiederkehrenden Gestalten dieser Vorträge gehören – der eine als zwar historische, aber doch auch philosophische Autorität, der andere als eher unfertiger Denker.
Die italienische Universität hat in Deutschland nicht den besten Ruf. Zu hierarchisch scheinen die Institutionen aufgebaut zu sein, zu sehr auf positives Wissen ausgerichtet das Studium, zu formalisiert die Examina. Aus den Vorträgen von Umberto Eco lässt sich, gleichsam als essenzieller Nebeneffekt, lernen, dass auch die auf diese Weise noch immer lebendige Scholastik eine andere Seite besitzt. In Gestalt von Eco tritt einem eine Gelehrtheit gegenüber, zu der es hierzulande kein Äquivalent gibt. Sie erscheint in Gestalt imaginärer Netze, in denen sich das antike Rom mit dem modernen Mailand verbindet und in die das heutige Italien gleichsam eingesponnen wird. Auf dieser Grundlage mag geschehen, was geschehen will: Immer erscheint es gebunden an sehr lange und sehr melancholische Traditionen, die letztlich weniger wissenschaftlicher als vielmehr sozialer oder kultureller Natur sind.
Über die Rosenkreuzer schreibt Eco, sie hätten im 17. Jahrhundert von einer Geheimgesellschaft geträumt, „die Gold, Silber und Edelsteine im Überfluss besitzt und an die Könige verteilt, damit diese ihren Pflichten und legitimen Zielen nachkommen können“. Man muss nur die materiellen in immaterielle Güter übersetzen, um zu verstehen, was Umberto Eco an einer solchen Verschwörung faszinierte. Jeder Vortrag muss ihm als ein Kassiber erschienen sein, jedes Buch als konspirativer Akt der Vermittlung zwischen einer nie hinreichend aufgeklärten Gegenwart und ihren intellektuellen Möglichkeiten. Denn Zeichen sind die Dinge, und keineswegs deutungslos.
THOMAS STEINFELD
Umberto Eco: Auf den Schultern von Riesen. Das Schöne, die Lüge und das Geheimnis. Aus dem Italienischen von Martina Kempter und Burkhart Kroeber. Carl Hanser Verlag, München 2019. 416 Seiten, 32 Euro.
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Gelehrter in gleichwohl
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensentin Philine Sauvageot hat sich von den zwölf Vorlesungen, die Umberto Eco kurz vor seinem Tod auf dem Mailänder Kulturfestival "La Milanesiana" hielt, gern zum Denken anregen lassen. Sie bewundert, wie der "Universalgelehrte" den jahrhundertealten Hochkultur-Kanon reflektiert und auch vieles andere, das ihn gerade interessierte. Mit etlichen "humorvollen Seitenhieben" hangelt Eco sich ihr zufolge an seiner These entlang, dass alle Themen sich intertextuell aufeinander beziehen und die Verbindungen sichtbar gemacht werden können. Eco zeigt sich ihr als Denkerriese, auf dessen gelehrten Schultern die Welt für sie gleich viel interessanter aussieht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Lesen Sie dieses Buch und Sie werden blitzgescheiter, aber vor allem - weil kulturgeschichtlich informiert - entspannter auf die Gegenwart blicken." Marc Reichwein, Welt am Sonntag, 12.05.19
"In diesem Buch wird Eco zu einem Riesen der Kultur- und Geistesgeschichte, auf dessen gelehrte Schultern man sich setzen kann, um unsere Welt besser zu verstehen." Philine Sauvaageot, Deutschlandfunk Büchermarkt, 29.11.19
"Auf den Schultern von Riesen" zeichnet, in lockeren, leserfreundlichen Aufsatzformaten und zudem schön illustriert, das Denken des Umberto Eco in seiner Klarheit und seiner Lust an der Abschweifung nach." Jörg Schieke, MDR Kultur, 28.05.19
"Eco ... führt in einem köstlichen Streifzug durch die Literaturgeschichte vor, wie auch die gelungensten Werke von belanglosen Partien leben, ohne die wir die poetischen Verzückungsspitzen wohl gar nicht ertragen könnten." Manfred Koch, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.07.19
"In diesem Buch wird Eco zu einem Riesen der Kultur- und Geistesgeschichte, auf dessen gelehrte Schultern man sich setzen kann, um unsere Welt besser zu verstehen." Philine Sauvaageot, Deutschlandfunk Büchermarkt, 29.11.19
"Auf den Schultern von Riesen" zeichnet, in lockeren, leserfreundlichen Aufsatzformaten und zudem schön illustriert, das Denken des Umberto Eco in seiner Klarheit und seiner Lust an der Abschweifung nach." Jörg Schieke, MDR Kultur, 28.05.19
"Eco ... führt in einem köstlichen Streifzug durch die Literaturgeschichte vor, wie auch die gelungensten Werke von belanglosen Partien leben, ohne die wir die poetischen Verzückungsspitzen wohl gar nicht ertragen könnten." Manfred Koch, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.07.19