Am frühen Morgen aus dem Haus treten - in den wilden, überwachsenen, noch im Schatten versunkenen Garten. Die Kühle, die Stille, das Rauschen der Blätter, das Aufblitzen der Sonne in den Bäumen, das Tanzen der Lichtflecken auf dem Gras. Auf die ersten Gäste warten, nichts vorhaben, nichts müssen, einfach in den Tag hineinleben - in einen Datscha-Tag. Sicher schaut jemand vorbei oder man geht zu den Nachbarn oder es kommen Gäste aus der Stadt: Im Grunde bedeutet die Datscha Zusammensein. Und noch viel mehr. Sie ist eine Institution, ein Stück russischer Geschichte und Kultur: Auf der Datscha lebten Anna Karenina und Oblomow, Turgenjews Familienvater ging hier der Liebe zur Nachbarin nach, und Gorki rechnete mit der Intelligenzija ab im Stück Datschniki, zu deutsch Sommergäste. Im vorliegenden Band Auf der Datscha erzählt Marina Rumjanzewa die Geschichte der Datscha, von ihren Anfängen unter Peter dem Großen bis in die heutige Zeit. Anschaulich begleitet und illustriert wird diese kleine Kulturgeschichte mit Texten aus der russischen Literatur, von Puschkin über Anton Tschechow bis Michail Schischkin und Tatjana Tolstaja. Und abgerundet durch einen Datscha-Bilderbogen auf der Innenseite des Umschlages.
Die Zeit zwischen Ende Juni und Anfang September, die bei den Franzosen erst mit der "rentrée" (der "Rückkehr") beendet wird und von den Deutschen einfach unbezeichnet bleibt - niemand huldigte ihr so leidenschaftlich wie die Russen. Peter der Große überließ ein paar dekadenten Adeligen zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts den Finnischen Meerbusen als Bauland. In der Nähe seiner Sommerresidenz entstanden prunkvolle Domizile, deren alleiniger Nutzen in der Zerstreuung ihrer Besitzer lag. Mit der Eisenbahn kamen später "die Kapitalisten", erzählt Marina Rumjanzewa in ihrem Buch über das Datschaleben, dann "die Bolschewisten", "die Intelligenzija" und inklusive Stalin alles, was sich später dafür halten sollte. Weil die Datscha immer schon Refugium war, wurde sie schnell zum Inbegriff des Apolitischen. So überstand sie die Systemwechsel der letzen dreihundert Jahre mehr oder weniger unbeschadet. Der Literatur hat die Datscha einen ihrer größten Dienste erwiesen. Nahezu alle russischen Schriftsteller wirkten aus den Wäldern des Reichs heraus. "Ich liebe Sie, Sie sind mein Leben, mein Glück - alles! Verzeihen Sie mir dieses Geständnis, aber es geht über meine Kraft, zu leiden und zu schweigen." So kann nur ein toll gewordener Datschnik reden, den Tschechow zum "Rendezvous in der Sommerfrische" schickt. Noch zwölf weitere Texte, darunter Erstübersetzungen von Michael Schischkin oder Nadescha Teffi, bereichern dieses heitere Büchlein über die Kunst, den Sommer wunschlos glücklich auf einer Waldlichtung zu verbringen. (Marina Rumjanzewa: "Auf der Datscha". Eine kleine Kulturgeschichte und ein Lesebuch. Dörlemann Verlag, Zürich 2009. 274 S., mit Bilderbogen, geb., 21,90 [Euro].) teut
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