Im Jahr 1960 kehrt V. S. Naipaul aus London in sein Heimatland Trinidad zurück. Seine Reise nach Westindien wird zu einer faszinierenden Begegnung eines jungen Romanciers mit dem Land seiner Jugend, das dem Schatten der Sklaverei bis in unsere Zeit nicht entfliehen kann.
Auf Einladung der dortigen Regierung reist V. S. Naipaul 1960 in seine Heimat Trinidad zurück, die ihm nach zehn Jahren Aufenthalt in England in einem völlig neuen Licht erscheint. Naipaul wählt auf einem spanischen Auswandererschiff die alte Route jener zwanzig Millionen Sklaven, die einst aus Afrika in die Karibik verschleppt wurden und dort in elenden Verhältnissen zugrunde gingen.
So nähert sich der junge Schriftsteller Westindien voller Neugier, aber auch Vorahnung, und erlebt auf seiner Reise mit fünf Stationen die faszinierende Vielfalt westindischer Lebenskultur.
In Trinidad, dem Land seiner Jugend, begegnen ihm Menschen, die sich gänzlich dem amerikanischen Lebensstil überlassen zu haben scheinen. Und doch ist dieses Land eine sich ständig wandelnde Einwanderergesellschaft, geprägt von einer merkwürdigen Gegenwartsbesessenheit, die ihre tiefen Wurzeln in der Sklaven- und Kolonialgesellschaft hat. Naipaul schildert die Weite Britisch-Guayanas, die heruntergekommene Provinzeleganz von Paramaribo im holländischen Surinam, erspürt in Martinique die erstaunliche Wiedergeburt des französischen Klassendünkels und auf Jamaika den Freiheitsdrang der Rasta Fari.
Der präzise beobachtende Autor vermittelt in diesem Buch Impressionen von westindischer Kultur, die - bei aller Urwüchsigkeit - vor allem doch eine geborgte Kultur geblieben ist: das Erbe des Kolonialismus ist allzu mächtig.
Auf Einladung der dortigen Regierung reist V. S. Naipaul 1960 in seine Heimat Trinidad zurück, die ihm nach zehn Jahren Aufenthalt in England in einem völlig neuen Licht erscheint. Naipaul wählt auf einem spanischen Auswandererschiff die alte Route jener zwanzig Millionen Sklaven, die einst aus Afrika in die Karibik verschleppt wurden und dort in elenden Verhältnissen zugrunde gingen.
So nähert sich der junge Schriftsteller Westindien voller Neugier, aber auch Vorahnung, und erlebt auf seiner Reise mit fünf Stationen die faszinierende Vielfalt westindischer Lebenskultur.
In Trinidad, dem Land seiner Jugend, begegnen ihm Menschen, die sich gänzlich dem amerikanischen Lebensstil überlassen zu haben scheinen. Und doch ist dieses Land eine sich ständig wandelnde Einwanderergesellschaft, geprägt von einer merkwürdigen Gegenwartsbesessenheit, die ihre tiefen Wurzeln in der Sklaven- und Kolonialgesellschaft hat. Naipaul schildert die Weite Britisch-Guayanas, die heruntergekommene Provinzeleganz von Paramaribo im holländischen Surinam, erspürt in Martinique die erstaunliche Wiedergeburt des französischen Klassendünkels und auf Jamaika den Freiheitsdrang der Rasta Fari.
Der präzise beobachtende Autor vermittelt in diesem Buch Impressionen von westindischer Kultur, die - bei aller Urwüchsigkeit - vor allem doch eine geborgte Kultur geblieben ist: das Erbe des Kolonialismus ist allzu mächtig.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.07.1999Nescafé in Trinidad
V. S. Naipaul reist auf der Sklavenroute nach Westindien
Die Reise, die V. S. Naipaul hier beschreibt, ist lange her. 1960 erhielt der Autor vom Premierminister Trinidads, Eric Williams, ein Stipendium und den Auftrag, einige karibische Staaten zu bereisen und seine Eindrücke in einem Buch festzuhalten. Das Ergebnis, "The Middle Passage", erschien zwei Jahre darauf. Ins Deutsche übersetzt worden ist es erst jetzt. Dabei ist Naipaul - die Initialen stehen für die klangvollen indischen Vornamen Vidiadhar Surajprasad - bei uns kein vernachlässigter Autor; seine Romane und Reiseberichte aus Indien, Afrika, Nord-, Mittel- und Südamerika liegen fast vollständig vor. Warum die Reise gerade dieses Buches, eines klassischen - und umstrittenen - Textes über die Dritte Welt, 37 Jahre gebraucht hat, gehört zu den Rätseln des deutschen Verlagswesens.
Spät, aber nicht zu spät: Die Eindrücke Naipauls sind alt, aber nicht veraltet, und ihre Lektüre ist auch heute noch von einigem Interesse. Zum einen haben sich die Verhältnisse auf Trinidad und in British Guyana, in Surinam, auf Martinique und Antigua (dies die Stationen der siebenmonatigen Reise und entsprechend die fünf Kapitel des Buches) zwar beträchtlich, aber nicht grundsätzlich geändert, jedenfalls nicht in den Bereichen, auf die es dem Autor ankommt. Zum zweiten ist der Bericht ein wichtiges Dokument in der intellektuellen und literarischen Entwicklung eines der bedeutendsten lebenden Schriftsteller - und drittens auch noch glänzend geschrieben.
Das Motto, das Naipaul von einem Westindienfahrer aus dem neunzehnten Jahrhundert übernommen hat, schlägt gleich den Ton an, der sein Buch durchziehen wird: "Es gibt hier keine Menschen im eigentlichen Sinne des Wortes, Menschen mit eigenem Charakter und eigenem Ziel." In Naipauls eigenen Worten: "Britisch-Westindien hat nichts hervorgebracht." So heißt es am Anfang der Reise. Und am Ende: "Jeden Tag sah ich das gleiche - Arbeitslosigkeit, Häßlichkeit, Überbevölkerung, Rasse" (gemeint ist: Rassenkonflikte). Überaus deprimierende Eindrücke also. Sie lassen sich auf einen Nenner bringen: Die Bewohner der karibischen Staaten, einer Herrenkultur ausgesetzt (sei sie nun englisch oder spanisch, französisch, holländisch oder schließlich amerikanisch) versuchen sich ihr anzupassen, verachten sich selbst, weil es ihnen nicht gelingt, und geben diese Verachtung nach unten weiter.
Schon auf dem Schiff, mit dem Naipaul von England nach Trinidad reist, stellt er unter den farbigen Passagieren einen subtilen Rassismus der Farbigen untereinander fest. Jeder, wie tief er auch auf der sozialen Stufenleiter steht, findet noch einen, auf den er herabsehen kann - weil seine Hautfarbe noch dunkler ist, oder weil er von einer noch weniger angeseheneren Insel kommt. Für einen (schwarzen) Mitreisenden etwa sind die Schwarzen von Jamaica "Tiere", und das sind für die Bewohner Trinidads auch die Schwarzen aus Grenada.
Westindien, dessen Ureinwohner ausgerottet wurden und das mit schwarzen Sklaven, indischen Kontraktarbeitern und Glücksrittern und Pechvögeln aus allen Weltgegenden besiedelt wurde, hat keine Identität ausbilden können, analysiert Naipaul, weder individuell noch kollektiv. Der Begriff "multikulturell" war damals noch nicht in Umlauf, er wäre auch allzu beschönigend für dieses Konglomerat von Gruppierungen unterschiedlichster Herkunft, aus ihren Traditionen gerissen, brutalen Modernisierungsschüben ausgeliefert, an sich selbst zweifelnd und verzweifelnd.
Am besten kennt Naipaul naturgemäß die Insel Trinidad, wo er 1932 in eine Hindu-Großfamilie hineingeboren wurde und die ersten achtzehn Lebensjahre verbrachte. Ein Stipendium führte ihn nach England, das "gelobte Land", wo er Literatur studierte und sich - vermeintlich - vollständig assimilierte. Mit gemischten Gefühlen, ja mit ausgesprochener Angst nähert er sich jetzt seiner Heimat. Und stößt wie einen Schwall Galle das bittere Fazit seiner Jugenderfahrungen hervor: "Ich wußte, daß Trinidad unbedeutend war. Jede Person von Rang galt als unehrlich und verächtlich. Wir lebten in einer Gesellschaft, die sich keine Helden gönnte. Es war außerdem ein Ort, wo ,eingebildet' ein häufig gebrauchtes Schimpfwort war, Ausdruck des Ressentiments gegen jeden, der ungewöhnliche Fähigkeiten besaß. In einer Gesellschaft, die nichts produzierte, niemals ihren Wert beweisen mußte und niemals aufgefordert war, etwas zu leisten, wurden solche Fähigkeiten nicht benötigt. Begabung, etwas Sinnloses, hatte der Bewohner Trinidads durch Intrigantentum ersetzt . . ."
Trinidad, so stellt er fest, verfügt jetzt über Nachtclubs, Bars mit Klimaanlage und Drive-in-Kinos. Es sind Attribute einer Modernität, die sich auf die Nachäffung der amerikanischen Vorbilder beschränkt. Bis hin zu grotesken Details: "Den ausgezeichneten Kaffee, der auf Trinidad angebaut wird, trinken nur die ganz Armen und ein paar hier ansässige Engländer der Mittelschicht. Alle anderen trinken Nescafé, Maxwell House oder Chase and Sanborn, die zwar teurer, aber erstrebenswert sind, weil in den Zeitschriften dafür Werbung gemacht wird."
Rassismus, Entwurzelung, Entfremdung und Opportunismus findet der Reisende auf allen Stationen. In British Guyana verzweifelt er an der "malariahaften Trägheit der Guyanesen"; in Surinam, dieser "tulpenhaften Erweiterung Hollands", amüsiert er sich über die Versuche, das Holländische durch einen kreolischen Dialekt zu ersetzen, zeigt sich aber beeindruckt vom "Negerenglischen", das sich "täglich" weiterentwickelte. Martinique, diese Fiktion eines karibischen Frankreichs, stößt ihn vielleicht am meisten ab ("koloniales Affentheater"), und in den Erlösungsphantasien der Rastafari auf Antigua kann er nur eine Massenneurose erkennen.
Die Tonlage des Buches ist unbarmherzig, vernichtend, oft zynisch, für Anhänger der "political correctness" ganz und gar unerträglich. Allerdings ist es auch schon eine Weile her, daß man in der Dritten Welt die Hoffnung der Ersten sehen wollte. Was bei Naipaul nach wie vor irritiert, ist die fehlende Verknüpfung von Ursache und Wirkung. Natürlich verschweigt der Autor nicht die Sklaverei, dieses singuläre Menschheitsverbrechen, und deren bis heute reichende, wie gesellschaftliches Dynamit wirkende Folgeschäden. Er steht nicht an, die einstigen Lebensbedingungen etwa holländischer Sklaven mit den Verhältnissen deutscher Konzentrationslager zu vergleichen.
Aber Naipaul leitet daraus nicht eine verständnisvollere - oder wenigstens historisch argumentierende - Sichtweise der von ihm beobachteten Mißstände ab. Vielmehr tendiert er dazu, den Opfern selbst die Schuld an ihrer Misere zu geben. Überdies - und das ist ein aufschlußreicher blinder Fleck - kommt er nicht auf die Idee, die beobachteten Entfremdungsphänomene auch an sich selbst zu prüfen. Immerhin hat Naipaul selbst eine Sozialisation hinter sich, die zwar für einen Angehörigen einer kolonisierten Gruppe einen enormen Aufstieg bedeutet, aber gemeinhin mit verstörender Unsicherheit über die eigene Identität verbunden ist. Genau davon gibt Naipauls Werk, das essayistische und das erzählende, ja Zeugnis; anfangs implizit, später immer bewußter. "Auf der Sklavenroute" aber gehört zum Frühwerk des Autors, in dem sich der abrechnende Tonfall mit einer strikt eingehaltenen Außenperspektive und der demonstrativen Selbstbehauptung als in der britischen Kultur angekommener Schriftsteller verbindet. Auf keiner Seite des Buches, das ständig von Rassen und Hauttönungen spricht, wird erkennbar, daß Naipual selbst farbig ist.
Es bleibt späteren Büchern des Autors vorbehalten, vor allem seinem autobiographischen Spätwerk, sich über die eigene Verstrickung Rechenschaft abzulegen: über die verdrängten indischen Wurzeln ebenso wie über die unkritische Übernahme des britischen Modells. Erst mit zunehmendem Alter hat dieser große Weltreisende auch eine Reise ins eigene Innere, in den anderen "dunklen Kontinent" angetreten.
Davon ist "The Middle Passage" allerdings noch weit entfernt. Es ist ein Dokument einer noch beschränkten Betrachtungsweise - übrigens auch einer teilweise blasierten und arroganten Touristenmentalität (der Kaffee ist nirgends gut genug) und mangelnder Sensibilität ("Ich hatte mir große Mühe gegeben, mich für die Indianer zu interessieren, aber es war mir nicht gelungen"). Überraschenderweise blitzen in all der Verbitterung dann und wann Funken von Humor auf, ausgerechnet etwa auf einer Expedition ins trostlose Hinterland von British Guyana, mit nur auf dem Papier (und in der stolzen Statistik) bestehenden "postos medicos", einem autark - mit einer Unmenge Polyäthylenbeuteln - reisenden Amerikaner und einer grotesken Missionsstation, in der unentwegt geistliche Lieder gesungen werden und Naipaul von der Angst geschüttelt wird, sich das Gelbfieber einzufangen. Er ist dann doch heil zurückgekommen.
MARTIN EBEL.
V. S. Naipaul: "Auf der Sklavenroute. Meine Reise nach Westindien". Aus dem Englischen übersetzt von Nikolaus Stingl. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 1999. 304 S., geb., 39,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
V. S. Naipaul reist auf der Sklavenroute nach Westindien
Die Reise, die V. S. Naipaul hier beschreibt, ist lange her. 1960 erhielt der Autor vom Premierminister Trinidads, Eric Williams, ein Stipendium und den Auftrag, einige karibische Staaten zu bereisen und seine Eindrücke in einem Buch festzuhalten. Das Ergebnis, "The Middle Passage", erschien zwei Jahre darauf. Ins Deutsche übersetzt worden ist es erst jetzt. Dabei ist Naipaul - die Initialen stehen für die klangvollen indischen Vornamen Vidiadhar Surajprasad - bei uns kein vernachlässigter Autor; seine Romane und Reiseberichte aus Indien, Afrika, Nord-, Mittel- und Südamerika liegen fast vollständig vor. Warum die Reise gerade dieses Buches, eines klassischen - und umstrittenen - Textes über die Dritte Welt, 37 Jahre gebraucht hat, gehört zu den Rätseln des deutschen Verlagswesens.
Spät, aber nicht zu spät: Die Eindrücke Naipauls sind alt, aber nicht veraltet, und ihre Lektüre ist auch heute noch von einigem Interesse. Zum einen haben sich die Verhältnisse auf Trinidad und in British Guyana, in Surinam, auf Martinique und Antigua (dies die Stationen der siebenmonatigen Reise und entsprechend die fünf Kapitel des Buches) zwar beträchtlich, aber nicht grundsätzlich geändert, jedenfalls nicht in den Bereichen, auf die es dem Autor ankommt. Zum zweiten ist der Bericht ein wichtiges Dokument in der intellektuellen und literarischen Entwicklung eines der bedeutendsten lebenden Schriftsteller - und drittens auch noch glänzend geschrieben.
Das Motto, das Naipaul von einem Westindienfahrer aus dem neunzehnten Jahrhundert übernommen hat, schlägt gleich den Ton an, der sein Buch durchziehen wird: "Es gibt hier keine Menschen im eigentlichen Sinne des Wortes, Menschen mit eigenem Charakter und eigenem Ziel." In Naipauls eigenen Worten: "Britisch-Westindien hat nichts hervorgebracht." So heißt es am Anfang der Reise. Und am Ende: "Jeden Tag sah ich das gleiche - Arbeitslosigkeit, Häßlichkeit, Überbevölkerung, Rasse" (gemeint ist: Rassenkonflikte). Überaus deprimierende Eindrücke also. Sie lassen sich auf einen Nenner bringen: Die Bewohner der karibischen Staaten, einer Herrenkultur ausgesetzt (sei sie nun englisch oder spanisch, französisch, holländisch oder schließlich amerikanisch) versuchen sich ihr anzupassen, verachten sich selbst, weil es ihnen nicht gelingt, und geben diese Verachtung nach unten weiter.
Schon auf dem Schiff, mit dem Naipaul von England nach Trinidad reist, stellt er unter den farbigen Passagieren einen subtilen Rassismus der Farbigen untereinander fest. Jeder, wie tief er auch auf der sozialen Stufenleiter steht, findet noch einen, auf den er herabsehen kann - weil seine Hautfarbe noch dunkler ist, oder weil er von einer noch weniger angeseheneren Insel kommt. Für einen (schwarzen) Mitreisenden etwa sind die Schwarzen von Jamaica "Tiere", und das sind für die Bewohner Trinidads auch die Schwarzen aus Grenada.
Westindien, dessen Ureinwohner ausgerottet wurden und das mit schwarzen Sklaven, indischen Kontraktarbeitern und Glücksrittern und Pechvögeln aus allen Weltgegenden besiedelt wurde, hat keine Identität ausbilden können, analysiert Naipaul, weder individuell noch kollektiv. Der Begriff "multikulturell" war damals noch nicht in Umlauf, er wäre auch allzu beschönigend für dieses Konglomerat von Gruppierungen unterschiedlichster Herkunft, aus ihren Traditionen gerissen, brutalen Modernisierungsschüben ausgeliefert, an sich selbst zweifelnd und verzweifelnd.
Am besten kennt Naipaul naturgemäß die Insel Trinidad, wo er 1932 in eine Hindu-Großfamilie hineingeboren wurde und die ersten achtzehn Lebensjahre verbrachte. Ein Stipendium führte ihn nach England, das "gelobte Land", wo er Literatur studierte und sich - vermeintlich - vollständig assimilierte. Mit gemischten Gefühlen, ja mit ausgesprochener Angst nähert er sich jetzt seiner Heimat. Und stößt wie einen Schwall Galle das bittere Fazit seiner Jugenderfahrungen hervor: "Ich wußte, daß Trinidad unbedeutend war. Jede Person von Rang galt als unehrlich und verächtlich. Wir lebten in einer Gesellschaft, die sich keine Helden gönnte. Es war außerdem ein Ort, wo ,eingebildet' ein häufig gebrauchtes Schimpfwort war, Ausdruck des Ressentiments gegen jeden, der ungewöhnliche Fähigkeiten besaß. In einer Gesellschaft, die nichts produzierte, niemals ihren Wert beweisen mußte und niemals aufgefordert war, etwas zu leisten, wurden solche Fähigkeiten nicht benötigt. Begabung, etwas Sinnloses, hatte der Bewohner Trinidads durch Intrigantentum ersetzt . . ."
Trinidad, so stellt er fest, verfügt jetzt über Nachtclubs, Bars mit Klimaanlage und Drive-in-Kinos. Es sind Attribute einer Modernität, die sich auf die Nachäffung der amerikanischen Vorbilder beschränkt. Bis hin zu grotesken Details: "Den ausgezeichneten Kaffee, der auf Trinidad angebaut wird, trinken nur die ganz Armen und ein paar hier ansässige Engländer der Mittelschicht. Alle anderen trinken Nescafé, Maxwell House oder Chase and Sanborn, die zwar teurer, aber erstrebenswert sind, weil in den Zeitschriften dafür Werbung gemacht wird."
Rassismus, Entwurzelung, Entfremdung und Opportunismus findet der Reisende auf allen Stationen. In British Guyana verzweifelt er an der "malariahaften Trägheit der Guyanesen"; in Surinam, dieser "tulpenhaften Erweiterung Hollands", amüsiert er sich über die Versuche, das Holländische durch einen kreolischen Dialekt zu ersetzen, zeigt sich aber beeindruckt vom "Negerenglischen", das sich "täglich" weiterentwickelte. Martinique, diese Fiktion eines karibischen Frankreichs, stößt ihn vielleicht am meisten ab ("koloniales Affentheater"), und in den Erlösungsphantasien der Rastafari auf Antigua kann er nur eine Massenneurose erkennen.
Die Tonlage des Buches ist unbarmherzig, vernichtend, oft zynisch, für Anhänger der "political correctness" ganz und gar unerträglich. Allerdings ist es auch schon eine Weile her, daß man in der Dritten Welt die Hoffnung der Ersten sehen wollte. Was bei Naipaul nach wie vor irritiert, ist die fehlende Verknüpfung von Ursache und Wirkung. Natürlich verschweigt der Autor nicht die Sklaverei, dieses singuläre Menschheitsverbrechen, und deren bis heute reichende, wie gesellschaftliches Dynamit wirkende Folgeschäden. Er steht nicht an, die einstigen Lebensbedingungen etwa holländischer Sklaven mit den Verhältnissen deutscher Konzentrationslager zu vergleichen.
Aber Naipaul leitet daraus nicht eine verständnisvollere - oder wenigstens historisch argumentierende - Sichtweise der von ihm beobachteten Mißstände ab. Vielmehr tendiert er dazu, den Opfern selbst die Schuld an ihrer Misere zu geben. Überdies - und das ist ein aufschlußreicher blinder Fleck - kommt er nicht auf die Idee, die beobachteten Entfremdungsphänomene auch an sich selbst zu prüfen. Immerhin hat Naipaul selbst eine Sozialisation hinter sich, die zwar für einen Angehörigen einer kolonisierten Gruppe einen enormen Aufstieg bedeutet, aber gemeinhin mit verstörender Unsicherheit über die eigene Identität verbunden ist. Genau davon gibt Naipauls Werk, das essayistische und das erzählende, ja Zeugnis; anfangs implizit, später immer bewußter. "Auf der Sklavenroute" aber gehört zum Frühwerk des Autors, in dem sich der abrechnende Tonfall mit einer strikt eingehaltenen Außenperspektive und der demonstrativen Selbstbehauptung als in der britischen Kultur angekommener Schriftsteller verbindet. Auf keiner Seite des Buches, das ständig von Rassen und Hauttönungen spricht, wird erkennbar, daß Naipual selbst farbig ist.
Es bleibt späteren Büchern des Autors vorbehalten, vor allem seinem autobiographischen Spätwerk, sich über die eigene Verstrickung Rechenschaft abzulegen: über die verdrängten indischen Wurzeln ebenso wie über die unkritische Übernahme des britischen Modells. Erst mit zunehmendem Alter hat dieser große Weltreisende auch eine Reise ins eigene Innere, in den anderen "dunklen Kontinent" angetreten.
Davon ist "The Middle Passage" allerdings noch weit entfernt. Es ist ein Dokument einer noch beschränkten Betrachtungsweise - übrigens auch einer teilweise blasierten und arroganten Touristenmentalität (der Kaffee ist nirgends gut genug) und mangelnder Sensibilität ("Ich hatte mir große Mühe gegeben, mich für die Indianer zu interessieren, aber es war mir nicht gelungen"). Überraschenderweise blitzen in all der Verbitterung dann und wann Funken von Humor auf, ausgerechnet etwa auf einer Expedition ins trostlose Hinterland von British Guyana, mit nur auf dem Papier (und in der stolzen Statistik) bestehenden "postos medicos", einem autark - mit einer Unmenge Polyäthylenbeuteln - reisenden Amerikaner und einer grotesken Missionsstation, in der unentwegt geistliche Lieder gesungen werden und Naipaul von der Angst geschüttelt wird, sich das Gelbfieber einzufangen. Er ist dann doch heil zurückgekommen.
MARTIN EBEL.
V. S. Naipaul: "Auf der Sklavenroute. Meine Reise nach Westindien". Aus dem Englischen übersetzt von Nikolaus Stingl. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 1999. 304 S., geb., 39,90 DM.
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