Von der Obsession des Erinnerns zur Entschlüsselung des Gedächtnisses. Der Weg des Eric Kandel
Eric Kandel, der bedeutendste Gedächtnisforscher unserer Zeit, erinnert sich an sein Leben. Als Kind floh er 1939 vor den Nazis aus Wien nach New York. Mit großem erzählerischen Schwung schildert Kandel, wie ihn seine persönliche Suche nach der Erinnerung dazu brachte, sich erst der Geschichte, dann der Psychoanalyse und schließlich der neurobiologischen Forschung zuzuwenden, um eine neue Wissenschaft des menschlichen Denkens und Fühlens zu begründen.
Zwei Tage nach Eric Kandels neuntem Geburtstag bricht die Gewalt in sein Leben ein. Die Wohnung der Kandels wird von den Nazis geplündert, die jüdische Familie muss fliehen. Gemeinsam mit seinem Bruder trifft er 1939 in New York ein, erst Monate später gelingt es den Eltern nachzukommen. Aus dem Versuch zu begreifen, was ihm geschehen ist, erwächst bei Kandel eine Faszination für die Vergangenheit, für das Erinnern und Vergessen. Das führt ihn zunächst zum Studium der Geschichte und Literatur. Doch das Wien, das ihn nicht loslässt, die Stadt Schnitzlers und Musils, ist auch die Sigmund Freuds. Bei seiner Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse stößt Kandel jedoch rasch an die Grenzen dieses Fachs. Er wendet sich daher der biologischen Forschung zu. Es geht ihm um die wissenschaftliche Erklärung dessen, was Freud über psychische Prozesse, das Bewusste und das Unbewusste gesagt hat. Indem Kandel sein Leben Revue passieren lässt und seine Entwicklung als Forscher erzählt, beschreibt er, wie sich die moderne, neurobiologisch fundierte Wissenschaft des menschlichen Geistes entwickelt hat. Eine Autobiographie auf höchstem literarischem Niveau, geschrieben von einem analytischen Meisterdenker und getragen von großer politischer und menschlicher Weitsicht.
Die Gedächtnisforschung ist eine Schlüsseldisziplin des 21. Jahrhunderts.
Eric Kandel, der bedeutendste Gedächtnisforscher unserer Zeit, erinnert sich an sein Leben. Als Kind floh er 1939 vor den Nazis aus Wien nach New York. Mit großem erzählerischen Schwung schildert Kandel, wie ihn seine persönliche Suche nach der Erinnerung dazu brachte, sich erst der Geschichte, dann der Psychoanalyse und schließlich der neurobiologischen Forschung zuzuwenden, um eine neue Wissenschaft des menschlichen Denkens und Fühlens zu begründen.
Zwei Tage nach Eric Kandels neuntem Geburtstag bricht die Gewalt in sein Leben ein. Die Wohnung der Kandels wird von den Nazis geplündert, die jüdische Familie muss fliehen. Gemeinsam mit seinem Bruder trifft er 1939 in New York ein, erst Monate später gelingt es den Eltern nachzukommen. Aus dem Versuch zu begreifen, was ihm geschehen ist, erwächst bei Kandel eine Faszination für die Vergangenheit, für das Erinnern und Vergessen. Das führt ihn zunächst zum Studium der Geschichte und Literatur. Doch das Wien, das ihn nicht loslässt, die Stadt Schnitzlers und Musils, ist auch die Sigmund Freuds. Bei seiner Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse stößt Kandel jedoch rasch an die Grenzen dieses Fachs. Er wendet sich daher der biologischen Forschung zu. Es geht ihm um die wissenschaftliche Erklärung dessen, was Freud über psychische Prozesse, das Bewusste und das Unbewusste gesagt hat. Indem Kandel sein Leben Revue passieren lässt und seine Entwicklung als Forscher erzählt, beschreibt er, wie sich die moderne, neurobiologisch fundierte Wissenschaft des menschlichen Geistes entwickelt hat. Eine Autobiographie auf höchstem literarischem Niveau, geschrieben von einem analytischen Meisterdenker und getragen von großer politischer und menschlicher Weitsicht.
Die Gedächtnisforschung ist eine Schlüsseldisziplin des 21. Jahrhunderts.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Joachim Müller-Jung muß schon etwas genauer hinsehen, um den Nobelpreisträger Eric Kandel nicht als Anachronisten und seinen Lebensbericht nicht als Streitschrift im Gerangel zwischen analytischer und kognitiver Psychologie zu verkennen. So aber zeigt sich ihm der Hirnforscher als "Bewunderer Freuds" und seine "erfahrungsreiche" Autobiografie als Abriss der modernen Hirnforschung nach dem Zweiten Weltkrieg. Geht Kandel mit der Darlegung seiner molekularbiologischen Entdeckungen auch "womöglich allzu ausführlich" zu Werke, wie der Rezensent meint, so muss Müller-Jung auch einräumen, dass der ungeschulte Leser auf diese Weise erst ein Gefühl für die Materie bekommt. Ebenso verhält es sich, wenn Kandel sein Lieblingsforschungstier, den Seehasen, vorstellt. Hier werde dem Leser Kandels "reduktionistischer Ansatz in seiner Unentrinnbarkeit" vorgeführt. Dass sich der Forscher zwar um eine Darlegung der Positionen, im Übrigen aber in Zurückhaltung übt, besonders dort wo die verschiedenen Ansätze der Psychologie und Psychotherapie aufeinanderprallen, rechnet Müller-Jung Kandel hoch an. Zur ein oder anderen Vision wie etwa der KI-Forschung hätte der Rezensent allerdings noch gerne in paar Kommentare gehört.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.03.2006Da fällt dem Gedächtnisforscher der Seehase wieder ein
Die Psychoanalyse hat ihre große Zeit noch vor sich: Der Nobelpreisträger Eric Kandel berichtet von seinen Entdeckungen / Von Joachim Müller-Jung
Sich selbst als einen radikalen Reduktionisten zu bezeichnen in einer Epoche der Lebenswissenschaften, in welcher mit Begriffen wie Systembiologie eine neue Ganzheitlichkeit aufzublühen scheint, wirkt auf den ersten Blick furchtbar anachronistisch. Nach Eric Kandel aber ist genau das der einzige Weg, aus der stagnierenden Psychoanalyse Freuds endlich eine empirische Wissenschaft zu machen. Es geht um viel: Um unser Bewußtsein, den freien Willen, um die geistige Gesundheit, kurz: um die Lösung geistesgeschichtlich sehr alter und biologisch zugleich doch extrem junger existentieller Fragen.
Zu ihrer Lösung kann sich nach Auffassung Kandels ausschließlich eine Wissenschaftsrichtung berufen fühlen, die sich vollkommen den scheinbar unüberschaubaren materiellen Gegebenheiten verschreibt. Hirnscans von Psychiatriepatienten, Manipulationen des Bewußtseins, Pillen zum Aufputschen der Gedächtnisgene - das sind für Kandel die Mittel, um am Ende auch die Rätsel der Freudschen Strukturen des Geistes (Ich, Es und Über-Ich) zu entziffern und zu therapieren. Diese Mittel sind von einer beispiellosen Direktheit. Verstecken zwecklos, die Seele wird in jeder Ecke aufgestöbert.
Vordergründig gesehen könnte man diesen Lebensbericht eines Hirnforschers also als eine der vielen Streitschriften lesen, die der Konflikt der philosophisch und humanistisch stark geprägten analytischen Psychologie mit einer in den Jahren immer stärker biologisch und experimentell orientierten kognitiven Psychologie hervorgebracht hat. Kandel aber hatte sich aus diesen akademischen Gefechten stets vornehm zurückgehalten. Jetzt, fünf Jahre nach der Verleihung des Medizin-Nobelpreises an ihn und zwei seiner Kollegen, wissen wir, weshalb: Im Grunde seines Herzens ist Kandel ein Bewunderer Freuds, der in einer Zeit, in welcher die Wissenschaft nichts über chemische Synapsen oder elektrische Nervennetze wußte, Spuren des geistigen Lebens aufgezeichnet hatte, welche die Hirnforschung jetzt mit molekularen und bildgebenden Verfahren zu entschlüsseln sich anschickt.
Der gebürtige Österreicher Eric Kandel sieht sich wie Sigmund Freud als Teil des Wiener Bürgertums, humanistisch geprägt und hochgebildet, ein jüdischer Emigrantensohn, der sein akademisches und privates Glück in den Nachkriegsjahren in Nordamerika gefunden hat. Kandel nutzt hier seine an Erfahrungen und an Lebensjahren so reiche Autobiographie dazu, den Weg der modernen Hirnforschung nach dem Zweiten Weltkrieg nachzuzeichnen. Seine Kindheit in Wien, die Emigration, seine Ausbildung in einer amerikanischen psychiatrischen Klinik, schließlich seine Hinwendung zur reduktionistischen Experimentforschung unter der Maxime "eine Zelle zur Zeit" sind ein sprechendes Beispiel, wie die Biologie nach dem Zweiten Weltkrieg der Entdeckung der menschlichen Psyche eine radikale Wendung gegeben hat.
Eine Wende freilich, davon ist Kandel überzeugt, die prominent vorausgeahnt wurde. Immanuel Kant, sein wichtigster Kronzeuge, wenn es um die stofflichen und damit auch genetischen Wurzeln unserer neuronalen Anatomie geht, hatte mit seiner Vermutung einer "apriorischen" Erkenntnis endgültig den Kampf gegen Lockes Vorstellung von der tabula rasa des Geistes gewonnen. In der Architektur und den a priori angelegten Funktionsprinzipien des Gehirns vermuteten Kandels Lehrer Kant und bald er selbst die Geheimnisse des Geistes - zumindest die des Gedächtnisses und des Lernens.
Für seine molekularbiologischen Entdeckungen, die uns der Funktionsweise von Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis näher gebracht haben, wurde Kandel später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Sie stehen in allen chemischen und bioelektrischen Einzelheiten - für den ungeschulten Leser womöglich allzu ausführlich - im Zentrum dieses Buchs. Doch wer in das experimentelle Abenteuer einsteigt, bekommt schon bald ein Gefühl dafür, wie sich die Molekularbiologie mit einer in der Psychiatrie und Psychologie bis dahin undenkbaren Akribie und Systematik daranmachte, ein Geistespuzzle nach dem anderen lösen zu wollen. Die Biologie weigerte sich, so begründet Kandel seine Entscheidung für die reduktionistische Forschung, das Gehirn als "Blackbox, als eine Unbekannte, zu behandeln".
Der Clou dabei war die Unbekümmertheit, mit der sich die Geistforscher der neuen Generation von nun an den vermeintlich geistlosen "Tiermodellen" zuwandten. Der Psychoanalye war von Hause aus dieser Weg versperrt. Doch ihre ausschließliche Beschäftigung mit den notwendigerweisen subjektiven Berichten der Analytiker, so Kandel, hatte ihr spätestens von der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts an Fortschritte und tiefere Einblicke in die Verfaßtheit geistiger Phänomene unmöglich gemacht. Die Neurobiologen hingegen suchten sich ihre Analogien im Tierreich. Nachdem es die meisten von ihnen in den fünfziger und sechziger Jahren für unmöglich gehalten hatten, vierbeinige oder gar beinlose Stellvertreter für die Erforschung der Psyche zu akzeptieren, machten sich die Hirnforscher nun auf die Suche "nach dem idealen System", wie Kandel es formuliert. Er selbst war sich seiner Sache keineswegs sicher, auch wenn auf deutschem Boden Lorenz, Tindbergen, von Holst und Karl von Frisch seinerzeit gut und gerne die lebendigen Beispiele hätten liefern können. Doch Kandel entschied sich für Aplysia, den "Seehasen".
Es handelt sich um eine Meeresschnecke von wahrhaft karnickelhaften Dimensionen, dreißig Zentimeter lang und einige Pfund schwer. Sie hatte freilich einen unschätzbaren Vorteil: Die Zahl ihrer Nervenzellen ist überschaubar, genauso wie ihr Verhaltensrepertoire, und - was man kaum vermuten könnte - sie ist bemerkenswert lernfähig. Jedenfalls hatten Kandel und seine Mitstreiter ganz offensichtlich ein Vergnügen daran, grundlegende Verhaltensmuster wie die Pawlowsche Konditionierung, Habituation oder Sensitivierung an diesem plumpen Weichtier zu studieren. Die Übertragung von Nervensignalen an den Verbindungsstellen erwies sich als die entscheidende evolutionäre Innovation, um Lernen und Erinnern zu verstehen. Dergestalt, daß mit dem Lernen die Übertragung der chemischen Signale zwischen bestimmten Synapsen und damit ausgewählten Nervenbahnen verstärkt wird. Was länger als ein paar Minuten im Gedächtnis hängenbleiben soll, muß demnach so oft geübt werden, daß in den betreffenden Nervenzellen Gene angeschaltet werden, die nicht nur die Signalverstärkung an den Synapsen forcieren, sondern darüber hinaus zur Ausbildung zusätzlicher Verbindungen zwischen den entscheidenden Nervenzellen führen.
All das hätte Kandel in diesem Teil des Buches, das einem faszinierenden Werkstattbericht gleicht, allgemeinverständlich und lebendig umschreiben können. Aber wieder führt er den Leser in die anstrengende Tiefe. Ein auch diesmal, wie sich zeigt, schon deshalb lohnenswerter Ausflug in die Molekularbiologie, weil damit der reduktionistische Ansatz in seiner Unentrinnbarkeit vor Augen geführt wird. Ein gefundes Molekül leitet das Scheinwerferlicht auf zwei andere, die in der Kausalkette vor ihm stehen, und diese wiederum führen zu einem halben Dutzend Genen, die an der Steuerung dieses und einem Dutzend weiterer Gene und Moleküle beteiligt sind. Das Zwischenergebnis ist jeweils eine Schalttafel von Transmittern, Rezeptoren, Kinasen, Antagonisten und anderer Bestandteile, die für den Laien in einem biochemischen Nirwana enden.
Doch damit will es der Reduktionismus eines Kandel nicht bewenden lassen. Im zweiten Teil des Buches leitet er - diesmal jedoch bemerkenswert oberflächlich - auf eine neue Form der experimentellen Tiefenanalyse hin, die noch in den Kinderschuhen steckt und doch in Kandels Augen möglicherweise sogar zur "Renaissance der psychoanalytischen Theorie" führen könnte. Gemeint ist der Siegeszug der bildgebenden Verfahren in der Hirnforschung, der funktionalen Magnetresonanztomograpfie etwa oder der Positronenemissionstomographie. Die Physik soll den Blick ins Gehirn ebnen. Und diesmal geht es in Echtzeit endlich wieder ins menschliche Gehirn. Wenn es darum geht, den Neuronen beim Denken und Fühlen zuzuschauen, findet die Neurobiologie zurück zum Menschen - und damit, so Kandels Hoffnung, zu seinen eigenen Wurzeln. Wenn es gelingen könnte, mit Hirnscans die Wirkungsweisen von Psychotherapie und Psychoanalyse zu belegen, sei es vielleicht sogar möglich, wenigstens die Zweifel an den wirksamsten Behandlungsverfahren aus dem Weg zu räumen.
Das Ende aller akademischen Konflikte? Wohl kaum, denn Kandel macht mit seiner Forderung eines "biologischen Ansatzes" in der Psychotherapie allzu deutlich, daß es ihm nicht um das Zuschütten geistesgeschichtlicher Gräben geht. Die Seelen- und Hirnforschung wird aus seiner Sicht ihren Frieden nur finden, wenn sie den experimentellen Weg der vergangenen vierzig Jahre fortsetzt. Wohin das führen soll? Zu neuen Interventionen zum Beispiel, die den Psychopathen und Dementen von morgen helfen sollen, und hoffentlich zu einem näheren Verständnis unseres Bewußtseins. Wie schon bei der Diskussion um den freien Willen hält sich Kandel mit Spekulationen auf diesem neurobiologisch heiklen Gebiet auffällig zurück. Er läßt den Leser spüren, daß er den Optimismus eines Francis Crick, Christof Koch oder Daniel Dennett gerne teilen würde, was die Chancen für eine Entschlüsselung dieses ultimativen Geisteszustandes angeht. Aber er trägt auch seriös die Zweifel vor, die viele Fachleute mit der Vorstellung haben, das Ich sich selbst mechanistisch aufklären zu wollen.
Vermissen mag man Kandels Einschätzungen zu Visionären vom Schlage eines Ray Kurzweil, Bill Joy oder jenen utopistischen KI-Forschern, die die künstliche Schaffung von Gedächtnis und Bewußtsein als den letzten Zweck der Hirnforschung betrachten. Wer aber weniger an den Abzugsbildern der zeitgenössischen Illusionäre als an den ganz konkreten Phantasien der Hinforschung interessiert ist, wird mit der Lektüre reich belohnt.
Eric Kandel: "Auf der Suche nach dem Gedächtnis". Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes. Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober. Siedler Verlag, München 2006. 528 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Psychoanalyse hat ihre große Zeit noch vor sich: Der Nobelpreisträger Eric Kandel berichtet von seinen Entdeckungen / Von Joachim Müller-Jung
Sich selbst als einen radikalen Reduktionisten zu bezeichnen in einer Epoche der Lebenswissenschaften, in welcher mit Begriffen wie Systembiologie eine neue Ganzheitlichkeit aufzublühen scheint, wirkt auf den ersten Blick furchtbar anachronistisch. Nach Eric Kandel aber ist genau das der einzige Weg, aus der stagnierenden Psychoanalyse Freuds endlich eine empirische Wissenschaft zu machen. Es geht um viel: Um unser Bewußtsein, den freien Willen, um die geistige Gesundheit, kurz: um die Lösung geistesgeschichtlich sehr alter und biologisch zugleich doch extrem junger existentieller Fragen.
Zu ihrer Lösung kann sich nach Auffassung Kandels ausschließlich eine Wissenschaftsrichtung berufen fühlen, die sich vollkommen den scheinbar unüberschaubaren materiellen Gegebenheiten verschreibt. Hirnscans von Psychiatriepatienten, Manipulationen des Bewußtseins, Pillen zum Aufputschen der Gedächtnisgene - das sind für Kandel die Mittel, um am Ende auch die Rätsel der Freudschen Strukturen des Geistes (Ich, Es und Über-Ich) zu entziffern und zu therapieren. Diese Mittel sind von einer beispiellosen Direktheit. Verstecken zwecklos, die Seele wird in jeder Ecke aufgestöbert.
Vordergründig gesehen könnte man diesen Lebensbericht eines Hirnforschers also als eine der vielen Streitschriften lesen, die der Konflikt der philosophisch und humanistisch stark geprägten analytischen Psychologie mit einer in den Jahren immer stärker biologisch und experimentell orientierten kognitiven Psychologie hervorgebracht hat. Kandel aber hatte sich aus diesen akademischen Gefechten stets vornehm zurückgehalten. Jetzt, fünf Jahre nach der Verleihung des Medizin-Nobelpreises an ihn und zwei seiner Kollegen, wissen wir, weshalb: Im Grunde seines Herzens ist Kandel ein Bewunderer Freuds, der in einer Zeit, in welcher die Wissenschaft nichts über chemische Synapsen oder elektrische Nervennetze wußte, Spuren des geistigen Lebens aufgezeichnet hatte, welche die Hirnforschung jetzt mit molekularen und bildgebenden Verfahren zu entschlüsseln sich anschickt.
Der gebürtige Österreicher Eric Kandel sieht sich wie Sigmund Freud als Teil des Wiener Bürgertums, humanistisch geprägt und hochgebildet, ein jüdischer Emigrantensohn, der sein akademisches und privates Glück in den Nachkriegsjahren in Nordamerika gefunden hat. Kandel nutzt hier seine an Erfahrungen und an Lebensjahren so reiche Autobiographie dazu, den Weg der modernen Hirnforschung nach dem Zweiten Weltkrieg nachzuzeichnen. Seine Kindheit in Wien, die Emigration, seine Ausbildung in einer amerikanischen psychiatrischen Klinik, schließlich seine Hinwendung zur reduktionistischen Experimentforschung unter der Maxime "eine Zelle zur Zeit" sind ein sprechendes Beispiel, wie die Biologie nach dem Zweiten Weltkrieg der Entdeckung der menschlichen Psyche eine radikale Wendung gegeben hat.
Eine Wende freilich, davon ist Kandel überzeugt, die prominent vorausgeahnt wurde. Immanuel Kant, sein wichtigster Kronzeuge, wenn es um die stofflichen und damit auch genetischen Wurzeln unserer neuronalen Anatomie geht, hatte mit seiner Vermutung einer "apriorischen" Erkenntnis endgültig den Kampf gegen Lockes Vorstellung von der tabula rasa des Geistes gewonnen. In der Architektur und den a priori angelegten Funktionsprinzipien des Gehirns vermuteten Kandels Lehrer Kant und bald er selbst die Geheimnisse des Geistes - zumindest die des Gedächtnisses und des Lernens.
Für seine molekularbiologischen Entdeckungen, die uns der Funktionsweise von Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis näher gebracht haben, wurde Kandel später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Sie stehen in allen chemischen und bioelektrischen Einzelheiten - für den ungeschulten Leser womöglich allzu ausführlich - im Zentrum dieses Buchs. Doch wer in das experimentelle Abenteuer einsteigt, bekommt schon bald ein Gefühl dafür, wie sich die Molekularbiologie mit einer in der Psychiatrie und Psychologie bis dahin undenkbaren Akribie und Systematik daranmachte, ein Geistespuzzle nach dem anderen lösen zu wollen. Die Biologie weigerte sich, so begründet Kandel seine Entscheidung für die reduktionistische Forschung, das Gehirn als "Blackbox, als eine Unbekannte, zu behandeln".
Der Clou dabei war die Unbekümmertheit, mit der sich die Geistforscher der neuen Generation von nun an den vermeintlich geistlosen "Tiermodellen" zuwandten. Der Psychoanalye war von Hause aus dieser Weg versperrt. Doch ihre ausschließliche Beschäftigung mit den notwendigerweisen subjektiven Berichten der Analytiker, so Kandel, hatte ihr spätestens von der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts an Fortschritte und tiefere Einblicke in die Verfaßtheit geistiger Phänomene unmöglich gemacht. Die Neurobiologen hingegen suchten sich ihre Analogien im Tierreich. Nachdem es die meisten von ihnen in den fünfziger und sechziger Jahren für unmöglich gehalten hatten, vierbeinige oder gar beinlose Stellvertreter für die Erforschung der Psyche zu akzeptieren, machten sich die Hirnforscher nun auf die Suche "nach dem idealen System", wie Kandel es formuliert. Er selbst war sich seiner Sache keineswegs sicher, auch wenn auf deutschem Boden Lorenz, Tindbergen, von Holst und Karl von Frisch seinerzeit gut und gerne die lebendigen Beispiele hätten liefern können. Doch Kandel entschied sich für Aplysia, den "Seehasen".
Es handelt sich um eine Meeresschnecke von wahrhaft karnickelhaften Dimensionen, dreißig Zentimeter lang und einige Pfund schwer. Sie hatte freilich einen unschätzbaren Vorteil: Die Zahl ihrer Nervenzellen ist überschaubar, genauso wie ihr Verhaltensrepertoire, und - was man kaum vermuten könnte - sie ist bemerkenswert lernfähig. Jedenfalls hatten Kandel und seine Mitstreiter ganz offensichtlich ein Vergnügen daran, grundlegende Verhaltensmuster wie die Pawlowsche Konditionierung, Habituation oder Sensitivierung an diesem plumpen Weichtier zu studieren. Die Übertragung von Nervensignalen an den Verbindungsstellen erwies sich als die entscheidende evolutionäre Innovation, um Lernen und Erinnern zu verstehen. Dergestalt, daß mit dem Lernen die Übertragung der chemischen Signale zwischen bestimmten Synapsen und damit ausgewählten Nervenbahnen verstärkt wird. Was länger als ein paar Minuten im Gedächtnis hängenbleiben soll, muß demnach so oft geübt werden, daß in den betreffenden Nervenzellen Gene angeschaltet werden, die nicht nur die Signalverstärkung an den Synapsen forcieren, sondern darüber hinaus zur Ausbildung zusätzlicher Verbindungen zwischen den entscheidenden Nervenzellen führen.
All das hätte Kandel in diesem Teil des Buches, das einem faszinierenden Werkstattbericht gleicht, allgemeinverständlich und lebendig umschreiben können. Aber wieder führt er den Leser in die anstrengende Tiefe. Ein auch diesmal, wie sich zeigt, schon deshalb lohnenswerter Ausflug in die Molekularbiologie, weil damit der reduktionistische Ansatz in seiner Unentrinnbarkeit vor Augen geführt wird. Ein gefundes Molekül leitet das Scheinwerferlicht auf zwei andere, die in der Kausalkette vor ihm stehen, und diese wiederum führen zu einem halben Dutzend Genen, die an der Steuerung dieses und einem Dutzend weiterer Gene und Moleküle beteiligt sind. Das Zwischenergebnis ist jeweils eine Schalttafel von Transmittern, Rezeptoren, Kinasen, Antagonisten und anderer Bestandteile, die für den Laien in einem biochemischen Nirwana enden.
Doch damit will es der Reduktionismus eines Kandel nicht bewenden lassen. Im zweiten Teil des Buches leitet er - diesmal jedoch bemerkenswert oberflächlich - auf eine neue Form der experimentellen Tiefenanalyse hin, die noch in den Kinderschuhen steckt und doch in Kandels Augen möglicherweise sogar zur "Renaissance der psychoanalytischen Theorie" führen könnte. Gemeint ist der Siegeszug der bildgebenden Verfahren in der Hirnforschung, der funktionalen Magnetresonanztomograpfie etwa oder der Positronenemissionstomographie. Die Physik soll den Blick ins Gehirn ebnen. Und diesmal geht es in Echtzeit endlich wieder ins menschliche Gehirn. Wenn es darum geht, den Neuronen beim Denken und Fühlen zuzuschauen, findet die Neurobiologie zurück zum Menschen - und damit, so Kandels Hoffnung, zu seinen eigenen Wurzeln. Wenn es gelingen könnte, mit Hirnscans die Wirkungsweisen von Psychotherapie und Psychoanalyse zu belegen, sei es vielleicht sogar möglich, wenigstens die Zweifel an den wirksamsten Behandlungsverfahren aus dem Weg zu räumen.
Das Ende aller akademischen Konflikte? Wohl kaum, denn Kandel macht mit seiner Forderung eines "biologischen Ansatzes" in der Psychotherapie allzu deutlich, daß es ihm nicht um das Zuschütten geistesgeschichtlicher Gräben geht. Die Seelen- und Hirnforschung wird aus seiner Sicht ihren Frieden nur finden, wenn sie den experimentellen Weg der vergangenen vierzig Jahre fortsetzt. Wohin das führen soll? Zu neuen Interventionen zum Beispiel, die den Psychopathen und Dementen von morgen helfen sollen, und hoffentlich zu einem näheren Verständnis unseres Bewußtseins. Wie schon bei der Diskussion um den freien Willen hält sich Kandel mit Spekulationen auf diesem neurobiologisch heiklen Gebiet auffällig zurück. Er läßt den Leser spüren, daß er den Optimismus eines Francis Crick, Christof Koch oder Daniel Dennett gerne teilen würde, was die Chancen für eine Entschlüsselung dieses ultimativen Geisteszustandes angeht. Aber er trägt auch seriös die Zweifel vor, die viele Fachleute mit der Vorstellung haben, das Ich sich selbst mechanistisch aufklären zu wollen.
Vermissen mag man Kandels Einschätzungen zu Visionären vom Schlage eines Ray Kurzweil, Bill Joy oder jenen utopistischen KI-Forschern, die die künstliche Schaffung von Gedächtnis und Bewußtsein als den letzten Zweck der Hirnforschung betrachten. Wer aber weniger an den Abzugsbildern der zeitgenössischen Illusionäre als an den ganz konkreten Phantasien der Hinforschung interessiert ist, wird mit der Lektüre reich belohnt.
Eric Kandel: "Auf der Suche nach dem Gedächtnis". Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes. Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober. Siedler Verlag, München 2006. 528 S., geb., 24,95 [Euro].
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"'Auf der Suche nach dem Gedächtnis' ist eine sprühende Mischung aus Autobiographie, Wissenschaftsgeschichte und biologischem Grundlagenwerk, die ihresgleichen sucht." (Edward O. Wilson)