Der Geschmack einer Madeleine erweckt diese Regung und ruft die Erinnerungen Marcels an seine Kindheit in Combray zurück. Immer wieder versucht er, die vergangene, verlorene Zeit gegenwärtig zu machen. Es sind atmosphärische Details, von denen aus sich ein literarisches Universum entwickelt, das um ein zentrales Thema kreist: Liebe.
Seit über 14 Jahren arbeitet Stéphane Heuet an der Umsetzung von Marcel Prousts Literaturklassiker Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als Graphic Novel. Mit Combray erscheint nun endlich der erste Teil dieses Mammutprojektes in deutscher Sprache. Der Text ist genial adaptiert und der einzigartige Erzählstil Prousts in ebenso imaginative wie assoziative Bildfolgen umgesetzt.
Seit über 14 Jahren arbeitet Stéphane Heuet an der Umsetzung von Marcel Prousts Literaturklassiker Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als Graphic Novel. Mit Combray erscheint nun endlich der erste Teil dieses Mammutprojektes in deutscher Sprache. Der Text ist genial adaptiert und der einzigartige Erzählstil Prousts in ebenso imaginative wie assoziative Bildfolgen umgesetzt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.10.2010Kleiner Niemand, arme Schabe
Wie man Traumbilder findet: Zwei literarische Comics nach Franz Kafkas „Verwandlung“
und Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ Von Fritz Göttler
Es ist eine klassische Coming-of-age-Geschichte, Fin de siècle, kultiviertes französisches Bürgertum, mit festen, unantastbaren Gewohnheiten, Rhythmen, Ritualen. Der Ort ist Combray, legendär in der Weltliteratur, der Kindheitsort des Erzählers in Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. „Combray“ heißt auch der erste Band der Comic-Version von Prousts „Recherche“, an der Stéphane Heuet seit 1998 arbeitet und von der bislang fünf Bände vorliegen – nach erstem heftigem „Sakrileg“-Geschrei inzwischen hunderttausendfach verkauft, ein großer Erfolg in Frankreich und vielen anderen Ländern. Nach über zehn Jahren legt nun der Knesebeck Verlag endlich eine deutsche Ausgabe vor. Und packt für diesen Herbst noch einen weiteren hochliterarischen Comic dazu, eine klassische End-of-youth-Geschichte: Kafkas „Die Verwandlung“, in Streifenform gebracht von Eric Corbeyran (Scenario) und Richard Horne (Bilder).
„Als Gregor Samsa“, so einer der bekanntesten ersten Sätze der Weltliteratur, den wohl jeder kennt, aus der Schule, und dessen unbeschreibliche Verstörung wohl in jedem nachwirkt ein Leben lang, „als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ Der Comic, die graphic novel kann, aus Platz- und dramaturgischen Gründen, diesen Satz nicht im Wortlaut übernehmen. Das in Kafkas Text nicht weiter bestimmte Ungeziefer ist in der Bilderversion eine Schabe geworden, und das Zimmer – „ein richtiges, nur etwas zu kleines Menschenzimmer“ – liegt nicht ganz so ruhig „zwischen den vier wohlbekannten Wänden“ wie der Text andeutet. Durch die extreme Draufsicht, die schweren morgendlichen Schatten ist der Horror von Gregors Lebenswende brutal akzentuiert, in den im Zimmer verstreuten Accessoires die Misere des jungen Handlungsreisenden unerbittlich skizziert. Dies ist Kafka gelesen in der Optik des Dr. Caligari, in der Tradition der kleinen gehetzten amerikanischen Films noirs von Ulmer und Siodmak, die erforschen, ob die Schrecken des Unbewussten, die Obsessionen und Alpträume sichtbar zu machen wären, ob das Unvorstellbare – das Ungeziefer im Zimmer des Angestellten – sich in Bilder fassen lässt. Das kategorische „Es war kein Traum“ der Erzählung bleibt dann von Anfang an ziemlich suspekt.
Mit einem legendären Erwachen beginnt auch Heuets „Combray“, der Erzähler schreckt aus dem Schlaf hoch, nicht wissend, wo er sich befindet, wer er ist. Seine Silhouette erinnert an den Little Nemo in Slumberland, aus den Comics von Winsor McCay vom Anfang des vorigen Jahrhunderts. Heuet inszeniert die „Recherche“ als Traumbuch par excellence, von den ersten Bildern an zeigt er uns, wie eine Existenz gebaut wird aus der Erinnerung, jeden Tag aufs neue, wie der Spuk der leeren Rahmen und Formen, den der Schlaf hinterlässt, eliminiert wird beim Erwachen. Die Synthese ist die wesentliche Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts, der Zeit der technischen Reproduzierbarkeit – und als durch und durch synthetische Kunst bietet sich der Comic förmlich an.
Er hat davon durchaus profitieren können, ganz so schlecht wie gemeinhin berichtet, war das Ansehen der Comics nie gewesen. In den Vierzigern galt es als ein pädagogisch ehrenwertes Unternehmen, die große Literatur in Comicform zu verpacken und damit der riesigen Masse der Nichtleser nahezubringen. Classic Comics startete im Oktober 1941, mit den „Drei Musketieren“, war enorm erfolgreich und wurde schließlich in Classics Illustrated umbenannt. Will Eisner hat phantastisch schöne Weltliteratur-Comics fabriziert, sein „Moby Dick“ ist ein lustvolles Spiel mit Melville – als der Held sich im Gasthaus in Nantucket einquartiert, wird er vom Wirt nach seinem Namen gefragt, seine Antwort. „Call me Ishmael“. Schon verliert die Weltliteratur etwas von ihrer Aura, ihrer ehrfurchteinflößenden Gravität.
Ironie ist auch in der Kafka- und der Proust-Adaption reichlich zu spüren, sie gehen weit über eine simple Illustrierung der Vorlage hinaus, sie setzen zu einem Dialog mit der literarischen Vorlage an. Man muss im Comic nicht die literarische Vorlage wiederfinden, die beiden führen ein schönes Eigenleben, berühren sich immer wieder tangential. Bilderproduktion ist schon das Thema der „Recherche“, Erinnerungsbilder, bei denen die Imagination die wichtigste Rolle spielt. Eine der frühesten Erinnerungen ist die Laterna magica, die der Junge von seinen Eltern bekommt, mit den Projektionen der Geschichte der Genoveva von Brabant. Kafka war ein passionierter Kinogänger, Proust ein besessener Fotosammler.
Stéphane Heuet hat für sein Projekt unglaublich detaillierte Studien betrieben, weshalb er nur alle drei Jahre einen neuen Band schafft. In seinen Bildern sind alte Fotos und Porträts verarbeitet – Traumarbeit, historisch fundiert. Heuet bewegt sich parallel zu Proust, macht an Punkten weiter, wo der abbrach. Lange hat er zum Beispiel eine Vorlage für den Komponisten Vinteuil gesucht, sich schließlich für Charles-Valentin Alkan entscheiden, dessen Leben (1813–1888) und Werk Ähnlichkeit mit der Proust-Figur aufwies.
Die erzählerische, vorwärtsdrängende Kontinuität wird bei Heuet Bild für Bild abgebrochen, die Lektüre verläuft nicht horizontal, sondern in die Tiefe. Nicht Illustrierung, sondern Überblendung, Verdichtung. In Heuets Werk ist die Erkenntnis von Roland Barthes sinnlich erfahrbar – dass Prousts Werk nicht Roman sei, sondern Vorbereitung des Romans. Proust selbst hat sein Schreiben wie einen fotografischen Prozess gesehen, was er wahr- und aufgenommen hat in der Wirklichkeit, hat er in seinem Schreiben dann entwickelt.
Stéphane Heuet
Auf der Suche nach
der verlorenen Zeit
Band 1: Combray. Text von Marcel Proust. Knesebeck Verlag, München 2010. 72 Seiten, 19,95 Euro.
Eric Corbeyran, Richard Horne
Die Verwandlung
Von Franz Kafka. Knesebeck Verlag, München 2010. 48 Seiten, 19,95 Euro.
Erinnerungsbilder,
bei denen die Imagination
die wichtigste Rolle spielt
Der Beginn von Kafkas „Verwandlung“ in neuer Comic-Gestalt: „Die häuslichen Schaben ernähren sich bei Nacht und sind äußerst schädlich, was ihnen die Bezeichnung ,Ungeziefer‘ eingetragen hat.“ Abb.: Verlag
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Wie man Traumbilder findet: Zwei literarische Comics nach Franz Kafkas „Verwandlung“
und Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ Von Fritz Göttler
Es ist eine klassische Coming-of-age-Geschichte, Fin de siècle, kultiviertes französisches Bürgertum, mit festen, unantastbaren Gewohnheiten, Rhythmen, Ritualen. Der Ort ist Combray, legendär in der Weltliteratur, der Kindheitsort des Erzählers in Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. „Combray“ heißt auch der erste Band der Comic-Version von Prousts „Recherche“, an der Stéphane Heuet seit 1998 arbeitet und von der bislang fünf Bände vorliegen – nach erstem heftigem „Sakrileg“-Geschrei inzwischen hunderttausendfach verkauft, ein großer Erfolg in Frankreich und vielen anderen Ländern. Nach über zehn Jahren legt nun der Knesebeck Verlag endlich eine deutsche Ausgabe vor. Und packt für diesen Herbst noch einen weiteren hochliterarischen Comic dazu, eine klassische End-of-youth-Geschichte: Kafkas „Die Verwandlung“, in Streifenform gebracht von Eric Corbeyran (Scenario) und Richard Horne (Bilder).
„Als Gregor Samsa“, so einer der bekanntesten ersten Sätze der Weltliteratur, den wohl jeder kennt, aus der Schule, und dessen unbeschreibliche Verstörung wohl in jedem nachwirkt ein Leben lang, „als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ Der Comic, die graphic novel kann, aus Platz- und dramaturgischen Gründen, diesen Satz nicht im Wortlaut übernehmen. Das in Kafkas Text nicht weiter bestimmte Ungeziefer ist in der Bilderversion eine Schabe geworden, und das Zimmer – „ein richtiges, nur etwas zu kleines Menschenzimmer“ – liegt nicht ganz so ruhig „zwischen den vier wohlbekannten Wänden“ wie der Text andeutet. Durch die extreme Draufsicht, die schweren morgendlichen Schatten ist der Horror von Gregors Lebenswende brutal akzentuiert, in den im Zimmer verstreuten Accessoires die Misere des jungen Handlungsreisenden unerbittlich skizziert. Dies ist Kafka gelesen in der Optik des Dr. Caligari, in der Tradition der kleinen gehetzten amerikanischen Films noirs von Ulmer und Siodmak, die erforschen, ob die Schrecken des Unbewussten, die Obsessionen und Alpträume sichtbar zu machen wären, ob das Unvorstellbare – das Ungeziefer im Zimmer des Angestellten – sich in Bilder fassen lässt. Das kategorische „Es war kein Traum“ der Erzählung bleibt dann von Anfang an ziemlich suspekt.
Mit einem legendären Erwachen beginnt auch Heuets „Combray“, der Erzähler schreckt aus dem Schlaf hoch, nicht wissend, wo er sich befindet, wer er ist. Seine Silhouette erinnert an den Little Nemo in Slumberland, aus den Comics von Winsor McCay vom Anfang des vorigen Jahrhunderts. Heuet inszeniert die „Recherche“ als Traumbuch par excellence, von den ersten Bildern an zeigt er uns, wie eine Existenz gebaut wird aus der Erinnerung, jeden Tag aufs neue, wie der Spuk der leeren Rahmen und Formen, den der Schlaf hinterlässt, eliminiert wird beim Erwachen. Die Synthese ist die wesentliche Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts, der Zeit der technischen Reproduzierbarkeit – und als durch und durch synthetische Kunst bietet sich der Comic förmlich an.
Er hat davon durchaus profitieren können, ganz so schlecht wie gemeinhin berichtet, war das Ansehen der Comics nie gewesen. In den Vierzigern galt es als ein pädagogisch ehrenwertes Unternehmen, die große Literatur in Comicform zu verpacken und damit der riesigen Masse der Nichtleser nahezubringen. Classic Comics startete im Oktober 1941, mit den „Drei Musketieren“, war enorm erfolgreich und wurde schließlich in Classics Illustrated umbenannt. Will Eisner hat phantastisch schöne Weltliteratur-Comics fabriziert, sein „Moby Dick“ ist ein lustvolles Spiel mit Melville – als der Held sich im Gasthaus in Nantucket einquartiert, wird er vom Wirt nach seinem Namen gefragt, seine Antwort. „Call me Ishmael“. Schon verliert die Weltliteratur etwas von ihrer Aura, ihrer ehrfurchteinflößenden Gravität.
Ironie ist auch in der Kafka- und der Proust-Adaption reichlich zu spüren, sie gehen weit über eine simple Illustrierung der Vorlage hinaus, sie setzen zu einem Dialog mit der literarischen Vorlage an. Man muss im Comic nicht die literarische Vorlage wiederfinden, die beiden führen ein schönes Eigenleben, berühren sich immer wieder tangential. Bilderproduktion ist schon das Thema der „Recherche“, Erinnerungsbilder, bei denen die Imagination die wichtigste Rolle spielt. Eine der frühesten Erinnerungen ist die Laterna magica, die der Junge von seinen Eltern bekommt, mit den Projektionen der Geschichte der Genoveva von Brabant. Kafka war ein passionierter Kinogänger, Proust ein besessener Fotosammler.
Stéphane Heuet hat für sein Projekt unglaublich detaillierte Studien betrieben, weshalb er nur alle drei Jahre einen neuen Band schafft. In seinen Bildern sind alte Fotos und Porträts verarbeitet – Traumarbeit, historisch fundiert. Heuet bewegt sich parallel zu Proust, macht an Punkten weiter, wo der abbrach. Lange hat er zum Beispiel eine Vorlage für den Komponisten Vinteuil gesucht, sich schließlich für Charles-Valentin Alkan entscheiden, dessen Leben (1813–1888) und Werk Ähnlichkeit mit der Proust-Figur aufwies.
Die erzählerische, vorwärtsdrängende Kontinuität wird bei Heuet Bild für Bild abgebrochen, die Lektüre verläuft nicht horizontal, sondern in die Tiefe. Nicht Illustrierung, sondern Überblendung, Verdichtung. In Heuets Werk ist die Erkenntnis von Roland Barthes sinnlich erfahrbar – dass Prousts Werk nicht Roman sei, sondern Vorbereitung des Romans. Proust selbst hat sein Schreiben wie einen fotografischen Prozess gesehen, was er wahr- und aufgenommen hat in der Wirklichkeit, hat er in seinem Schreiben dann entwickelt.
Stéphane Heuet
Auf der Suche nach
der verlorenen Zeit
Band 1: Combray. Text von Marcel Proust. Knesebeck Verlag, München 2010. 72 Seiten, 19,95 Euro.
Eric Corbeyran, Richard Horne
Die Verwandlung
Von Franz Kafka. Knesebeck Verlag, München 2010. 48 Seiten, 19,95 Euro.
Erinnerungsbilder,
bei denen die Imagination
die wichtigste Rolle spielt
Der Beginn von Kafkas „Verwandlung“ in neuer Comic-Gestalt: „Die häuslichen Schaben ernähren sich bei Nacht und sind äußerst schädlich, was ihnen die Bezeichnung ,Ungeziefer‘ eingetragen hat.“ Abb.: Verlag
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Fritz Göttler hat sich zwei literarische Klassiker in Comic-Adaptionen angesehen und findet hier weit mehr als bloße Illustrierung, nämlich eine dialogische und mitunter durchaus ironische Auseinandersetzung mit der Vorlage. Seit 1988 arbeitet Stephane Heuet an seinem Proust-Comic und hat bislang fünf Bände fertiggestellt, deren erster unter dem Titel "Combray" jetzt "endlich" auf Deutsch erscheint, freut sich der Rezensent. Konsequent setzt der französische Zeichner Prousts Text als "Traumarbeit" um, die die menschliche Existenz täglich neu aus Erinnerungen zusammensetzte, so der Rezensent eingenommen. Er weist darauf hin, wie akribisch Heuet recherchiert hat, und wie stark er auf Porträts und historische Fotos zurückgegriffen hat, weshalb auch nur alle drei Jahre ein Band entstehe, so Göttler, der den vorliegenden Band als beeindruckende "Verdichtung" preist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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