Gilmour zeigt, dass die Pracht Italiens immer in seinen Regionen mit ihrer je eigenen Kunst, städtischen Kultur, Identität und Küche gelegen hat. Die Regionen brachten die mittelalterlichen Städte und die Renaissance, die Republik Venedig und das Großherzogtum Toskana hervor, die beiden kultiviertesten Staaten der europäischen Geschichte. Dieses fesselnde Buch erklärt die italienische Geschichte so klug und stimmig, dass jeder Italienliebhaber seine Freude daran haben muss. Ein wahres Lesevergnügen, voll ausgewählter Geschichten und Beobachtungen aus persönlicher Erfahrung und bevölkert mit großen Gestalten der Vergangenheit: von Cicero und Vergil bis zu Dante und den Medici, von Cavour und Verdi bis zu den umstrittenen politischen Figuren des 20. Jahrhunderts. Das Buch wirft einen klarsichtigen Blick auf das Risorgimento. Es entzaubert die Mythen, die sich darum ranken.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Bestens unterhalten hat sich Rezensent Peter Michalzik bei der Lektüre von David Gilmours kundiger Geschichte Italiens. Dem britischen Autor und Italienliebhaber gelingt es seines Erachtens vorzüglich, ein farbiges historisches Panorama zu entfalten, das dem Leser das Land näher bringt. Dabei hebt er den sich durch die Darstellung der Jahrhunderte ziehenden Kerngedanken Gilmours hervor, dass Italien nie nach Einheit strebte. Aus diesem Umstand heraus wird für Michalzik die bis heute bestehende Unfähigkeit zur politischen Gestaltung verständlich. So treffend ihm Gilmours niederschmetternde Bilanz des heutigen politischen Nationalstaats Italien erscheint, so überzeugend findet er dessen hinreißende Verherrlichung des regionalen Italiens. Das Fazit des Rezensenten: ein ebenso kurzweiliges wie anregendes und geistreiches Werk.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.04.2013Ob das Risorgimento wirklich eine so gute Idee war?
Zwei Landeskunden, die überzeugende Antworten auf das Staatsrätsel Italien liefern: David Gilmour begibt sich auf große Tour, Roberto Zapperi zieht als Archäologe des Geistes und Mikrohistoriker durch die Straßen Roms.
Italien - aber wo liegt es? In Anlehnung an Hölderlins Stoßseufzer über sein eigenes Vaterland lässt sich diese Frage zu unseren italienischen Miteuropäern immer schwerer beantworten. Erleben wir doch seit mindestens zwei Jahrzehnten den Auflösungsprozess der abendländischen Kulturnation schlechthin, die heute in politischem Chaos, ökonomischer Rezession, organisierter Kriminalität, neofeudalem Klientelismus und wachsender logistischer Rückständigkeit zu versinken droht. Da tut die Botschaft gut, dass gleich zwei neue Bücher sich auf unterschiedlichen Wegen der italienischen Seele zu nähern suchen. Und die, um das Fazit vorwegzunehmen, beide tatsächlich schlüssige Antworten auf das italienische Staatsrätsel liefern. Doch ist die Botschaft auch eine frohe?
Für den Briten David Gilmour bedeutet Italien nicht nur erlernte Lebenskunst, sondern auch ein gutes Stück Biographie. Fast beiläufig erwähnt er einen alltagsklugen Arbeiter auf dem toskanischen Landgut von Gilmours Familie, von dem der Autor allerhand über Sturheit, Skepsis und Genussfähigkeit des gewöhnlichen Italieners gelernt hat. Nun, solch ein lehrreiches Landgut hat man natürlich eher als Eton-Absolvent und Sprössling des britischen Adels zur Hand. Doch kann man Gilmour nicht vorwerfen, dass er sich als reicher Schnösel seinem Thema näherte. Dieser Autor hat, wenn er so gut wie alle Regionen des Landes aus eigener Anschauung vorstellt und dabei auf einen Riesenberg von Fachlektüre zurückgreift, seine Hausaufgaben bewundernswert erledigt.
Sein Vorhaben, "eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart" zu schreiben, grenzt zwar an Größenwahn. Doch geht dieser erfahrene Autor zur allgemeinen Kulturhistorie sein Thema nicht mit deutsch-professoraler Gründlichkeit, sondern im Stil der angelsächsischen "Grand Tour" an: rhapsodisch, plaudernd, stets mehr auf Unterhaltsamkeit denn auf Vollständigkeit bedacht. Dieses sehr britische Buch eignet sich daher trefflich als Reise-Ersatz (nicht so sehr als Reiselektüre).
Antike bis Renaissance Italiens, deren Kenntnis gewaltige Bibliotheken füllt, streift Gilmour mit Nonchalance. Viel mehr als Kursorisches zu Cicero, Theoderich oder den mittelalterlichen Stadtstaaten der Guelfen und Ghibellinen kommt nicht zur Sprache. Die Pauschalurteile zum Funktionieren der Städte bis heute oder zur heiklen Sprach- und Dialektlandschaft Italiens indes sind niemals aus der Luft gegriffen, sondern fundiert und klar.
Auf Billigmythen fällt Gilmour so gut wie nie herein. So durchschaut er etwa die Attacken auf die Republik Venedig, es gehe hier um eine dekadente und wollüstige Luxusstadt des unausweichlichen Untergangs, als pure Propaganda der französischen und österreichischen Feinde. Typisch in der Tradition der spekulierenden Erzählhistorie Britanniens urteilt Gilmour, Venedig hätte 1814 problemlos - wie die Niederlande - die Unabhängigkeit wiedererlangen können und wäre heute ein wunderschöner und prosperierender Kleinstaat in der Europäischen Union.
Je näher die Erzählung der Gegenwart kommt, desto dichter und kritischer der Text. Denn Gilmour kennt sich sowohl als Biograph von Tomasi di Lampedusa, dem sizilianischen Autor des "Gattopardo", bestens aus; ebenso wie mit den Quellen der staatlichen Einigung vor und nach 1861. Als Risorgimento-Experte erledigt Gilmour nebenbei den wohlfeilen Mythos, Giuseppe Verdi hätte sich als patriotischer Komponist an der Einigung als Vordenker beteiligt, und verweist messerscharf auf den usurpatorischen Charakter der "Einigung" durch eine politisch-militärische Intrige der Savoyer-Dynastie in Turin. Aus dieser missratenen Einigung mit üblen Folgen wie Auswanderung, Mafia, Armutsgebieten und massenhaft-staatsfernem Rückzug ins Private sowie zu schlechter Letzt dem Faschismus leitet Gilmour ein tristes, doch wohlfundiertes Misstrauen der Italiener gegen ihren Staat ab.
Für die Gegenwart zeigt er sich adäquat angeekelt von Phänomenen wie Berlusconi, Steuerhinterziehung oder dem Separatismus der Lega Nord - und doch kann er solche antinationalen Aussetzer mit der traditionellen Anarchie der Bürger plastisch begründen. Gegenbild zum Staat ist hier die italienische Familie, die Gilmour treffend als Kombination von Hotel, Altersheim, Restaurant, Kindergarten, Rentenkasse, Arbeitslosenhilfe und Jobcenter beschreibt. Ein archaisches, aber lebendiges Phänomen: Wo der Staat versagt, bietet einzig die Sippe Rettung. Gilmour sieht allenfalls im Campanilismo, dem Lokalpatriotismus der Städter, ein wenig Hoffnung auf Gemeinsinn keimen.
Entsprechend ernüchternd fällt sein Fazit aus: Das so heterogene Italien hätte nie geeint werden dürfen. Nun ist es zu spät. Zwar böten vor allem nord- und mittelitalienische Städte unvergleichliche Lebensqualität, doch angesichts des rasanten Niedergangs staatlicher Ordnung auch "immer mehr Probleme". Als Kultur der Kunst, des Essens, der Mode funktioniert der Begriff Italien, aber nicht als erfolgreicher Staat. Mit einem weinenden Auge zieht Gilmour die Konsequenz: "Die Teile summierten sich nicht zu einem kohärenten oder wiedererkennbaren Ganzen."
So harsch, illusionslos und zugleich nachvollziehbar dieses Urteil in dem umfangreichen Buch begründet wird, so problematisch wird es bei der geplauderten Tour d'Italie durch die Jahrhunderte. Gilmours ästhetische Urteile sind längst nicht immer so stilsicher wie sein politisch-historischer Instinkt, etwa wenn er die Deckenfresken von Tiepolo mal eben als rosa Kitsch abtut wie ein gelangweilter Lord auf Bildungsreise. Oder wenn er Venedig allenfalls einen Rang als Vergnügungsmetropole des achtzehnten Jahrhunderts zuweist - und dabei die achtbare Rolle der Stadt als Zentrum aufklärerischer Publikation und Debatte nicht mitbekommt. Auch ist dem wissenden Gestus nicht immer zu trauen, denn - ein Beispiel - Casanovas zitierter Salonfreund und Gesprächspartner Andrea di Robilant entpuppt sich beim Nachprüfen als italienischer Publizist Jahrgang 1957, der sehr schöne Bücher über das achtzehnte Jahrhundert geschrieben hat. Ob Gilmour sich hier kleine Scherze erlaubt?
Sehr viel fundierter geht es dann doch bei Roberto Zapperi zu, der uns mit einem ebenso gewaltigen Titel "Die ewige Stadt und ihre Besucher" vorstellt. Doch Zapperis Rom-Buch ist durchaus bescheiden, ebenso lesenswert und voller Fundstücke wie seine anderen Studien zu Goethe und Leonardo. Der großartige Privatgelehrte greift sich in seiner Wahlheimat Rom namhafte Besucher heraus und erzählt dabei viele seiner unnachahmlichen Kleindramen und Historienkrimis, in welche von Erasmus bis Aby Warburg die Rom-Pilger immer wieder verwickelt wurden. Bei der kurzweiligen Lektüre lernen wir nicht nur immer wieder Bemerkenswertes - etwa zu krankhaftem Nepotismus und Geldpressung von Renaissancepäpsten oder zum Netzwerk römischer Intellektueller zur Unterstützung des Galileo Galilei gegen die Inquisition -, sondern dürfen an der Hand von Zapperi die Siebenhügelstadt als Geistesarchäologen erkunden.
Diese Lektüre verschütteter historischer Tiefenschichten ist ebenso wie die Grabungen mit dem Spaten in keiner anderen Stadt der Welt ähnlich ergiebig wie in Rom. Ob es nun um die Kastraten geht, deren übergeschlechtlicher Sinnenreiz noch Montesquieu verwirrte. Oder um das quirlig-libertäre Netzwerk jüdischer Neukatholiken um 1500, dem sich der großartige Hurenroman "Lozana, die Andalusierin" des nur oberflächlich katholischen Geistlichen Francisco Delicado verdankt.
Diesen iberischen Franziskus mit Hang zur syphilitischen Halbwelt hat sich der neue Papst sicher nicht als Namenspatron auserkoren, doch auch Jorge Bergoglio könnte zum Thema vatikanische Verschwendung köstliche Funde bei Zapperi machen. Ein zunehmend angewiderter Émile Zola notierte einst in seinem Rom-Tagebuch, die Hälfte der Bürger sei dem Papst treu ergeben, "vor allem diejenigen, die von ihm lebten, die seine Klienten waren, die im Sold der Monsignori, der Prälaten standen". An dieser Art Frömmigkeit hat sich, wie die finsteren Verwicklungen der Vatikanbank bis heute beweisen, (noch) nichts geändert.
Ein filmreifes Meisterstück ist Zapperis Deutung einer intimen Dreiecksgeschichte zwischen dem schwulen Kunsttheoretiker Winkelmann, dem von ihm angehimmelten Maler Mengs und dessen vom Gatten vernachlässigter Gemahlin. Diese heißblütige Römerin, an welcher der naive Mengs nur im Zuge einer katholischen Zwangsheirat hängengeblieben war, wäre vor lauter hormoneller Verzweiflung beinahe im Ehebett des irritierten Hausfreundes gelandet - eine Doppeldemütigung, die der Macho Mengs durch eine hinterhältige Kunstfälschung zu Lasten Winkelmanns rächte. Doch auch der große Zapperi, der sich jedes historischen Pauschalurteils enthält, hinterlässt uns mit seinen Mikrogeschichten eine Botschaft zum aktuellen Stand Italiens, das sich zwischen Erhabenheit und Verfall so schwer finden lässt: Vielleicht ist diese unfassbar reiche, unfassbar anschauliche Kulturnation, die sich schon in Rom kaum überblicken lässt, einfach viel zu groß für einen kleinen Staat.
DIRK SCHÜMER
David Gilmour: "Auf der Suche nach Italien". Aus dem Englischen von Sonja Schumacher und Rita Seuss. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2013. 464 S., geb., 27,95 [Euro].
Roberto Zapperi: "Alle Wege führen nach Rom". Die Ewige Stadt und ihre Besucher.
Aus dem Italienischen von Ingeborg Walter. Verlag C.H. Beck, München 2013. 256 S., Abb., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwei Landeskunden, die überzeugende Antworten auf das Staatsrätsel Italien liefern: David Gilmour begibt sich auf große Tour, Roberto Zapperi zieht als Archäologe des Geistes und Mikrohistoriker durch die Straßen Roms.
Italien - aber wo liegt es? In Anlehnung an Hölderlins Stoßseufzer über sein eigenes Vaterland lässt sich diese Frage zu unseren italienischen Miteuropäern immer schwerer beantworten. Erleben wir doch seit mindestens zwei Jahrzehnten den Auflösungsprozess der abendländischen Kulturnation schlechthin, die heute in politischem Chaos, ökonomischer Rezession, organisierter Kriminalität, neofeudalem Klientelismus und wachsender logistischer Rückständigkeit zu versinken droht. Da tut die Botschaft gut, dass gleich zwei neue Bücher sich auf unterschiedlichen Wegen der italienischen Seele zu nähern suchen. Und die, um das Fazit vorwegzunehmen, beide tatsächlich schlüssige Antworten auf das italienische Staatsrätsel liefern. Doch ist die Botschaft auch eine frohe?
Für den Briten David Gilmour bedeutet Italien nicht nur erlernte Lebenskunst, sondern auch ein gutes Stück Biographie. Fast beiläufig erwähnt er einen alltagsklugen Arbeiter auf dem toskanischen Landgut von Gilmours Familie, von dem der Autor allerhand über Sturheit, Skepsis und Genussfähigkeit des gewöhnlichen Italieners gelernt hat. Nun, solch ein lehrreiches Landgut hat man natürlich eher als Eton-Absolvent und Sprössling des britischen Adels zur Hand. Doch kann man Gilmour nicht vorwerfen, dass er sich als reicher Schnösel seinem Thema näherte. Dieser Autor hat, wenn er so gut wie alle Regionen des Landes aus eigener Anschauung vorstellt und dabei auf einen Riesenberg von Fachlektüre zurückgreift, seine Hausaufgaben bewundernswert erledigt.
Sein Vorhaben, "eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart" zu schreiben, grenzt zwar an Größenwahn. Doch geht dieser erfahrene Autor zur allgemeinen Kulturhistorie sein Thema nicht mit deutsch-professoraler Gründlichkeit, sondern im Stil der angelsächsischen "Grand Tour" an: rhapsodisch, plaudernd, stets mehr auf Unterhaltsamkeit denn auf Vollständigkeit bedacht. Dieses sehr britische Buch eignet sich daher trefflich als Reise-Ersatz (nicht so sehr als Reiselektüre).
Antike bis Renaissance Italiens, deren Kenntnis gewaltige Bibliotheken füllt, streift Gilmour mit Nonchalance. Viel mehr als Kursorisches zu Cicero, Theoderich oder den mittelalterlichen Stadtstaaten der Guelfen und Ghibellinen kommt nicht zur Sprache. Die Pauschalurteile zum Funktionieren der Städte bis heute oder zur heiklen Sprach- und Dialektlandschaft Italiens indes sind niemals aus der Luft gegriffen, sondern fundiert und klar.
Auf Billigmythen fällt Gilmour so gut wie nie herein. So durchschaut er etwa die Attacken auf die Republik Venedig, es gehe hier um eine dekadente und wollüstige Luxusstadt des unausweichlichen Untergangs, als pure Propaganda der französischen und österreichischen Feinde. Typisch in der Tradition der spekulierenden Erzählhistorie Britanniens urteilt Gilmour, Venedig hätte 1814 problemlos - wie die Niederlande - die Unabhängigkeit wiedererlangen können und wäre heute ein wunderschöner und prosperierender Kleinstaat in der Europäischen Union.
Je näher die Erzählung der Gegenwart kommt, desto dichter und kritischer der Text. Denn Gilmour kennt sich sowohl als Biograph von Tomasi di Lampedusa, dem sizilianischen Autor des "Gattopardo", bestens aus; ebenso wie mit den Quellen der staatlichen Einigung vor und nach 1861. Als Risorgimento-Experte erledigt Gilmour nebenbei den wohlfeilen Mythos, Giuseppe Verdi hätte sich als patriotischer Komponist an der Einigung als Vordenker beteiligt, und verweist messerscharf auf den usurpatorischen Charakter der "Einigung" durch eine politisch-militärische Intrige der Savoyer-Dynastie in Turin. Aus dieser missratenen Einigung mit üblen Folgen wie Auswanderung, Mafia, Armutsgebieten und massenhaft-staatsfernem Rückzug ins Private sowie zu schlechter Letzt dem Faschismus leitet Gilmour ein tristes, doch wohlfundiertes Misstrauen der Italiener gegen ihren Staat ab.
Für die Gegenwart zeigt er sich adäquat angeekelt von Phänomenen wie Berlusconi, Steuerhinterziehung oder dem Separatismus der Lega Nord - und doch kann er solche antinationalen Aussetzer mit der traditionellen Anarchie der Bürger plastisch begründen. Gegenbild zum Staat ist hier die italienische Familie, die Gilmour treffend als Kombination von Hotel, Altersheim, Restaurant, Kindergarten, Rentenkasse, Arbeitslosenhilfe und Jobcenter beschreibt. Ein archaisches, aber lebendiges Phänomen: Wo der Staat versagt, bietet einzig die Sippe Rettung. Gilmour sieht allenfalls im Campanilismo, dem Lokalpatriotismus der Städter, ein wenig Hoffnung auf Gemeinsinn keimen.
Entsprechend ernüchternd fällt sein Fazit aus: Das so heterogene Italien hätte nie geeint werden dürfen. Nun ist es zu spät. Zwar böten vor allem nord- und mittelitalienische Städte unvergleichliche Lebensqualität, doch angesichts des rasanten Niedergangs staatlicher Ordnung auch "immer mehr Probleme". Als Kultur der Kunst, des Essens, der Mode funktioniert der Begriff Italien, aber nicht als erfolgreicher Staat. Mit einem weinenden Auge zieht Gilmour die Konsequenz: "Die Teile summierten sich nicht zu einem kohärenten oder wiedererkennbaren Ganzen."
So harsch, illusionslos und zugleich nachvollziehbar dieses Urteil in dem umfangreichen Buch begründet wird, so problematisch wird es bei der geplauderten Tour d'Italie durch die Jahrhunderte. Gilmours ästhetische Urteile sind längst nicht immer so stilsicher wie sein politisch-historischer Instinkt, etwa wenn er die Deckenfresken von Tiepolo mal eben als rosa Kitsch abtut wie ein gelangweilter Lord auf Bildungsreise. Oder wenn er Venedig allenfalls einen Rang als Vergnügungsmetropole des achtzehnten Jahrhunderts zuweist - und dabei die achtbare Rolle der Stadt als Zentrum aufklärerischer Publikation und Debatte nicht mitbekommt. Auch ist dem wissenden Gestus nicht immer zu trauen, denn - ein Beispiel - Casanovas zitierter Salonfreund und Gesprächspartner Andrea di Robilant entpuppt sich beim Nachprüfen als italienischer Publizist Jahrgang 1957, der sehr schöne Bücher über das achtzehnte Jahrhundert geschrieben hat. Ob Gilmour sich hier kleine Scherze erlaubt?
Sehr viel fundierter geht es dann doch bei Roberto Zapperi zu, der uns mit einem ebenso gewaltigen Titel "Die ewige Stadt und ihre Besucher" vorstellt. Doch Zapperis Rom-Buch ist durchaus bescheiden, ebenso lesenswert und voller Fundstücke wie seine anderen Studien zu Goethe und Leonardo. Der großartige Privatgelehrte greift sich in seiner Wahlheimat Rom namhafte Besucher heraus und erzählt dabei viele seiner unnachahmlichen Kleindramen und Historienkrimis, in welche von Erasmus bis Aby Warburg die Rom-Pilger immer wieder verwickelt wurden. Bei der kurzweiligen Lektüre lernen wir nicht nur immer wieder Bemerkenswertes - etwa zu krankhaftem Nepotismus und Geldpressung von Renaissancepäpsten oder zum Netzwerk römischer Intellektueller zur Unterstützung des Galileo Galilei gegen die Inquisition -, sondern dürfen an der Hand von Zapperi die Siebenhügelstadt als Geistesarchäologen erkunden.
Diese Lektüre verschütteter historischer Tiefenschichten ist ebenso wie die Grabungen mit dem Spaten in keiner anderen Stadt der Welt ähnlich ergiebig wie in Rom. Ob es nun um die Kastraten geht, deren übergeschlechtlicher Sinnenreiz noch Montesquieu verwirrte. Oder um das quirlig-libertäre Netzwerk jüdischer Neukatholiken um 1500, dem sich der großartige Hurenroman "Lozana, die Andalusierin" des nur oberflächlich katholischen Geistlichen Francisco Delicado verdankt.
Diesen iberischen Franziskus mit Hang zur syphilitischen Halbwelt hat sich der neue Papst sicher nicht als Namenspatron auserkoren, doch auch Jorge Bergoglio könnte zum Thema vatikanische Verschwendung köstliche Funde bei Zapperi machen. Ein zunehmend angewiderter Émile Zola notierte einst in seinem Rom-Tagebuch, die Hälfte der Bürger sei dem Papst treu ergeben, "vor allem diejenigen, die von ihm lebten, die seine Klienten waren, die im Sold der Monsignori, der Prälaten standen". An dieser Art Frömmigkeit hat sich, wie die finsteren Verwicklungen der Vatikanbank bis heute beweisen, (noch) nichts geändert.
Ein filmreifes Meisterstück ist Zapperis Deutung einer intimen Dreiecksgeschichte zwischen dem schwulen Kunsttheoretiker Winkelmann, dem von ihm angehimmelten Maler Mengs und dessen vom Gatten vernachlässigter Gemahlin. Diese heißblütige Römerin, an welcher der naive Mengs nur im Zuge einer katholischen Zwangsheirat hängengeblieben war, wäre vor lauter hormoneller Verzweiflung beinahe im Ehebett des irritierten Hausfreundes gelandet - eine Doppeldemütigung, die der Macho Mengs durch eine hinterhältige Kunstfälschung zu Lasten Winkelmanns rächte. Doch auch der große Zapperi, der sich jedes historischen Pauschalurteils enthält, hinterlässt uns mit seinen Mikrogeschichten eine Botschaft zum aktuellen Stand Italiens, das sich zwischen Erhabenheit und Verfall so schwer finden lässt: Vielleicht ist diese unfassbar reiche, unfassbar anschauliche Kulturnation, die sich schon in Rom kaum überblicken lässt, einfach viel zu groß für einen kleinen Staat.
DIRK SCHÜMER
David Gilmour: "Auf der Suche nach Italien". Aus dem Englischen von Sonja Schumacher und Rita Seuss. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2013. 464 S., geb., 27,95 [Euro].
Roberto Zapperi: "Alle Wege führen nach Rom". Die Ewige Stadt und ihre Besucher.
Aus dem Italienischen von Ingeborg Walter. Verlag C.H. Beck, München 2013. 256 S., Abb., geb., 19,95 [Euro].
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.08.2016NEUE TASCHENBÜCHER
Italien verstehen
mit D. Gilmour
So schlecht es um Italien auch bestellt ist, die Anomalien des in der Renaissance wohl reichsten europäischen Landes bestehen nicht erst seit heute. Paradoxerweise taugen die italienischen Verhältnisse weiterhin zur Bildung von Modellen, an denen ablesbar ist, was auf die übrige Welt noch zukommt: deren ubiquitäre Berlusconisierung etwa, nachdem die moralischen wie kulturellen Schwundstufen politischen Handelns in just jenem Lande erreicht wurden, dessen Urbanität wir unsere Vorstellungen von „civiltà“ und vom „vivere politico“ verdanken. Dies bis in die Gegenwart nachzuzeichnen, ohne zu langweilen, braucht es eines besonders erzählbegabten Briten: Sir David Gilmour – nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Leadgitarristen und Songwriter der Pink Floyd – gelingt dies mit profunder Leichtigkeit, nicht ohne auf seiner Kavalierstour auch manche Mythen und Mären zu erledigen. Und er weist auf Verletzungen, die das Land und seine Menschen im Gefolge einer erzwungenen nationalstaatlichen Einigung erlitten haben, deren irregeleitetes Ziel gewesen sei, „die Bewohner weniger italienisch und mehr wie alle anderen Völker zu machen“. VOLKER BREIDECKER
David Gilmour: Auf der Suche nach Italien. Aus dem Englischen von Sonja Schumacher und Rita Seuß. Klett-Cotta, Stuttgart 2016. 464 Seiten,
14,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Italien verstehen
mit D. Gilmour
So schlecht es um Italien auch bestellt ist, die Anomalien des in der Renaissance wohl reichsten europäischen Landes bestehen nicht erst seit heute. Paradoxerweise taugen die italienischen Verhältnisse weiterhin zur Bildung von Modellen, an denen ablesbar ist, was auf die übrige Welt noch zukommt: deren ubiquitäre Berlusconisierung etwa, nachdem die moralischen wie kulturellen Schwundstufen politischen Handelns in just jenem Lande erreicht wurden, dessen Urbanität wir unsere Vorstellungen von „civiltà“ und vom „vivere politico“ verdanken. Dies bis in die Gegenwart nachzuzeichnen, ohne zu langweilen, braucht es eines besonders erzählbegabten Briten: Sir David Gilmour – nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Leadgitarristen und Songwriter der Pink Floyd – gelingt dies mit profunder Leichtigkeit, nicht ohne auf seiner Kavalierstour auch manche Mythen und Mären zu erledigen. Und er weist auf Verletzungen, die das Land und seine Menschen im Gefolge einer erzwungenen nationalstaatlichen Einigung erlitten haben, deren irregeleitetes Ziel gewesen sei, „die Bewohner weniger italienisch und mehr wie alle anderen Völker zu machen“. VOLKER BREIDECKER
David Gilmour: Auf der Suche nach Italien. Aus dem Englischen von Sonja Schumacher und Rita Seuß. Klett-Cotta, Stuttgart 2016. 464 Seiten,
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" ... kundig und schön lesbar ... gespeist aus ebenso viel Ortskenntnis wie Lektüre."
Johan Schloemann, Süddeutsche Zeitung, 30.03.2013
" ... kurzweilig, informativ, spannend und äußerst lesenswert."
Maike Albath, Die literarische Welt, 13.04.2013
" ... die Darstellung einer folgenschweren Fehlentwicklung, eines Missverständnisses der Nationalhelden Garibaldi und Cavour. Italien hat sich nie zur Einheit gedrängt, das ist Gilmours durch die Jahrhunderte durchgespielter Kerngedanke, dem schwer zu wiedersprechen ist. Daraus folgt für ihn die bis heute bestehende Unfähigkeit zur politischen Gestaltung. Und so kann man dieses Buch zum italienischen 150. vor zwei Jahren lesen als die äußerst unterhaltsame Darstellung eines Landes, das niemals Republik hätte werden sollen."
Peter Michalzik, Frankfurter Rundschau, 13./14. April 2013
" ... ein Geschenk an den Italienfreund, der sich mit dem Werden, den Irrungen und Wirrungen dieser europaweit immer Begehrlichkeiten auslösenden Region beschäftigen will ... Es macht auch deutlich, warum Italien heute so ist, wie es ist: seine aktuellen Probleme sind zutiefst geschichtlich verankert."
Joachim Worthmann, Stuttgarter Zeitung, 26.04.2013
"Das schmeckt wie ein paar Paradeiser und Oliven und knuspriges pane lungo unter Pinien. Ist aber ausgiebiger. Fürs Gehirn."
Peter Pisa, Kurier, 10.06.2013
" ... ein vielfältiges Kaleidoskop von Rom-Eindrücken ... "
Christian Ruf, Dresdner Neueste Nachrichten, 22.Juli 2013
"Dieses fesselnde Buch erklärt die italienische Geschichte so klug und stimmig, dass jeder Italienliebhaber seine Freude daran haben muss. Ein wahres Lesevergnügen ... "
Pforzheimer Zeitung, 23.03.2013
"Wer wissen möchte, warum der Euro scheitern wird, der lese dieses Buch!"
Prof. Dr. Arne Karsten, Damals, Juni 2013
Johan Schloemann, Süddeutsche Zeitung, 30.03.2013
" ... kurzweilig, informativ, spannend und äußerst lesenswert."
Maike Albath, Die literarische Welt, 13.04.2013
" ... die Darstellung einer folgenschweren Fehlentwicklung, eines Missverständnisses der Nationalhelden Garibaldi und Cavour. Italien hat sich nie zur Einheit gedrängt, das ist Gilmours durch die Jahrhunderte durchgespielter Kerngedanke, dem schwer zu wiedersprechen ist. Daraus folgt für ihn die bis heute bestehende Unfähigkeit zur politischen Gestaltung. Und so kann man dieses Buch zum italienischen 150. vor zwei Jahren lesen als die äußerst unterhaltsame Darstellung eines Landes, das niemals Republik hätte werden sollen."
Peter Michalzik, Frankfurter Rundschau, 13./14. April 2013
" ... ein Geschenk an den Italienfreund, der sich mit dem Werden, den Irrungen und Wirrungen dieser europaweit immer Begehrlichkeiten auslösenden Region beschäftigen will ... Es macht auch deutlich, warum Italien heute so ist, wie es ist: seine aktuellen Probleme sind zutiefst geschichtlich verankert."
Joachim Worthmann, Stuttgarter Zeitung, 26.04.2013
"Das schmeckt wie ein paar Paradeiser und Oliven und knuspriges pane lungo unter Pinien. Ist aber ausgiebiger. Fürs Gehirn."
Peter Pisa, Kurier, 10.06.2013
" ... ein vielfältiges Kaleidoskop von Rom-Eindrücken ... "
Christian Ruf, Dresdner Neueste Nachrichten, 22.Juli 2013
"Dieses fesselnde Buch erklärt die italienische Geschichte so klug und stimmig, dass jeder Italienliebhaber seine Freude daran haben muss. Ein wahres Lesevergnügen ... "
Pforzheimer Zeitung, 23.03.2013
"Wer wissen möchte, warum der Euro scheitern wird, der lese dieses Buch!"
Prof. Dr. Arne Karsten, Damals, Juni 2013