Und frische Nahrung, neues Blut - nicht harmlos sind die Verse Volker Brauns zu lesen, und die Possen, die der Titel meint - das sind die ernsten Späße des Daseins selbst. Von nackten verborgenen Gebärden ist die Rede, Wettererscheinungen zwischen den Schläfen, dem Separatismus der Gefühle oder dem Schichtwechsel ins Klassenlose. Es ist ein altes zerfahrenes Land, in dem der Dichter steht, aber auf Einsteins Wiese hegt er diese leichtbewegten, Gedanken ans Einfachste.»Was ist das lähmende Bewußtsein, daß alles ins Nichts läuft, gegen die Kraft der Sinne, die Lust, das Entsetzen. Ich bin, in meinen Fasern, nicht der Macht verhaftet. Apparate, Parteien und ihr abgelebter Geist, das mag zum Teufel gehn. Das macht mich lachen. Das hilft mir nicht. Meine Natur nährt eine rohere Kost.« - Wovon Braun in seiner Büchnerpreisrede sprach, in den jüngsten Gedichten ist es wiederum eingelöst. Mit formaler Fertigkeit tariert er die Verhältnisse, politische und intime, auf beiden Schultern tragend, und hält oder verliert das Gleichgewicht, während der Weltkreis wankt: ein Freudenelend / ist das Leben.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.08.2005Das Laub rostet herab im August
Auf dem Kolonnenweg: Volker Braun dichtet gegen die Furien des Verschwindens
Der Titel des Büchleins stammt aus der Überschrift eines Gedichts: „Auf die schönen Possen! An Sir Philip Sidney”. In einer Anmerkung hilft der Dichter seinen Lesern ein wenig auf die Sprünge und verrät, dass der elisabethanische Renaissancepoet um 1585 in einem Anflug von Altersweisheit „den glänzenden Possen von einst Lebewohl” sagte: „Splendidis longum valedico nugis”. Er war zwar gerade erst dreißig Jahre alt - doch das Schicksal gab ihm Recht, und er wurde schon ein Jahr später im Kampf gegen die Spanier bei Zutphen tödlich verwundet. Das Gedicht von Volker Braun ist eine Parodie auf seine Absage an die Welt. Wo er predigte: „Fort von mir, o Liebe, die im Staube endet. / Und du, mein Geist, erstrebe Höheres. / Bereichre dich an dem, was niemals Rost ansetzt. / Was immer welkt, bringt auch nur welke Lust”, da ruft das Echo: „An Liebe halt dich, die vergeht. / Nach Höhrem nicht verrenk den Geist. / Bereichre dich an der Vergänglichkeit / Nur was verwelkt gewährte Lust.”
Für Sir Philip Sidney kommen diese Ratschläge zu spät, aber ihre didaktische Eindeutigkeit ist so mitreißend, dass die Leser von heute in Versuchung geraten werden, hier den Schlüssel zum Verständnis nicht nur dieses Gedichts, sondern des ganzen Bändchens und vielleicht gar des ganzen, gerade ins Pensionierungsalter getretenen Dichters zu suchen. Der Buchumschlag macht diese Versuchung fast unausweichlich, denn ihn ziert, diskret in weißen Lettern, unser Gedicht - aber sinnigerweise sind die Strophen umgestellt. Die zweite Strophe steht an erster Stelle, und sie ist keine direkte Replik auf Sir Philip Sidneys „Farewell, world”, sondern das zähneknirschende Bekenntnis eines lyrischen Ichs, das ohne Scheu mit der Stimme des Dichters zu sprechen scheint: „Das Großeganze ist geschenkt: / Von Einzelheiten werd ich satt. / Mach dir den Kopf nicht, wenn dein Hintern fällt / Was Erde tritt, Sir, Erde frißt.”
Diese verkehrte Moralpredigt ist eine zynische Geste, genau wie jene Empfehlung in gespielter Altersweisheit: „Lern harmlos lesen / Enkel”. Zynismus durchtränkt die „Totentänze” („nicht der Stände, sondern der Zustände mit verrenkten Begriffen”, sagt eine Anmerkung), wo zum Beispiel über SOLIDARITÄT zu lesen ist: „Jetzt wirft sie Bomben für die Menschenrechte.” Zynismus aber ist ein extremes Mittel: Es verlangt die Selbstverleugnung, den moralischen, ja gar den poetischen Selbstmord als letzte mögliche Botschaft.
Dem bitteren Lachen dient unter anderen der verächtlichste aller poetischen Topoi, der Kalauer. Volker Braun hat ihn schon früher praktiziert („Solidaritäterätäh!”). Im Gedicht „Blickwechsel” kalauert er mit seinem Namen, sarkastisch kapitulierend: „Der Wechsel der Zeiten, der keine Hoffnung ist / Sowie das Kunterbunt zum Kaufen TRINKT O WAS DIE WIMPER HÄLT bis du dem Boden / Gleich bist: Braun / Mir ist der Star gestochen ...” Für den Kalauer ist das Subjekt nicht wirklich verantwortlich, es hat die Verantwortung scheinbar einer anonymen Instanz, der Sprache oder der Poesie überlassen. Aber gerade das, nicht wirklich verantwortlich zu sein, lässt sich als Vorwurf mit einem Kalauer herausschreien: „Es blieb uns ja nichts walter ulbricht”! Nur „Die Kunst” kommt sozusagen mit einem blauen Auge davon: „Sie tanzt auf den Gräbern, mit Grazie / Mit ihrem wilden Gedächtnis.”
Im Kampf um ein lyrisches Ich, das nicht schon immer durch eine Ideologie oder eine politische Überzeugung gedeckt ist, hat Volker Braun oft schon früher einen Ton exemplarischer Ich-Erfahrung gefunden, wie in dem schönen Gedicht „Das Nachleben” (Abnahme einer Gipsmaske, im Bändchen „Tumulus”). Hier erscheint dieser Ton wieder, besonders gelungen in „Todesmut” (Abstieg in eine Mergelgrube), in „Damaskus” (Besuch eines orientalischen Bades) und in den erotischen Gedichten der Gruppe „Liebeslager”.
Diskret und mit viel Geschick nutzt der Dichter die poetische Überlieferung. Im klassischen Versmaß von zwei Distichen drückt er überzeugend auch das aus, was die Überschrift „Meine Furcht” nennt: „Wann verlier ich die Lust? ich fürcht es, und es ist kein Leben / Mehr, und ihr Wiesen und Seen, ab ist gegrast die Natur. // Wenn ich nicht liebe und kein Schauer hilft dem Gedächtnis / Heiß war der Sommer, das Laub rostet herab im August.”
Immer die Mauer
Das politische Gedicht hat es schwer in der Demokratie: Als Meinung steht es in Konkurrenz mit allen anderen Stimmen des öffentlichen Lebens. Seine erste Funktion ist gewiss, in gegenwärtige Konflikte einzugreifen, aber das ist offensichtlich nicht seine einzige, wenn man bedenkt, dass einige der berühmtesten politischen Gedichte ihre Anlässe Tausende und Hunderte Jahre überdauert haben, weil sie das Unabgegoltene präsent halten und den „allbekannten / Furien des Verschwindens” Paroli bieten können, wie der Dichter in der langen poetischen Reflexion „Das Verschwinden des Volkseigentums” (1991) es ausdrückte. Es ist ein leidenschaftliches Zeugnis eines Beobachters der „Wende”. Ratlose Betroffenheit profiliert sich als politisches Gedicht, aber in fast jeder Zeile bietet es Angriffsflächen für den politischen Diskurs, dem es entgegentreten will.
Volker Braun hat sich dem Kampf gegen die Furien des Verschwindens verschrieben. Er muss auch hier wieder sagen, was keiner mehr hören will, Namen aussprechen wie „Hennecke” und „Gauckbehörde”, Wörter wie „Klassenkampf”, „Solidarität”, „Kommunismus” und etwas konkreter und in mehreren Gedichten das Wort „Mauer”.
Sogleich nach der Wende tat der Verkehrsplan Berlins freilich schon so, als ob es die Mauer in dieser Stadt nie gegeben hätte. Frühere Dichter haben zu hermetischen Ausdrucksmitteln gegriffen, wenn ihr Gegenstand mysteriös oder die Rede darüber verboten oder verpönt war. Volker Braun beschreitet diesen gefährlichen Weg in einem Gedicht über die Mauer, dem es wirklich gelingt, dieses Monument den Furien des Verschwindens zu entreißen. Man kann es nicht wirklich hermetisch nennen, doch verlangt es ein gewisses Maß an Entschlüsselung.
Es heißt „In Schildow” und beginnt: „Auf dem Kolonnenweg / Schleich ich . . .” Es schließt mit dem, was kein Berliner Stadtplan mehr wahrhaben will: „Immer die Mauer / Neben mir in den Boden gesunken / Ich springe hinüber herüber. / Die Zeitalter wehen am Weltrand”. Die Arbeit der Entschlüsselung von Realien (die Mauer folgte in Schildow im Nordwesten Berlins dem Kolonnenweg) und der Deutung von Motiven (die militärische Bedeutung der Pflanzennamen) schützen „die Mauer” vor den Furien des Verschwindens. Paul Celan kommt dem Rezensenten an solchen Stellen in den Sinn, der Meister der Hermetisierung dessen, was trotz aller öffentlichen Bekenntnisse insgeheim niemand hören wollte.
An Paul Celan erinnert auch ein Gedicht, das den Titel „Andres Wachtlied” trägt. Einige Anspielungen erklärt der Dichter in Anmerkungen, viele andere, von denen er sicher sein darf, dass niemand sie ohne große Belesenheit und intensives Nachforschen erkennen wird, bleiben wie hermetische Kapseln. Eine Anmerkung führt die Leser auf die rechte Spur: Thema ist die 1999 als Mahnmal geschlagene „Zeitschneise” vom Schloss Ettersburg zum KZ Buchenwald. Die poetischen Motive „Weimar” und „Buchenwald” bilden ein Geflecht, schließlich eine Art von Engführung. KZ-Realität und Goethes Gedankenwelt stoßen hart aufeinander, aber in Strophen, welche Goethes Verse nachbilden. Seine - nicht sehr radikale - Hermetik ist die Antwort eines Dichters auf die von ihm wahrgenommene und erfahrene „Gestalt der Welt”. Das „andre Wachtlied” zeigt ihn in der ganzen Würde seiner Unfreiheit: Hermetik und ein verstörtes lyrisches Ich sind wie Narben auf der Haut des Textes. So entsteht ein großes politisches Gedicht!
HANS-HERBERT RÄKEL
VOLKER BRAUN: Auf die schönen Possen. Gedichte. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2005. 101 Seiten. 16,90 Euro.
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Auf dem Kolonnenweg: Volker Braun dichtet gegen die Furien des Verschwindens
Der Titel des Büchleins stammt aus der Überschrift eines Gedichts: „Auf die schönen Possen! An Sir Philip Sidney”. In einer Anmerkung hilft der Dichter seinen Lesern ein wenig auf die Sprünge und verrät, dass der elisabethanische Renaissancepoet um 1585 in einem Anflug von Altersweisheit „den glänzenden Possen von einst Lebewohl” sagte: „Splendidis longum valedico nugis”. Er war zwar gerade erst dreißig Jahre alt - doch das Schicksal gab ihm Recht, und er wurde schon ein Jahr später im Kampf gegen die Spanier bei Zutphen tödlich verwundet. Das Gedicht von Volker Braun ist eine Parodie auf seine Absage an die Welt. Wo er predigte: „Fort von mir, o Liebe, die im Staube endet. / Und du, mein Geist, erstrebe Höheres. / Bereichre dich an dem, was niemals Rost ansetzt. / Was immer welkt, bringt auch nur welke Lust”, da ruft das Echo: „An Liebe halt dich, die vergeht. / Nach Höhrem nicht verrenk den Geist. / Bereichre dich an der Vergänglichkeit / Nur was verwelkt gewährte Lust.”
Für Sir Philip Sidney kommen diese Ratschläge zu spät, aber ihre didaktische Eindeutigkeit ist so mitreißend, dass die Leser von heute in Versuchung geraten werden, hier den Schlüssel zum Verständnis nicht nur dieses Gedichts, sondern des ganzen Bändchens und vielleicht gar des ganzen, gerade ins Pensionierungsalter getretenen Dichters zu suchen. Der Buchumschlag macht diese Versuchung fast unausweichlich, denn ihn ziert, diskret in weißen Lettern, unser Gedicht - aber sinnigerweise sind die Strophen umgestellt. Die zweite Strophe steht an erster Stelle, und sie ist keine direkte Replik auf Sir Philip Sidneys „Farewell, world”, sondern das zähneknirschende Bekenntnis eines lyrischen Ichs, das ohne Scheu mit der Stimme des Dichters zu sprechen scheint: „Das Großeganze ist geschenkt: / Von Einzelheiten werd ich satt. / Mach dir den Kopf nicht, wenn dein Hintern fällt / Was Erde tritt, Sir, Erde frißt.”
Diese verkehrte Moralpredigt ist eine zynische Geste, genau wie jene Empfehlung in gespielter Altersweisheit: „Lern harmlos lesen / Enkel”. Zynismus durchtränkt die „Totentänze” („nicht der Stände, sondern der Zustände mit verrenkten Begriffen”, sagt eine Anmerkung), wo zum Beispiel über SOLIDARITÄT zu lesen ist: „Jetzt wirft sie Bomben für die Menschenrechte.” Zynismus aber ist ein extremes Mittel: Es verlangt die Selbstverleugnung, den moralischen, ja gar den poetischen Selbstmord als letzte mögliche Botschaft.
Dem bitteren Lachen dient unter anderen der verächtlichste aller poetischen Topoi, der Kalauer. Volker Braun hat ihn schon früher praktiziert („Solidaritäterätäh!”). Im Gedicht „Blickwechsel” kalauert er mit seinem Namen, sarkastisch kapitulierend: „Der Wechsel der Zeiten, der keine Hoffnung ist / Sowie das Kunterbunt zum Kaufen TRINKT O WAS DIE WIMPER HÄLT bis du dem Boden / Gleich bist: Braun / Mir ist der Star gestochen ...” Für den Kalauer ist das Subjekt nicht wirklich verantwortlich, es hat die Verantwortung scheinbar einer anonymen Instanz, der Sprache oder der Poesie überlassen. Aber gerade das, nicht wirklich verantwortlich zu sein, lässt sich als Vorwurf mit einem Kalauer herausschreien: „Es blieb uns ja nichts walter ulbricht”! Nur „Die Kunst” kommt sozusagen mit einem blauen Auge davon: „Sie tanzt auf den Gräbern, mit Grazie / Mit ihrem wilden Gedächtnis.”
Im Kampf um ein lyrisches Ich, das nicht schon immer durch eine Ideologie oder eine politische Überzeugung gedeckt ist, hat Volker Braun oft schon früher einen Ton exemplarischer Ich-Erfahrung gefunden, wie in dem schönen Gedicht „Das Nachleben” (Abnahme einer Gipsmaske, im Bändchen „Tumulus”). Hier erscheint dieser Ton wieder, besonders gelungen in „Todesmut” (Abstieg in eine Mergelgrube), in „Damaskus” (Besuch eines orientalischen Bades) und in den erotischen Gedichten der Gruppe „Liebeslager”.
Diskret und mit viel Geschick nutzt der Dichter die poetische Überlieferung. Im klassischen Versmaß von zwei Distichen drückt er überzeugend auch das aus, was die Überschrift „Meine Furcht” nennt: „Wann verlier ich die Lust? ich fürcht es, und es ist kein Leben / Mehr, und ihr Wiesen und Seen, ab ist gegrast die Natur. // Wenn ich nicht liebe und kein Schauer hilft dem Gedächtnis / Heiß war der Sommer, das Laub rostet herab im August.”
Immer die Mauer
Das politische Gedicht hat es schwer in der Demokratie: Als Meinung steht es in Konkurrenz mit allen anderen Stimmen des öffentlichen Lebens. Seine erste Funktion ist gewiss, in gegenwärtige Konflikte einzugreifen, aber das ist offensichtlich nicht seine einzige, wenn man bedenkt, dass einige der berühmtesten politischen Gedichte ihre Anlässe Tausende und Hunderte Jahre überdauert haben, weil sie das Unabgegoltene präsent halten und den „allbekannten / Furien des Verschwindens” Paroli bieten können, wie der Dichter in der langen poetischen Reflexion „Das Verschwinden des Volkseigentums” (1991) es ausdrückte. Es ist ein leidenschaftliches Zeugnis eines Beobachters der „Wende”. Ratlose Betroffenheit profiliert sich als politisches Gedicht, aber in fast jeder Zeile bietet es Angriffsflächen für den politischen Diskurs, dem es entgegentreten will.
Volker Braun hat sich dem Kampf gegen die Furien des Verschwindens verschrieben. Er muss auch hier wieder sagen, was keiner mehr hören will, Namen aussprechen wie „Hennecke” und „Gauckbehörde”, Wörter wie „Klassenkampf”, „Solidarität”, „Kommunismus” und etwas konkreter und in mehreren Gedichten das Wort „Mauer”.
Sogleich nach der Wende tat der Verkehrsplan Berlins freilich schon so, als ob es die Mauer in dieser Stadt nie gegeben hätte. Frühere Dichter haben zu hermetischen Ausdrucksmitteln gegriffen, wenn ihr Gegenstand mysteriös oder die Rede darüber verboten oder verpönt war. Volker Braun beschreitet diesen gefährlichen Weg in einem Gedicht über die Mauer, dem es wirklich gelingt, dieses Monument den Furien des Verschwindens zu entreißen. Man kann es nicht wirklich hermetisch nennen, doch verlangt es ein gewisses Maß an Entschlüsselung.
Es heißt „In Schildow” und beginnt: „Auf dem Kolonnenweg / Schleich ich . . .” Es schließt mit dem, was kein Berliner Stadtplan mehr wahrhaben will: „Immer die Mauer / Neben mir in den Boden gesunken / Ich springe hinüber herüber. / Die Zeitalter wehen am Weltrand”. Die Arbeit der Entschlüsselung von Realien (die Mauer folgte in Schildow im Nordwesten Berlins dem Kolonnenweg) und der Deutung von Motiven (die militärische Bedeutung der Pflanzennamen) schützen „die Mauer” vor den Furien des Verschwindens. Paul Celan kommt dem Rezensenten an solchen Stellen in den Sinn, der Meister der Hermetisierung dessen, was trotz aller öffentlichen Bekenntnisse insgeheim niemand hören wollte.
An Paul Celan erinnert auch ein Gedicht, das den Titel „Andres Wachtlied” trägt. Einige Anspielungen erklärt der Dichter in Anmerkungen, viele andere, von denen er sicher sein darf, dass niemand sie ohne große Belesenheit und intensives Nachforschen erkennen wird, bleiben wie hermetische Kapseln. Eine Anmerkung führt die Leser auf die rechte Spur: Thema ist die 1999 als Mahnmal geschlagene „Zeitschneise” vom Schloss Ettersburg zum KZ Buchenwald. Die poetischen Motive „Weimar” und „Buchenwald” bilden ein Geflecht, schließlich eine Art von Engführung. KZ-Realität und Goethes Gedankenwelt stoßen hart aufeinander, aber in Strophen, welche Goethes Verse nachbilden. Seine - nicht sehr radikale - Hermetik ist die Antwort eines Dichters auf die von ihm wahrgenommene und erfahrene „Gestalt der Welt”. Das „andre Wachtlied” zeigt ihn in der ganzen Würde seiner Unfreiheit: Hermetik und ein verstörtes lyrisches Ich sind wie Narben auf der Haut des Textes. So entsteht ein großes politisches Gedicht!
HANS-HERBERT RÄKEL
VOLKER BRAUN: Auf die schönen Possen. Gedichte. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2005. 101 Seiten. 16,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
In einem "handwerkstreuen Sinn bescheiden" findet Angelika Overath die jüngsten Gedichte des Büchnerpreisträgers Volker Braun. Gelassen-melancholisch, schreibt sie, blicke Braun hier zurück auf ein Dichterleben in zwei deutschen Staaten. Gelassen? Overath entgeht nicht das Augenzwinkern desjenigen, der von seinem Leser Genauigkeit erwartet. Und Genauigkeit, so die Rezensentin, sei schließlich nie harmlos gewesen. Dieses Oszillieren der Haltung beim Dichter nennt Overath Brauns "neuen Ton von Bedenken und Ergebung". Ihm korrespondierten Themen, "konkrete historisch-politische Erfahrungen", wie Hiroshima oder der Mauerfall, auf die diese Lyrik immer wieder "Fenster für den intimen Blick" öffne. Für Overath scheint das ein Merkmal für gelungene Dichtung zu sein.
© Perlentaucher Medien GmbH
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