Mit einem blauen Tourenfahrrad macht sich Christoph D. Brumme im Mai 2007 auf den Weg nach Saratov in Russland. Viel zu gefährlich!, warnen ihn Freunde und Bekannte, Russen, Ukrainer und Deutsche. Doch Brumme möchte die unbekannte Wirklichkeit erforschen. Er träumt davon, in der Wolga zu schwimmen, im Mondschein in der Steppe zu schlafen und sich das Rauchen abzugewöhnen.
Nach acht Tagen durch Polen erreicht er die ukrainische Grenze. Es zieht ihn dorthin, wo mehr Nutz- als Zierpflanzen in den Gärten stehen."Die Leute mit den Nutzpflanzen sind die besseren Erzähler. Die Zierpflanzen-Besitzer verfügen über ein Konto, sie haben Kaufverträge abgeschlossen, und bei ihnen kann man viel kaputt oder schmutzig machen.
Das wirkt sich auf die Bereitschaft zum Erzählen aus."Bald trifft er auch frühmorgens die "Räuber und Banditen": Sie arbeiten im Regen auf den Feldern und tragen Stützstrümpfe und Hörgeräte aus den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.
Die größte Entdeckung sind jedochdie Buswartehäuschen. Seit Jahrzehnten werden sie mit Mosai-ken gestaltet, eines schöner als das andere. Er fotografiert die farbenfrohen Zeugen der Geschichte und diskutiert mit Passanten über die sowjetische Zeit.
Das Diktiergerät hat Brumme sich um den Hals gehängt, so kann er Einfälle und Beobachtungen auch während des Fahrens festhalten. Er arbeitet als Tellerwäscher und in einer Brigade von Bauarbeitern, trifft weise Offiziere und einen Drogenfahnder, er lernt ein betrunkenes Dorf kennen. Er wird eingeladen, beschenkt und bestaunt.
Das Radfahren wird zunehmend zu einem Rausch. Brumme hält sich selbst und den Ziegen am Wegrand Vorträge, denkt über das Schreiben nach und erinnert sich an Schachpartien.
Wer mit ihm reist, wird reich belohnt. Die vielen Begegnungen fügen sich zu einem farbigen Porträt der Länder in der "Schwarzen Mitte Europas", über die wir Westeuropäer noch viel zu wenig wissen.
Anhand von Übersichtskarten kann der Leser die einzelnen Etappen der Tour de Wolga nachvollziehen.
Eine Auswahl der Buswartehäuschen wird auf einem farbigen Innenteil dokumentiert.
Nach acht Tagen durch Polen erreicht er die ukrainische Grenze. Es zieht ihn dorthin, wo mehr Nutz- als Zierpflanzen in den Gärten stehen."Die Leute mit den Nutzpflanzen sind die besseren Erzähler. Die Zierpflanzen-Besitzer verfügen über ein Konto, sie haben Kaufverträge abgeschlossen, und bei ihnen kann man viel kaputt oder schmutzig machen.
Das wirkt sich auf die Bereitschaft zum Erzählen aus."Bald trifft er auch frühmorgens die "Räuber und Banditen": Sie arbeiten im Regen auf den Feldern und tragen Stützstrümpfe und Hörgeräte aus den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.
Die größte Entdeckung sind jedochdie Buswartehäuschen. Seit Jahrzehnten werden sie mit Mosai-ken gestaltet, eines schöner als das andere. Er fotografiert die farbenfrohen Zeugen der Geschichte und diskutiert mit Passanten über die sowjetische Zeit.
Das Diktiergerät hat Brumme sich um den Hals gehängt, so kann er Einfälle und Beobachtungen auch während des Fahrens festhalten. Er arbeitet als Tellerwäscher und in einer Brigade von Bauarbeitern, trifft weise Offiziere und einen Drogenfahnder, er lernt ein betrunkenes Dorf kennen. Er wird eingeladen, beschenkt und bestaunt.
Das Radfahren wird zunehmend zu einem Rausch. Brumme hält sich selbst und den Ziegen am Wegrand Vorträge, denkt über das Schreiben nach und erinnert sich an Schachpartien.
Wer mit ihm reist, wird reich belohnt. Die vielen Begegnungen fügen sich zu einem farbigen Porträt der Länder in der "Schwarzen Mitte Europas", über die wir Westeuropäer noch viel zu wenig wissen.
Anhand von Übersichtskarten kann der Leser die einzelnen Etappen der Tour de Wolga nachvollziehen.
Eine Auswahl der Buswartehäuschen wird auf einem farbigen Innenteil dokumentiert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.04.2010Fahrradtour durch die Hirnwindungen
Der Schriftsteller Christoph D. Brumme begibt sich per Fahrrad und lediglich bewaffnet mit Zelt und Diktiergerät auf eine Osteuropa-Reise von Berlin bis Saratov, an der Wolga und zurück. Sein Ziel ist es, die "laue Luft des Wohlbefindens" abzulegen, der "Industrialisierung des Bewusstseins" zu entgehen. "Ich muss mich nicht verhalten", sinniert der Autor über den Kraftquell des Alleinseins. Auf seiner Fahrt durch Polen, die Ukraine und Russland berichtet er menschenkenntnisreich von Begegnungen mit Bauern, Schachtarbeitern, Volksdeputierten, Gendarmen und Banditen. Beinahe beschämend für den Westler ist die ukrainische Gastfreundschaft: "Freundschaft schließt man hier, bevor man sich kennenlernt." Brummes besonderes Faible im "Freilichtmuseum Ukraine" gilt den mit Steinmosaiken kunstvoll verzierten Bushaltesstellen, die er in Wort und Bild schwärmerisch festhält. Kontrapunktisch zu den ländlichen Stillleben in der Ukraine handeln die Stationen im neukapitalistischen Russland von Rubel, Reklame und Korruption. Etwas schwächer sind reportagehafte Passagen wie über den Arbeitstag einer Einheit der Bahnhofspolizei, ein Genre, von dem der Autor sich ansonsten distanziert. Seine Stärken entwickelt er im Wechsel von knappen Tagebucheinträgen und Bewusstseinsströmen ("Vielleicht fahre ich durch Dörfer oder durch meine Hirnwindungen") wie reflexive Passagen über das Schreiben ("Verwendung der Adjektive: Thomas Mann bindet Schleifchen in die Sätze, Kafka Rubine und Rasierklingen") oder Schachspielen. Locker versteckt zwischen Wegesrandimpressionen und Wildtierbeobachtungen lauern im Fahrtwind der Geschichte gewonnene Welterkenntnisse wie diese: "In zweitausend Jahren werden Kommunismus und Marktwirtschaft Nebengeräusche gewesen sein." "Ein Überflüssiger ist angekommen", beschreibt Brumme mit nihilistischem Charme seine Ankunft und "seelische Entlüftung" in Saratov. Die Pointe kommt beim Grenzübergang zurück nach Deutschland, wo er anstatt der erwarteten Blumen Belehrungen erhält. "Ich liebe meine Heimat", endet das Buch sarkastisch.
sg
"Auf einem blauen Elefanten. 8353 Kilometer mit dem Fahrrad von Berlin an die Wolga und zurück" von Christoph D. Brumme. Dittrich Verlag, Berlin 2009. 250 Seiten, einige Landkarten und Fotos. Gebunden, 19,80 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Schriftsteller Christoph D. Brumme begibt sich per Fahrrad und lediglich bewaffnet mit Zelt und Diktiergerät auf eine Osteuropa-Reise von Berlin bis Saratov, an der Wolga und zurück. Sein Ziel ist es, die "laue Luft des Wohlbefindens" abzulegen, der "Industrialisierung des Bewusstseins" zu entgehen. "Ich muss mich nicht verhalten", sinniert der Autor über den Kraftquell des Alleinseins. Auf seiner Fahrt durch Polen, die Ukraine und Russland berichtet er menschenkenntnisreich von Begegnungen mit Bauern, Schachtarbeitern, Volksdeputierten, Gendarmen und Banditen. Beinahe beschämend für den Westler ist die ukrainische Gastfreundschaft: "Freundschaft schließt man hier, bevor man sich kennenlernt." Brummes besonderes Faible im "Freilichtmuseum Ukraine" gilt den mit Steinmosaiken kunstvoll verzierten Bushaltesstellen, die er in Wort und Bild schwärmerisch festhält. Kontrapunktisch zu den ländlichen Stillleben in der Ukraine handeln die Stationen im neukapitalistischen Russland von Rubel, Reklame und Korruption. Etwas schwächer sind reportagehafte Passagen wie über den Arbeitstag einer Einheit der Bahnhofspolizei, ein Genre, von dem der Autor sich ansonsten distanziert. Seine Stärken entwickelt er im Wechsel von knappen Tagebucheinträgen und Bewusstseinsströmen ("Vielleicht fahre ich durch Dörfer oder durch meine Hirnwindungen") wie reflexive Passagen über das Schreiben ("Verwendung der Adjektive: Thomas Mann bindet Schleifchen in die Sätze, Kafka Rubine und Rasierklingen") oder Schachspielen. Locker versteckt zwischen Wegesrandimpressionen und Wildtierbeobachtungen lauern im Fahrtwind der Geschichte gewonnene Welterkenntnisse wie diese: "In zweitausend Jahren werden Kommunismus und Marktwirtschaft Nebengeräusche gewesen sein." "Ein Überflüssiger ist angekommen", beschreibt Brumme mit nihilistischem Charme seine Ankunft und "seelische Entlüftung" in Saratov. Die Pointe kommt beim Grenzübergang zurück nach Deutschland, wo er anstatt der erwarteten Blumen Belehrungen erhält. "Ich liebe meine Heimat", endet das Buch sarkastisch.
sg
"Auf einem blauen Elefanten. 8353 Kilometer mit dem Fahrrad von Berlin an die Wolga und zurück" von Christoph D. Brumme. Dittrich Verlag, Berlin 2009. 250 Seiten, einige Landkarten und Fotos. Gebunden, 19,80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ganz hingerissen ist Rezensentin Angelika Overath von diesem Reisebericht Christoph D. Brummes, der mit dem Rad von Berlin an die Wolga gefahren ist. Ausgiebig philosophiert sie über das Radfahren und die Unterschiede zu anderen Formen der Fortbewegung und des Reisens. Brumme gelingt es in ihren Augen nicht nur wunderbar, die verschiedenen Landschaften in Deutschland, Polen, der Ukraine und Russland, die er durchfährt, zu beschreiben, sondern auch in zahlreichen Begegnungen mit Menschen viel von der Alltagswirklichkeit in diesen Ländern zu vermitteln. Zudem bescheinigt sie ihm, für die neue Stimmung, für die "Schönheit unter den Brüchen" empfänglich zu sein. Besonders gefallen haben ihr auch die Fotografien und Beschreibungen der Mosaike in den Buswartehäuschen in der Ukraine und in Russland, die für sie so etwas sind wie von der Kunstgeschichte "unbeachtete Kathedralen eines kleinen Unterwegsseins".
© Perlentaucher Medien GmbH
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