Die Deutsche Reichsbahn war der größte Arbeitgeber in der DDR. 1990 wurde auch sie zum Sanierungsfall. Wolfgang Scherz, damals in der Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbahn in Frankfurt am Main tätig, kam im Frühjahr 1990 nach Berlin-Lichtenberg. Sein Auftrag: die Bahnbetriebe der beiden deutschen Staaten zusammenzuführen. Die Problematik dabei: die Deutsche Bundesbahn ist zu diesem Zeitpunkt ein schwer defizitäres Unternehmen. Fachlich gewappnet, aufgeschlossen und vorurteilsfrei dem ehemaligen Staatsbetrieb gegenüber, leitete er in den nächsten vier Jahren diese Fusion, die 1994 in die Gründung der Deutschen Bahn AG mündete. Er lernte »Reichsbahner« kennen, die gleichermaßen qualifiziert wie engagiert waren. Scherz nimmt den geschichts- wie eisenbahninteressierten Leser mit in ein spannendes Kapitel der deutschen Wiedervereinigung und berichtet als exklusiver Zeitzeuge.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Über die Zusammenführung von DDR- und BRD-Eisenbahn kann Rezensent Jochen Zenthöfer nun von einem Zeitzeugen lesen: Wolfgang Scherz hatte 1990 mitgeholfen, die beiden Bahnbetriebe in Ost und West zusammenzuführen. So lobt er etwa die umfassende fachliche Ausbildung der Ost-Bahner und kritisiert die geplante Ausweitung des Schienengüterverkehrs. Auch über die "Geheimniskrämerei" des DDR-Unternehmens bezüglich Schienenplänen oder Organigrammen kann Zenthöfer einiges lernen, empfiehlt aber zusätzlich die parallele Lektüre von Erich Preuß' "Die zerrisene Bahn." Insgesamt eine aufschlussreiche Lektüre, schließt der Kritiker.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.07.2024Adieu Reichsbahn
Innenansichten einer DDR-Abwicklung
Kaum jemand weiß, dass die Deutsche Reichsbahn (DR), die in der DDR verkehrte, Gewinn erwirtschaftete, während das westdeutsche Pendant, die Deutsche Bundesbahn, tief in den roten Zahlen steckte. Wahr ist aber auch, dass die Infrastruktur der Reichsbahn völlig marode war und lang erforderliche Instandhaltungsarbeiten und Erneuerungen ausblieben. "Wenn das alles erfolgt wäre, wäre die DR ebenfalls in den roten Zahlen gewesen", schreibt Wolfgang Scherz in seinen Erinnerungen zur Abwicklung der Deutschen Reichsbahn.
Scherz, einst in der Hauptverwaltung der Bundesbahn in Frankfurt am Main tätig, kam im Frühjahr 1990 nach Berlin-Lichtenberg. Sein Auftrag war es, mitzuhelfen, die Bahnbetriebe der beiden deutschen Staaten zusammenzuführen. Als Bauingenieur war er der richtige Mann dafür, später wurde er Mitglied des Vorstands der DB Netz AG, im Jahr 2007 verließ er den Bahnkonzern. Scherz bekundet großen Respekt vor den ostdeutschen Reichsbahnern. Die Führungskräfte hätten eine hervorragende fachliche Ausbildung gehabt. "Viele Kollegen der Bundesbahn konnten da nicht mithalten." Auch in der F.A.Z.-Beilage "Bilder und Zeiten" vom 24. Dezember 1993 hieß es: "Die Reichsbahn, das sind die Reichsbahner, dieser ganze Kosmos menschlicher Existenzen, die mit ihrem Unternehmen mehr verbindet als ein Dienstplan. Selbst hochmütige Westeisenbahner können nicht behaupten, die Osteisenbahn habe nicht gespurt. Sie trug ihre Rostflecken mit dem Selbstbewusstsein des staatserhaltenden Unternehmens."
Ebenfalls lesenswert ist das aus ostdeutscher Perspektive berichtende Buch "Die zerrissene Bahn 1990-2000. Tatsachen, Legenden, Hintergründe" von Erich Preuß aus dem Jahr 2001. Zu Preuß gesellt sich nun der Westdeutsche Scherz, der zugibt: Es habe sich damals gezeigt, dass die westdeutsche Bundesbahn der "quasi-sozialistische Betrieb" war, da alles nach Dienstalter und Laufbahn ging, nicht immer nach Leistung. Erst mit der wiedervereinigten Bahn, der DB, kam eine konsequente Buchführung nach Handelsrecht. Heutzutage sei die DB kein unbeherrschbares Risiko mehr. "Sie funktioniert, wenn auch gegenwärtig mit Qualitätsproblemen im Personenverkehr."
Scherz lobt den früheren Bahnchef Hartmut Mehdorn (der im Buch jedoch "Heinz" genannt wird). Mehdorn hätte sich nach außen immer demonstrativ vor seine Eisenbahner gestellt. "Wir haben unter Mehdorn immer mehr Züge gefahren, haben mehr Güter transportiert und Personen befördert." Mehdorn konnte mit dem Rangierer, dem Gleisbauarbeiter oder dem Lokführer sprechen und sei dabei authentisch gewesen. Zur geplanten Ausweitung des Schienengüterverkehrs redet Scherz erfreulicherweise ebenso Tacheles: Das geht teilweise gar nicht. Im Rheintal etwa fahren die Güterzüge fast schon im U-Bahn-Takt. Um einen deutlichen Ausbau oder Neubau komme man nicht herum. Dafür müsse die Regierung das notwendige Geld zur Verfügung stellen.
Manche Blickwinkel bleiben Scherz verschlossen, daher ist es ratsam, das Buch von Preuß parallel zu lesen. Dort erfährt man einiges über die ungerechte Benachteiligung mancher Reichsbahner bei der Rentenberechnung. Scherz berichtet indes von familiären und beruflichen Berührungen mit Tragödien bezüglich der Staatssicherheit und, was seinen Vater betrifft, aus der Nazizeit. Trotz allem hat man den Eindruck, dass sich die Eisenbahner aus Ost und West gut verstanden haben. Im Osten sollte unter Einladungen stehen: "Um pflichtgemäße Vorbereitung wird gebeten!"
Ein Problem blieb die Geheimniskrämerei der DDR-Kollegen. Es gab kein Telefonverzeichnis für die einzelnen Dienststellen der Reichsbahn. Telefonnummern und Organigramme waren vertraulich. Lagepläne oder Bahnhofsskizzen hatten abends von den Schreibtischen zu verschwinden. In den Papierkörben durften auch keine zerrissenen Unterlagen liegen, die sich zusammensetzen ließen. "Der Klassenfeind schläft nie. - Wir lachten. Wir Klassenfeinde hatten verstanden." Dann kam es doch noch zu Kündigungen, im Jahr 1994, am Rangierbahnhof Sassnitz. Die Menschen standen vor dem Aus. Vielleicht deshalb fremdeln manche ehemalige Reichsbahner bis heute mit dem demokratischen System. Scherz schreibt: "Auf der einen Seite profitieren sie von den Segnungen des Rechtsstaates und verzehren die ihnen zustehende und oft nicht geringe Altersversorgung, sind aber dennoch unzufrieden über vieles, was im Land läuft oder nicht läuft."
In der DDR sei die Reichsbahn ein Element der Landesverteidigung gewesen, was ihren in Teilen paramilitärischen Charakter erkläre und die besondere Behandlung im Wirtschaftsgefüge. Auch deshalb hat die DR immer Gewinn gemacht. Es gab keine Konkurrenz und die gesetzliche Regelung, dass Güter über fünfzig Kilometer auf der Schiene transportiert werden mussten. "Ob das immer sinnvoll war oder nicht: Es wurde gemacht", schreibt Scherz: "Das war mitunter etwas absurd, wenn etwa per LKW 49,5 Kilometer bis zum nächsten Bahnhof gefahren, dann umgeladen und auf der Schiene einige Kilometer gefahren wurde; danach ging es erneut auf dem LKW über einige Kilometer weiter bis zum Empfänger." Das war umständlich, aber gesetzeskonform. Viele Menschen in der DDR waren stolz auf die Bahn. Dieses Gefühl kam im Vereinigungsprozess abhanden. Möglicherweise war das unausweichlich. Vielleicht aber auch nicht. JOCHEN ZENTHÖFER
Scherz, Wolfgang: Auf neuen Gleisen - Die Abwicklung der Deutschen Reichsbahn, Verlag Das neue Berlin, Berlin 2024, 223 Seiten, 20 Euro.
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Innenansichten einer DDR-Abwicklung
Kaum jemand weiß, dass die Deutsche Reichsbahn (DR), die in der DDR verkehrte, Gewinn erwirtschaftete, während das westdeutsche Pendant, die Deutsche Bundesbahn, tief in den roten Zahlen steckte. Wahr ist aber auch, dass die Infrastruktur der Reichsbahn völlig marode war und lang erforderliche Instandhaltungsarbeiten und Erneuerungen ausblieben. "Wenn das alles erfolgt wäre, wäre die DR ebenfalls in den roten Zahlen gewesen", schreibt Wolfgang Scherz in seinen Erinnerungen zur Abwicklung der Deutschen Reichsbahn.
Scherz, einst in der Hauptverwaltung der Bundesbahn in Frankfurt am Main tätig, kam im Frühjahr 1990 nach Berlin-Lichtenberg. Sein Auftrag war es, mitzuhelfen, die Bahnbetriebe der beiden deutschen Staaten zusammenzuführen. Als Bauingenieur war er der richtige Mann dafür, später wurde er Mitglied des Vorstands der DB Netz AG, im Jahr 2007 verließ er den Bahnkonzern. Scherz bekundet großen Respekt vor den ostdeutschen Reichsbahnern. Die Führungskräfte hätten eine hervorragende fachliche Ausbildung gehabt. "Viele Kollegen der Bundesbahn konnten da nicht mithalten." Auch in der F.A.Z.-Beilage "Bilder und Zeiten" vom 24. Dezember 1993 hieß es: "Die Reichsbahn, das sind die Reichsbahner, dieser ganze Kosmos menschlicher Existenzen, die mit ihrem Unternehmen mehr verbindet als ein Dienstplan. Selbst hochmütige Westeisenbahner können nicht behaupten, die Osteisenbahn habe nicht gespurt. Sie trug ihre Rostflecken mit dem Selbstbewusstsein des staatserhaltenden Unternehmens."
Ebenfalls lesenswert ist das aus ostdeutscher Perspektive berichtende Buch "Die zerrissene Bahn 1990-2000. Tatsachen, Legenden, Hintergründe" von Erich Preuß aus dem Jahr 2001. Zu Preuß gesellt sich nun der Westdeutsche Scherz, der zugibt: Es habe sich damals gezeigt, dass die westdeutsche Bundesbahn der "quasi-sozialistische Betrieb" war, da alles nach Dienstalter und Laufbahn ging, nicht immer nach Leistung. Erst mit der wiedervereinigten Bahn, der DB, kam eine konsequente Buchführung nach Handelsrecht. Heutzutage sei die DB kein unbeherrschbares Risiko mehr. "Sie funktioniert, wenn auch gegenwärtig mit Qualitätsproblemen im Personenverkehr."
Scherz lobt den früheren Bahnchef Hartmut Mehdorn (der im Buch jedoch "Heinz" genannt wird). Mehdorn hätte sich nach außen immer demonstrativ vor seine Eisenbahner gestellt. "Wir haben unter Mehdorn immer mehr Züge gefahren, haben mehr Güter transportiert und Personen befördert." Mehdorn konnte mit dem Rangierer, dem Gleisbauarbeiter oder dem Lokführer sprechen und sei dabei authentisch gewesen. Zur geplanten Ausweitung des Schienengüterverkehrs redet Scherz erfreulicherweise ebenso Tacheles: Das geht teilweise gar nicht. Im Rheintal etwa fahren die Güterzüge fast schon im U-Bahn-Takt. Um einen deutlichen Ausbau oder Neubau komme man nicht herum. Dafür müsse die Regierung das notwendige Geld zur Verfügung stellen.
Manche Blickwinkel bleiben Scherz verschlossen, daher ist es ratsam, das Buch von Preuß parallel zu lesen. Dort erfährt man einiges über die ungerechte Benachteiligung mancher Reichsbahner bei der Rentenberechnung. Scherz berichtet indes von familiären und beruflichen Berührungen mit Tragödien bezüglich der Staatssicherheit und, was seinen Vater betrifft, aus der Nazizeit. Trotz allem hat man den Eindruck, dass sich die Eisenbahner aus Ost und West gut verstanden haben. Im Osten sollte unter Einladungen stehen: "Um pflichtgemäße Vorbereitung wird gebeten!"
Ein Problem blieb die Geheimniskrämerei der DDR-Kollegen. Es gab kein Telefonverzeichnis für die einzelnen Dienststellen der Reichsbahn. Telefonnummern und Organigramme waren vertraulich. Lagepläne oder Bahnhofsskizzen hatten abends von den Schreibtischen zu verschwinden. In den Papierkörben durften auch keine zerrissenen Unterlagen liegen, die sich zusammensetzen ließen. "Der Klassenfeind schläft nie. - Wir lachten. Wir Klassenfeinde hatten verstanden." Dann kam es doch noch zu Kündigungen, im Jahr 1994, am Rangierbahnhof Sassnitz. Die Menschen standen vor dem Aus. Vielleicht deshalb fremdeln manche ehemalige Reichsbahner bis heute mit dem demokratischen System. Scherz schreibt: "Auf der einen Seite profitieren sie von den Segnungen des Rechtsstaates und verzehren die ihnen zustehende und oft nicht geringe Altersversorgung, sind aber dennoch unzufrieden über vieles, was im Land läuft oder nicht läuft."
In der DDR sei die Reichsbahn ein Element der Landesverteidigung gewesen, was ihren in Teilen paramilitärischen Charakter erkläre und die besondere Behandlung im Wirtschaftsgefüge. Auch deshalb hat die DR immer Gewinn gemacht. Es gab keine Konkurrenz und die gesetzliche Regelung, dass Güter über fünfzig Kilometer auf der Schiene transportiert werden mussten. "Ob das immer sinnvoll war oder nicht: Es wurde gemacht", schreibt Scherz: "Das war mitunter etwas absurd, wenn etwa per LKW 49,5 Kilometer bis zum nächsten Bahnhof gefahren, dann umgeladen und auf der Schiene einige Kilometer gefahren wurde; danach ging es erneut auf dem LKW über einige Kilometer weiter bis zum Empfänger." Das war umständlich, aber gesetzeskonform. Viele Menschen in der DDR waren stolz auf die Bahn. Dieses Gefühl kam im Vereinigungsprozess abhanden. Möglicherweise war das unausweichlich. Vielleicht aber auch nicht. JOCHEN ZENTHÖFER
Scherz, Wolfgang: Auf neuen Gleisen - Die Abwicklung der Deutschen Reichsbahn, Verlag Das neue Berlin, Berlin 2024, 223 Seiten, 20 Euro.
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