»Länder geben sich oft den Besuchern am besten zu erkennen, die nicht wissen, was sie mit diesem neuen Land anfangen sollen.«
Die Gesammelten Werke Cees Nootebooms, die auf acht Bände angelegt sind, unterscheiden sich von vergleichbaren Editionen wesentlich dadurch, daß es hier unendlich vieles zu entdecken gibt: Neues und bislang Unübersetztes. Nach den Niederlanden, Spanien und dem restlichen Europa in Band 4 und 5 folgt Band 6 Cees Nooteboom auf die anderen Kontinente - zuerst nach Afrika, wo der Autor als junger Mann unterwegs war, später nach Asien.
Besonders die Begegnung mit Japan gerät dem Autor zu einer nachhaltigen Erfahrung, der er sich über die Jahre immer wieder stellt. Nooteboom bereist und beschreibt die Neue Welt, nimmt die Leser mit nach Süd- und Mittelamerika, in die USA und schließlich nach Australien und in die Südsee.
Cees Nootebooms Gesammelte Werke erscheinen in hochwertiger Ausstattung: gebunden in dunkelrotem Leinen, mit eleganten, rein typographisch gestalteten Umschlägen, auf bestem Papier gedruckt, mit Lesebändchen, im Schuber.
Die Gesammelten Werke Cees Nootebooms, die auf acht Bände angelegt sind, unterscheiden sich von vergleichbaren Editionen wesentlich dadurch, daß es hier unendlich vieles zu entdecken gibt: Neues und bislang Unübersetztes. Nach den Niederlanden, Spanien und dem restlichen Europa in Band 4 und 5 folgt Band 6 Cees Nooteboom auf die anderen Kontinente - zuerst nach Afrika, wo der Autor als junger Mann unterwegs war, später nach Asien.
Besonders die Begegnung mit Japan gerät dem Autor zu einer nachhaltigen Erfahrung, der er sich über die Jahre immer wieder stellt. Nooteboom bereist und beschreibt die Neue Welt, nimmt die Leser mit nach Süd- und Mittelamerika, in die USA und schließlich nach Australien und in die Südsee.
Cees Nootebooms Gesammelte Werke erscheinen in hochwertiger Ausstattung: gebunden in dunkelrotem Leinen, mit eleganten, rein typographisch gestalteten Umschlägen, auf bestem Papier gedruckt, mit Lesebändchen, im Schuber.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.09.2005Kein Reisender sieht sich ganz
Makler in Vergänglichkeit: Cees Nooteboom auf vier Kontinenten
Es hat etwas Unwirkliches, viele hundert Seiten eines Autors zu lesen, der von zahllosen Reisen in zahllosen Ländern schreibt und immer wieder schreibt. Das Unwirkliche entsteht aus der Wiederholung der Riten des Reisens, und man kann es nur ertragen, weil sich keiner dessen bewußter ist als der Autor. Für Cees Nooteboom ist das Reisen und das Fortsein ein zentrales Motiv in seinem Schreiben - den Romanen, Erzählungen und Gedichten - wie auch für sein Schreiben. Jede Wiederholung des Schemas "Ausfahrt - Erfahrung - Heimkehr" ist dem Schreiben eines Textes verwandt, und dieser Text wiederum kann das Leben sein. Das Reisen ist Medizin gegen die Melancholie, sie kann sie aber auch verstärken. Beide Wirkungen sind mit "Nootebooms Extrakt" zu haben, aber die Nebenwirkungen sind unberechenbar.
Nun zieht also der Autor im sechsten Band seiner Gesammelten Werke - wieder äußerst treffend übersetzt von Helga von Beuningen und Andreas Ecke - durch vier Kontinente (Europa war einem anderen Band vorbehalten): Afrika, Asien, Amerika, Australien. Ein solcher Titel könnte ein geographisch-historisches Lexikon zieren oder ein botanisches Werk, in denen sich auch immer geistige Besitzansprüche der Verfasser anmelden. Aber das wäre hier irreführend. Nootebooms Reisen ist nämlich geradezu ein ständiges Anlaufen gegen Besitzansprüche irgendwelcher Art. Bestimmte Städte- oder Landschaftsnamen ziehen ihn magisch an, er ist ja ein sprachlich kodierter Mensch, aber er weiß auch von dem Vakuum, das sich in Namen verbirgt. Besitz muß Illusion bleiben in einer flüchtigen Welt. Er ist der ewige Außenseiter, fast ein Ahasver, er sieht sich als Blinden, worin mehr Sehen liegt. als man denkt.
Dieses Sich-selbst-Sehen als Reflexion nimmt mit den Jahren zu. Verbleiben die frühen Reisen noch in der Beschreibung von sinnlichen Überwältigungen, so tritt später zunehmend ein Blinder ins Bild, der sich selber sieht und das Reisen fortwährend befragt. Vielleicht rührt es daher, daß Nooteboom immer fasziniert bleibt von einem Phänomen, das mit Flugreisen verbunden ist. Das Flugzeug läßt sich, wie er einmal notiert, nur als Ganzes sehen, wenn es auf dem Boden steht; in der Luft sieht der Reisende immer nur den einen Flügel. Der Reisende sieht sich nie ganz, und diese partielle Blindheit ist der Ausdruck seines Lebendig- und Unterwegsseins.
Der Reisende, der sich für die Vergangenheit der Kulturen interessiert, die er bereist, ist allerdings noch auf einer zweiten Reise. Er ist nicht nur fern von zu Hause, sondern auch fern den historischen Linien, deren Endpunkte als Ruinen oder Verhaltensweisen er nur registrieren kann. Wenn Reise auch Lebensreise ist, so ist wohl eines der Hauptmotive in Nootebooms Reisen die Vergänglichkeit: die der Kulturen, die man nicht mehr versteht, der eigenen Kultur und ihrer Formen des Vergessens und die eigene Vergänglichkeit. Wie oft schreibt er, daß er diese Landschaft, diesen Ort nie mehr sehen werde, und wenn er noch soviel reisen würde. Nostalgie, immer reflektiert, kommt auf beim Anblick von Märkten in Asien und Afrika, von Handwerkern, die vor den Augen der Kundschaft noch Leder bearbeiten, Körbe flechten oder Kleider nähen, die unerfüllte Sehnsucht des Touristen: "Unsere Begehrlichkeit ist die Begehrlichkeit von Menschen, die nie mehr etwas selbst machen", bemerkt er auf Borneo.
Bei den Dogon in Afrika wird ihm bewußt, wie wenig wir noch von Gemeinschaft sprechen können: "Wir leben allein, und sie leben zusammen." Nooteboom sieht mit vorausschauendem Blick, daß auch dies alles verschwinden wird unter dem heißen Wind der Globalisierung. So wird das Aufschreiben zum Anhalten und Erinnern, zu einer Bilanz der Verluste, aber auch der Gewinne im Prozeß der Modernisierung, denn der Autor ist beileibe kein Prophet des Gestern. Davor bewahrt ihn untrüglicher Humor, mit dem er sich durch die eigenen Befindlichkeiten wie die der anderen schnüffelt, ein friedlicher Mensch, der sich ab und zu durch kleine Hiebe verteidigen muß. Da erscheinen schon mal hysterische oder sonstwie abgedrehte Deutsche, afrikanische Bürokraten oder pompöse Politiker. Die meisten Hiebe versetzt er sich allerdings selbst, das gefällt dem Leser, denn Selbstironie entrückt den Autor nicht in eine unendliche Ferne, sondern bindet ihn an die Erfahrungen der Lesenden. Den vielen Grabinschriften, die er gerne und überall studiert, den Visitenkarten, Bewerbungsschreiben, Formularen und Strafzetteln, fügt er, sich selbst objektivierend, immer mal seinen Namen hinzu: "Für die Allgemeine Buchführung des Alls schreibe ich meinen Namen in das Gästebuch." Als Beruf notiert er einmal "C. Nooteboom, Makler in Vergänglichkeit".
Das verleiht ihm eine Offenheit gegenüber der Welt, ihren Wundern und Enttäuschungen, für die der Leser ihm dankbar sein kann. Denn diese Offenheit ist unauflöslich mit Erfahrungs- und Wissenshunger verbunden. Was läßt sich nicht alles nebenbei von ihm lernen über die Geschichte der Könige von Birma, über den iranischen Geheimdienst oder Faulkner, über die Formen des Islam, aztekische Opferkulte und japanische Zengärten! Da er viele Reisen im Auftrag europäischer Zeitungen unternahm, wird viel Zeitung gelesen, die Politik der Zeit und des Landes angerissen, wobei vieles für ihn und für die Leser im Dämmerlicht bleiben muß: Namen, Intrigen, Palastaufstände, Revolutionen von links, rechts, oben, unten, hinten und vorne. Der Außenseiter, der Reisende, versteht nicht, notiert trotzdem, und was er über die Gegenwart schon nie erfahren wird, das wird ihm im Vergangenen noch schmerzlicher bewußt.
Auf den Pyramiden von Teotihuacán in Mexiko wird ihm die doppelte Verfälschung bewußt, die durch die Musealisierung des Alten geschieht. Nichts sah so aus, wie es jetzt aussieht, und wenn man es doch wüßte, so bleibt vor dem Hintergrund solcher Monumente das Rätsel des Alltags dieser Menschen, ihres Denkens und Fühlens. Es ist sozusagen die "Last der doppelten Maske". Lakonisch muß er sich eingestehen: "Ich bin zu spät am Ort der Verabredung erschienen." Einmal ist er zu früh angekommen, nämlich am World Trade Center in Manhattan. Hier meditiert er 1975 über die zwei Türme, die alles hier unten zermahlen, aber doch "irgendwie zerbrechlich, verwundbar" sind, "etwas, das unmöglich bleiben kann und eines Tages mit einem Seufzer in sich zusammensinken wird, zerknüllt wie ein Zigarettenpapier".
Ein Leser wies ihn später auf diese, wie ihm schien, prophetische Äußerung hin. Nooteboom nimmt diese Reaktion mehr oder weniger kommentarlos in das Nachwort zu seinem Bändchen "Der Laut seines Namens. Reisen durch die islamische Welt" auf. Aber dieses Nachwort hat es in sich. Er stellt hier weitere Erinnerungen nebeneinander, die ein Schlaglicht auf unser gegenwärtiges Verhältnis zum Islam und des Islam zu uns werfen: die marokkanische Familie, die durch das Amsterdamer Rotlichtviertel geht; das Verzehren eines Schafsauges in der heiligen Stadt Ghom in Iran, in der er auch von fanatisierten Mullahs bespuckt wird, während im selben Jahr Foucault in Paris einen Demonstrationszug anführt, der die Rückkehr eines im Exil lebenden Ayatollahs nach Iran fordert; ein niederländischer Soldat in Afghanistan, der einem jungen islamischen Dolmetscher Pornofilme andrehen will; oder ein israelischer Philosoph, der behauptet, Al Qaidas Kampf gegen die westliche Maschinerie verdanke sich letztlich dem organischen Denken der deutschen Romantik.
Das sind alles Episoden und Bemerkungen, deren Bedeutung erst heute sichtbar geworden ist. Wenn sie eines lehren, so die gegenseitige Unwissenheit. Nooteboom weiß, daß viele der Reisen, die er hier schildert, noch "unschuldige Reisen" sind, auf denen die islamische Welt zwar fremd, aber doch auch freundlich und ansprechend erschien. So ziehen wir mit ihm von den sechziger Jahren an durch die nördliche Sahara, Mali, Marokko, Tunesien bis hin nach Isfahan und Indien. Noch sehen die Kamele irgendwie aus wie "hochmütige Gelehrte, die allesamt Heidegger gelesen haben". In Granada erlaubt er sich eine Meditation im Stile von Borges, und nicht von ungefähr heißt dieser Text "Der Blinde und die Schrift". Neben Borges tauchen immer auch niederländische Autoren auf - für den deutschen Leser haben sie oft Entdeckungscharakter: Couperus, Slauerhoff, Mulisch und manche andere, die für die koloniale Zeit der Niederlande in Surinam und Indonesien Bedeutung haben. Eine Offenbarung war ihm Faulkner, und so wird ein Teil seiner Reisen durch die amerikanischen Südstaaten diesem Gott geopfert. Britische Autoren sind ihm Paten auf den Kontinenten: Chatwin in Australien ebenso wie Churchill in Afrika, Waugh, Greene oder Robert Byron.
Ein schönes Foto zeigt den Autor in einer Gefängniszelle in Spanien im Jahr 1988. Er schreibt mit einer Feder (oder sind es zwei?), hinter ihm Schwert und Helm. Es ist die Zelle des Cervantes, und sie hat manches gemein mit den vielen Hotelzimmern, die für Nooteboom eine oft gesuchte Existenzform wurden. Sein Reisen hat etwas von einer Donquichotterie, etwas Ungleichzeitiges, den Blick nach hinten und nach vorn zugleich. Und er führt eine Art Doppelgänger mit sich. Sein Sancho Pansa ist das "professionelle Alter ego in uns", die Instanz, die fortwährend aufschreibt oder fotografiert und den Wanderer, Touristen und Flaneur ausgelöscht hat. Solch eine Doppelgängerexistenz ist sich immer selbst voraus und außer sich, nie im Hier und Jetzt, immer schon in den Fotoalben, Bildbänden und Büchern.
Als dritte Veröffentlichung ist ein solcher Bildband zu vermelden, der Texte von Nooteboom mit Fotos von seinem häufigen Reisebegleiter Eddy Posthuma de Boer zusammenbringt. Ob es von oben lächelnde afrikanische Frauen sind, der Blick auf das kubistische Timbuktu oder frischer Thunfisch auf Madeira: Die Fotos erzeugen eine Leuchtkraft, die sich mit dem Leuchten der Texte verbindet. Endlich auch die Windmühlen von La Mancha, auf deren Weiß sich das Schattengitter eines Flügels legt. Hier wird noch einmal die potentielle Schwerelosigkeit des Reisens sichtbar, jene Welt, in der der Reisende zum Kind wird und nur noch auf Dinge zeigen kann. Wer selber nicht reisen will, schreibt Nooteboom in einem Interview mit sich selbst, "der sollte lieber zu Hause bleiben, es sich im Sessel bequem machen und diese wunderbaren Reisebücher lesen, die einsame Reisende in der Stille fremder Hotelzimmer für ihn geschrieben haben".
ELMAR SCHENKEL
Cees Nooteboom: "Auf Reisen 3: Afrika, Asien, Amerika, Australien". Gesammelte Werke, Band 6. Aus dem Niederländischen übersetzt von Helga von Beuningen und Andreas Ecke. Herausgegeben von Susanne Schaber. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 935 S., geb., 42,90 [Euro].
Cees Nooteboom: "Der Laut seines Namens". Reisen durch die islamische Welt. Aus dem Niederländischen übersetzt von Helga von Beuningen und Rosemarie Still. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 229 S., geb., 10,- [Euro].
Cees Nooteboom: "Die Kunst des Reisens". Fotografien von Eddy Posthuma de Boer. Zusammengestellt von Susanne Schaber und Lothar Schirmer. Aus dem Niederländischen und Englischen übersetzt von Helga von Beuningen, Andreas Ecke, Brigitte Heinrich und Matthias Wolf. Verlag Schirmer/Mosel, München 2004. 152 S., 76 Farbtafeln, geb., 29,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Makler in Vergänglichkeit: Cees Nooteboom auf vier Kontinenten
Es hat etwas Unwirkliches, viele hundert Seiten eines Autors zu lesen, der von zahllosen Reisen in zahllosen Ländern schreibt und immer wieder schreibt. Das Unwirkliche entsteht aus der Wiederholung der Riten des Reisens, und man kann es nur ertragen, weil sich keiner dessen bewußter ist als der Autor. Für Cees Nooteboom ist das Reisen und das Fortsein ein zentrales Motiv in seinem Schreiben - den Romanen, Erzählungen und Gedichten - wie auch für sein Schreiben. Jede Wiederholung des Schemas "Ausfahrt - Erfahrung - Heimkehr" ist dem Schreiben eines Textes verwandt, und dieser Text wiederum kann das Leben sein. Das Reisen ist Medizin gegen die Melancholie, sie kann sie aber auch verstärken. Beide Wirkungen sind mit "Nootebooms Extrakt" zu haben, aber die Nebenwirkungen sind unberechenbar.
Nun zieht also der Autor im sechsten Band seiner Gesammelten Werke - wieder äußerst treffend übersetzt von Helga von Beuningen und Andreas Ecke - durch vier Kontinente (Europa war einem anderen Band vorbehalten): Afrika, Asien, Amerika, Australien. Ein solcher Titel könnte ein geographisch-historisches Lexikon zieren oder ein botanisches Werk, in denen sich auch immer geistige Besitzansprüche der Verfasser anmelden. Aber das wäre hier irreführend. Nootebooms Reisen ist nämlich geradezu ein ständiges Anlaufen gegen Besitzansprüche irgendwelcher Art. Bestimmte Städte- oder Landschaftsnamen ziehen ihn magisch an, er ist ja ein sprachlich kodierter Mensch, aber er weiß auch von dem Vakuum, das sich in Namen verbirgt. Besitz muß Illusion bleiben in einer flüchtigen Welt. Er ist der ewige Außenseiter, fast ein Ahasver, er sieht sich als Blinden, worin mehr Sehen liegt. als man denkt.
Dieses Sich-selbst-Sehen als Reflexion nimmt mit den Jahren zu. Verbleiben die frühen Reisen noch in der Beschreibung von sinnlichen Überwältigungen, so tritt später zunehmend ein Blinder ins Bild, der sich selber sieht und das Reisen fortwährend befragt. Vielleicht rührt es daher, daß Nooteboom immer fasziniert bleibt von einem Phänomen, das mit Flugreisen verbunden ist. Das Flugzeug läßt sich, wie er einmal notiert, nur als Ganzes sehen, wenn es auf dem Boden steht; in der Luft sieht der Reisende immer nur den einen Flügel. Der Reisende sieht sich nie ganz, und diese partielle Blindheit ist der Ausdruck seines Lebendig- und Unterwegsseins.
Der Reisende, der sich für die Vergangenheit der Kulturen interessiert, die er bereist, ist allerdings noch auf einer zweiten Reise. Er ist nicht nur fern von zu Hause, sondern auch fern den historischen Linien, deren Endpunkte als Ruinen oder Verhaltensweisen er nur registrieren kann. Wenn Reise auch Lebensreise ist, so ist wohl eines der Hauptmotive in Nootebooms Reisen die Vergänglichkeit: die der Kulturen, die man nicht mehr versteht, der eigenen Kultur und ihrer Formen des Vergessens und die eigene Vergänglichkeit. Wie oft schreibt er, daß er diese Landschaft, diesen Ort nie mehr sehen werde, und wenn er noch soviel reisen würde. Nostalgie, immer reflektiert, kommt auf beim Anblick von Märkten in Asien und Afrika, von Handwerkern, die vor den Augen der Kundschaft noch Leder bearbeiten, Körbe flechten oder Kleider nähen, die unerfüllte Sehnsucht des Touristen: "Unsere Begehrlichkeit ist die Begehrlichkeit von Menschen, die nie mehr etwas selbst machen", bemerkt er auf Borneo.
Bei den Dogon in Afrika wird ihm bewußt, wie wenig wir noch von Gemeinschaft sprechen können: "Wir leben allein, und sie leben zusammen." Nooteboom sieht mit vorausschauendem Blick, daß auch dies alles verschwinden wird unter dem heißen Wind der Globalisierung. So wird das Aufschreiben zum Anhalten und Erinnern, zu einer Bilanz der Verluste, aber auch der Gewinne im Prozeß der Modernisierung, denn der Autor ist beileibe kein Prophet des Gestern. Davor bewahrt ihn untrüglicher Humor, mit dem er sich durch die eigenen Befindlichkeiten wie die der anderen schnüffelt, ein friedlicher Mensch, der sich ab und zu durch kleine Hiebe verteidigen muß. Da erscheinen schon mal hysterische oder sonstwie abgedrehte Deutsche, afrikanische Bürokraten oder pompöse Politiker. Die meisten Hiebe versetzt er sich allerdings selbst, das gefällt dem Leser, denn Selbstironie entrückt den Autor nicht in eine unendliche Ferne, sondern bindet ihn an die Erfahrungen der Lesenden. Den vielen Grabinschriften, die er gerne und überall studiert, den Visitenkarten, Bewerbungsschreiben, Formularen und Strafzetteln, fügt er, sich selbst objektivierend, immer mal seinen Namen hinzu: "Für die Allgemeine Buchführung des Alls schreibe ich meinen Namen in das Gästebuch." Als Beruf notiert er einmal "C. Nooteboom, Makler in Vergänglichkeit".
Das verleiht ihm eine Offenheit gegenüber der Welt, ihren Wundern und Enttäuschungen, für die der Leser ihm dankbar sein kann. Denn diese Offenheit ist unauflöslich mit Erfahrungs- und Wissenshunger verbunden. Was läßt sich nicht alles nebenbei von ihm lernen über die Geschichte der Könige von Birma, über den iranischen Geheimdienst oder Faulkner, über die Formen des Islam, aztekische Opferkulte und japanische Zengärten! Da er viele Reisen im Auftrag europäischer Zeitungen unternahm, wird viel Zeitung gelesen, die Politik der Zeit und des Landes angerissen, wobei vieles für ihn und für die Leser im Dämmerlicht bleiben muß: Namen, Intrigen, Palastaufstände, Revolutionen von links, rechts, oben, unten, hinten und vorne. Der Außenseiter, der Reisende, versteht nicht, notiert trotzdem, und was er über die Gegenwart schon nie erfahren wird, das wird ihm im Vergangenen noch schmerzlicher bewußt.
Auf den Pyramiden von Teotihuacán in Mexiko wird ihm die doppelte Verfälschung bewußt, die durch die Musealisierung des Alten geschieht. Nichts sah so aus, wie es jetzt aussieht, und wenn man es doch wüßte, so bleibt vor dem Hintergrund solcher Monumente das Rätsel des Alltags dieser Menschen, ihres Denkens und Fühlens. Es ist sozusagen die "Last der doppelten Maske". Lakonisch muß er sich eingestehen: "Ich bin zu spät am Ort der Verabredung erschienen." Einmal ist er zu früh angekommen, nämlich am World Trade Center in Manhattan. Hier meditiert er 1975 über die zwei Türme, die alles hier unten zermahlen, aber doch "irgendwie zerbrechlich, verwundbar" sind, "etwas, das unmöglich bleiben kann und eines Tages mit einem Seufzer in sich zusammensinken wird, zerknüllt wie ein Zigarettenpapier".
Ein Leser wies ihn später auf diese, wie ihm schien, prophetische Äußerung hin. Nooteboom nimmt diese Reaktion mehr oder weniger kommentarlos in das Nachwort zu seinem Bändchen "Der Laut seines Namens. Reisen durch die islamische Welt" auf. Aber dieses Nachwort hat es in sich. Er stellt hier weitere Erinnerungen nebeneinander, die ein Schlaglicht auf unser gegenwärtiges Verhältnis zum Islam und des Islam zu uns werfen: die marokkanische Familie, die durch das Amsterdamer Rotlichtviertel geht; das Verzehren eines Schafsauges in der heiligen Stadt Ghom in Iran, in der er auch von fanatisierten Mullahs bespuckt wird, während im selben Jahr Foucault in Paris einen Demonstrationszug anführt, der die Rückkehr eines im Exil lebenden Ayatollahs nach Iran fordert; ein niederländischer Soldat in Afghanistan, der einem jungen islamischen Dolmetscher Pornofilme andrehen will; oder ein israelischer Philosoph, der behauptet, Al Qaidas Kampf gegen die westliche Maschinerie verdanke sich letztlich dem organischen Denken der deutschen Romantik.
Das sind alles Episoden und Bemerkungen, deren Bedeutung erst heute sichtbar geworden ist. Wenn sie eines lehren, so die gegenseitige Unwissenheit. Nooteboom weiß, daß viele der Reisen, die er hier schildert, noch "unschuldige Reisen" sind, auf denen die islamische Welt zwar fremd, aber doch auch freundlich und ansprechend erschien. So ziehen wir mit ihm von den sechziger Jahren an durch die nördliche Sahara, Mali, Marokko, Tunesien bis hin nach Isfahan und Indien. Noch sehen die Kamele irgendwie aus wie "hochmütige Gelehrte, die allesamt Heidegger gelesen haben". In Granada erlaubt er sich eine Meditation im Stile von Borges, und nicht von ungefähr heißt dieser Text "Der Blinde und die Schrift". Neben Borges tauchen immer auch niederländische Autoren auf - für den deutschen Leser haben sie oft Entdeckungscharakter: Couperus, Slauerhoff, Mulisch und manche andere, die für die koloniale Zeit der Niederlande in Surinam und Indonesien Bedeutung haben. Eine Offenbarung war ihm Faulkner, und so wird ein Teil seiner Reisen durch die amerikanischen Südstaaten diesem Gott geopfert. Britische Autoren sind ihm Paten auf den Kontinenten: Chatwin in Australien ebenso wie Churchill in Afrika, Waugh, Greene oder Robert Byron.
Ein schönes Foto zeigt den Autor in einer Gefängniszelle in Spanien im Jahr 1988. Er schreibt mit einer Feder (oder sind es zwei?), hinter ihm Schwert und Helm. Es ist die Zelle des Cervantes, und sie hat manches gemein mit den vielen Hotelzimmern, die für Nooteboom eine oft gesuchte Existenzform wurden. Sein Reisen hat etwas von einer Donquichotterie, etwas Ungleichzeitiges, den Blick nach hinten und nach vorn zugleich. Und er führt eine Art Doppelgänger mit sich. Sein Sancho Pansa ist das "professionelle Alter ego in uns", die Instanz, die fortwährend aufschreibt oder fotografiert und den Wanderer, Touristen und Flaneur ausgelöscht hat. Solch eine Doppelgängerexistenz ist sich immer selbst voraus und außer sich, nie im Hier und Jetzt, immer schon in den Fotoalben, Bildbänden und Büchern.
Als dritte Veröffentlichung ist ein solcher Bildband zu vermelden, der Texte von Nooteboom mit Fotos von seinem häufigen Reisebegleiter Eddy Posthuma de Boer zusammenbringt. Ob es von oben lächelnde afrikanische Frauen sind, der Blick auf das kubistische Timbuktu oder frischer Thunfisch auf Madeira: Die Fotos erzeugen eine Leuchtkraft, die sich mit dem Leuchten der Texte verbindet. Endlich auch die Windmühlen von La Mancha, auf deren Weiß sich das Schattengitter eines Flügels legt. Hier wird noch einmal die potentielle Schwerelosigkeit des Reisens sichtbar, jene Welt, in der der Reisende zum Kind wird und nur noch auf Dinge zeigen kann. Wer selber nicht reisen will, schreibt Nooteboom in einem Interview mit sich selbst, "der sollte lieber zu Hause bleiben, es sich im Sessel bequem machen und diese wunderbaren Reisebücher lesen, die einsame Reisende in der Stille fremder Hotelzimmer für ihn geschrieben haben".
ELMAR SCHENKEL
Cees Nooteboom: "Auf Reisen 3: Afrika, Asien, Amerika, Australien". Gesammelte Werke, Band 6. Aus dem Niederländischen übersetzt von Helga von Beuningen und Andreas Ecke. Herausgegeben von Susanne Schaber. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 935 S., geb., 42,90 [Euro].
Cees Nooteboom: "Der Laut seines Namens". Reisen durch die islamische Welt. Aus dem Niederländischen übersetzt von Helga von Beuningen und Rosemarie Still. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 229 S., geb., 10,- [Euro].
Cees Nooteboom: "Die Kunst des Reisens". Fotografien von Eddy Posthuma de Boer. Zusammengestellt von Susanne Schaber und Lothar Schirmer. Aus dem Niederländischen und Englischen übersetzt von Helga von Beuningen, Andreas Ecke, Brigitte Heinrich und Matthias Wolf. Verlag Schirmer/Mosel, München 2004. 152 S., 76 Farbtafeln, geb., 29,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit Cees Nooteboom reisen, auch wenn man nur durch die Seiten seiner Bücher auf die Welt blickt, macht klug. Es macht klug, beteuert uns Elmar Schenkel, weil Nooteboom nicht nur das Fremde sieht, sondern zunehmend auch sich selbst darin, und damit auch, wie wenig er wirklich erkennen kann, von beidem. Diese Entwicklung lässt sich in den gesammelten außereuropäischen Reisetexten studieren: "Verbleiben die frühen Reisen noch in der Beschreibung von sinnlichen Überwältigungen, so tritt später zunehmend ein Blinder ins Bild, der sich selber sieht und das Reisen fortwährend befragt." Doch der Blinde ist auch hier der Weise, der immer offen bleibt, gegenüber den "Wundern" ebenso wie den "Enttäuschungen", die ihm begegnen. Davon profitiert der Leser, denn "was lässt sich nicht alles nebenbei von ihm lernen"! Nooteboom, schwärmt Schenkel, ist nostalgisch, aber nie unreflektiert, er notiert die Verluste der Moderne, ohne jedoch dabei zum "Prophet des Gestern" zu werden, und er verfügt über einen Humor, der keine Verklärung erlaubt. Was noch? Ach ja, die Übersetzungen sind sowieso super.
© Perlentaucher Medien GmbH
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