Zweiter Band der Hilla Palm Reihe
Ihr Leben scheint vorgezeichnet: Kinder, Küche, Kirche. Doch Hilla träumt sich weg aus dem Dorf am Rhein. Nichts kann dem Kind kleiner Leute die Sehnsucht nach der Freiheit des Geistes austreiben. Unverhofft bietet sich ihr ein neues Leben: Abitur, Studium, ihre selbst gewählte Zukunft liegt vor ihr. Nach "Das verborgene Wort" hat die Lyrikerin und Bestsellerautorin Ulla Hahn erneut ein imposantes Epos vorgelegt, das feinnervig vom Erwachsenwerden, Wachwerden, Menschwerden erzählt.
Hilla lacht das freieste Lachen der Welt. Es ist der erste Tag nach den Weihnachtsferien im Januar 1963; das Lehrerkollegium des Aufbaugymnasiums hat beschlossen, die Siebzehnjährige noch ins laufende Schuljahr aufzunehmen. Mit diesem Tag beginnt für das wissbegierige Kind "vun nem Prolete" endlich das lang ersehnte neue Leben, in dem die einfachen Wahrheiten der Eltern nicht mehr gelten, in dem das Buckeln in der Papierfabrik von der Freiheit der Worte abgelöst wird. Doch wird Hilla ihre wahre Heimat wirklich in der Sprache finden?
"Aufbruch" gewährt einen anrührenden Blick in die Seele einer mutigen und doch so verletzlichen Heranwachsenden - und zeichnet sprachübermütig und mit großem epischem Temperament ein detailreiches Sittengemälde von den bundesrepublikanischen Mittsechzigern.
Ihr Leben scheint vorgezeichnet: Kinder, Küche, Kirche. Doch Hilla träumt sich weg aus dem Dorf am Rhein. Nichts kann dem Kind kleiner Leute die Sehnsucht nach der Freiheit des Geistes austreiben. Unverhofft bietet sich ihr ein neues Leben: Abitur, Studium, ihre selbst gewählte Zukunft liegt vor ihr. Nach "Das verborgene Wort" hat die Lyrikerin und Bestsellerautorin Ulla Hahn erneut ein imposantes Epos vorgelegt, das feinnervig vom Erwachsenwerden, Wachwerden, Menschwerden erzählt.
Hilla lacht das freieste Lachen der Welt. Es ist der erste Tag nach den Weihnachtsferien im Januar 1963; das Lehrerkollegium des Aufbaugymnasiums hat beschlossen, die Siebzehnjährige noch ins laufende Schuljahr aufzunehmen. Mit diesem Tag beginnt für das wissbegierige Kind "vun nem Prolete" endlich das lang ersehnte neue Leben, in dem die einfachen Wahrheiten der Eltern nicht mehr gelten, in dem das Buckeln in der Papierfabrik von der Freiheit der Worte abgelöst wird. Doch wird Hilla ihre wahre Heimat wirklich in der Sprache finden?
"Aufbruch" gewährt einen anrührenden Blick in die Seele einer mutigen und doch so verletzlichen Heranwachsenden - und zeichnet sprachübermütig und mit großem epischem Temperament ein detailreiches Sittengemälde von den bundesrepublikanischen Mittsechzigern.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.2009Brave Lateiner kommen überallhin
Literatur als Medium der Selbstbefreiung: Ulla Hahn setzt mit ihrem Panorama "Aufbruch" die Geschichte von Hildegard Palm fort.
Von Pia Reinacher
Und wieder blättert Ulla Hahn im Familienroman und begleitet Hildegard Palm, Heldin ihres ersten autobiographischen Romans "Das verborgene Wort" (2001), auf den archäologischen Grabungen in die Kindheit. Mit diesem ersten Buch über das Aufwachsen eines Mädchens in einem katholisch geprägten Dorf im Rheinland konnte die heute in Hamburg lebende Lyrikerin einen imposanten Publikumserfolg verbuchen.
"Aufbruch" ist nun die Geschichte der widerborstigen Emanzipation einer Frau aus den finsteren, kulturfeindlichen, repressiven Verhältnissen der jungen deutschen Bundesrepublik. Hildegard Palm nämlich verschafft sich gegen alle Widerstände den Zugang zum Gymnasium, weicht vom vorgespurten Leben ab, befreit sich aus der demütigenden Verbindung mit dem Freund aus wohlhabender Familie, zieht nach Köln zum Studium und bestimmt von diesem Moment an ihr Schicksal selbst.
Ulla Hahns Alter Ego Hilla, Tochter eines Hilfsarbeiters in einem katholischen Dorf in der Nähe von Köln, verweigert sich den einschnürenden Verhältnissen und "denkt" sich regelrecht aus ihnen "hinaus". Mit unglaublicher Stärke, zähem Ungehorsam, eigenwilliger Hellsichtigkeit und wilder Autonomie katapultiert sie sich aus der seit Generationen vorbestimmten Biographie einer Frau aus proletarischen Verhältnissen. Hilla Palm lernt die lateinische Sprache - mit der Unterstützung des Bruders. Latein wird mehr als alles andere, was sie sich mit eiserner Disziplin aneignet, zum Symbol für das unbekannte gesellschaftliche Alphabet, das sie von jetzt an durchbuchstabiert.
Die alte Sprache wird im Familienkreis schon bald zur Bedrohung. Eltern und die Großmutter verständigen sich nur im rheinländischen Dialekt. Die Geschwister aber parlieren auf Hochdeutsch und Lateinisch - abweichende Tonspuren, die den Ausbruch ankündigen. Goethe und Schiller, Lessing, Kleist und Mörike öffnen dem bildungshungrigen Mädchen die Türe zu einem überraschenden Universum. Der Buchhändler, in dessen Bücherstube es sich regelmäßig verkriecht, verwandelt sich zur symbolischen Führungsgestalt bei diesen "rites de passage". Mit jedem Reclambändchen, welches sie in die Hände bekommt, findet sie eine eigene Sprache und entdeckt Vorbilder zu einem anderen Leben.
"Aufbruch" ist eine Mischung aus Entwicklungsroman, Selbstbefragungsepos, Sozial- und Zeitgeschichte - wobei der leichte Hang zum Schmöker nicht unterschlagen werden soll. Vieles ist etwas geschönt, anderes stilisiert, eine ab und zu allzu wuchernde Erzählfreude trägt die Autorin in einigen Passagen beinahe unkontrolliert voran. Und doch wird eine verblichene Epoche Bild um Bild auf die Erinnerungsleinwand des Lesers geholt. Die genaue Milieuschilderung aber verdankt sich der handwerklichen Qualitäten der Schriftstellerin. Ulla Hahn hat ohne Zweifel ausgiebig recherchiert, eine Menge von ethnologischem, soziologischem und historischem Material zusammengetragen und in bildstarke Szenen übersetzt. Exemplarisch zeigt sich das in der Beschreibung von Mode und Kleidern.
Nicht verschwiegen sei, dass dieser sechshundertseitige Roman ein paar Kürzungen vertragen hätte. Die Konturen mancher Szenen wären dabei schärfer geworden, einiges geht im dahinplätschernden Romanfluss unter. Ein paar Szenen dieses Bildungs- und Schicksalsromans graben sich im Gedächtnis des Lesers allerdings nachhaltig ein. Dazu gehört die Vergewaltigung auf einer Waldlichtung. Hilla, die den letzten Bus verpasst, lässt sich von einem Autofahrer mitnehmen und wacht am anderen Morgen auf einer einsamen Waldlichtung auf, ohnmächtig, knapp dem Tod entronnen. Dass sie Jahre gebraucht habe, um die Erinnerung an das fatale Ereignis zuzulassen, verrät Ulla Hahn in einem Interview, aber auch, dass sie genau diese Passage immer und immer wieder umgeschrieben habe.
Imponierend löst sie aber auch das schwierige Thema der Aufarbeitung der Auschwitz-Prozesse und die Wiedervergegenwärtigung der Entnazifizierung: Deutschlehrer Rebmann verlangt von den Schülern, dass sie die Eltern nach ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg befragen und die Materialiensammlung für eine Jahresarbeit zum Thema Nationalsozialismus zusammentragen - eine Provokation, die ihm den Vorwurf des Brunnenvergifters und Nestbeschmutzers einträgt.
Ulla Hahn zeichnet mit diesen Szenen subtil und energisch die schmerzhaften Versuche der Elterngeneration, sich einem Gespräch über die Vergangenheit zu verweigern, und die hartnäckigen Forderungen der Kinder nach Erinnerung - auch das symptomatisch für die sechziger Jahre - und verschweigt dabei nicht, wie sich Eltern und Kinder dabei gegenseitig hilflos ausgeliefert waren.
Schließlich bleibt, als eindrückliche Leseerinnerung, das karge Porträt des Vaters haften, der sich der Tochter eine Kindheit lang nur dumpf und verschlossen zeigt, aber auf dem Höhepunkt des krisenhaften Ablösungsprozesses über sich selbst hinauswächst. Ausgerechnet er, der die Emanzipationsversuche des Kindes trotzig quittierte, räumt ihm jetzt den Weg an die Kölner Universität und damit in die neue Welt frei - damit sich sein eigenes Schicksal nicht wiederhole. An solchen Stellen offenbart sich das Verdienst dieses Schicksals- und Selbsterforschungsromans. "Aufbruch" ist Geschichtsschreibung von unten, eine Sozial- und Milieustudie aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, welche die Krisen und Chancen dieser Ära eindringlich vor Augen führt.
Ulla Hahn: "Aufbruch". Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009. 586 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Literatur als Medium der Selbstbefreiung: Ulla Hahn setzt mit ihrem Panorama "Aufbruch" die Geschichte von Hildegard Palm fort.
Von Pia Reinacher
Und wieder blättert Ulla Hahn im Familienroman und begleitet Hildegard Palm, Heldin ihres ersten autobiographischen Romans "Das verborgene Wort" (2001), auf den archäologischen Grabungen in die Kindheit. Mit diesem ersten Buch über das Aufwachsen eines Mädchens in einem katholisch geprägten Dorf im Rheinland konnte die heute in Hamburg lebende Lyrikerin einen imposanten Publikumserfolg verbuchen.
"Aufbruch" ist nun die Geschichte der widerborstigen Emanzipation einer Frau aus den finsteren, kulturfeindlichen, repressiven Verhältnissen der jungen deutschen Bundesrepublik. Hildegard Palm nämlich verschafft sich gegen alle Widerstände den Zugang zum Gymnasium, weicht vom vorgespurten Leben ab, befreit sich aus der demütigenden Verbindung mit dem Freund aus wohlhabender Familie, zieht nach Köln zum Studium und bestimmt von diesem Moment an ihr Schicksal selbst.
Ulla Hahns Alter Ego Hilla, Tochter eines Hilfsarbeiters in einem katholischen Dorf in der Nähe von Köln, verweigert sich den einschnürenden Verhältnissen und "denkt" sich regelrecht aus ihnen "hinaus". Mit unglaublicher Stärke, zähem Ungehorsam, eigenwilliger Hellsichtigkeit und wilder Autonomie katapultiert sie sich aus der seit Generationen vorbestimmten Biographie einer Frau aus proletarischen Verhältnissen. Hilla Palm lernt die lateinische Sprache - mit der Unterstützung des Bruders. Latein wird mehr als alles andere, was sie sich mit eiserner Disziplin aneignet, zum Symbol für das unbekannte gesellschaftliche Alphabet, das sie von jetzt an durchbuchstabiert.
Die alte Sprache wird im Familienkreis schon bald zur Bedrohung. Eltern und die Großmutter verständigen sich nur im rheinländischen Dialekt. Die Geschwister aber parlieren auf Hochdeutsch und Lateinisch - abweichende Tonspuren, die den Ausbruch ankündigen. Goethe und Schiller, Lessing, Kleist und Mörike öffnen dem bildungshungrigen Mädchen die Türe zu einem überraschenden Universum. Der Buchhändler, in dessen Bücherstube es sich regelmäßig verkriecht, verwandelt sich zur symbolischen Führungsgestalt bei diesen "rites de passage". Mit jedem Reclambändchen, welches sie in die Hände bekommt, findet sie eine eigene Sprache und entdeckt Vorbilder zu einem anderen Leben.
"Aufbruch" ist eine Mischung aus Entwicklungsroman, Selbstbefragungsepos, Sozial- und Zeitgeschichte - wobei der leichte Hang zum Schmöker nicht unterschlagen werden soll. Vieles ist etwas geschönt, anderes stilisiert, eine ab und zu allzu wuchernde Erzählfreude trägt die Autorin in einigen Passagen beinahe unkontrolliert voran. Und doch wird eine verblichene Epoche Bild um Bild auf die Erinnerungsleinwand des Lesers geholt. Die genaue Milieuschilderung aber verdankt sich der handwerklichen Qualitäten der Schriftstellerin. Ulla Hahn hat ohne Zweifel ausgiebig recherchiert, eine Menge von ethnologischem, soziologischem und historischem Material zusammengetragen und in bildstarke Szenen übersetzt. Exemplarisch zeigt sich das in der Beschreibung von Mode und Kleidern.
Nicht verschwiegen sei, dass dieser sechshundertseitige Roman ein paar Kürzungen vertragen hätte. Die Konturen mancher Szenen wären dabei schärfer geworden, einiges geht im dahinplätschernden Romanfluss unter. Ein paar Szenen dieses Bildungs- und Schicksalsromans graben sich im Gedächtnis des Lesers allerdings nachhaltig ein. Dazu gehört die Vergewaltigung auf einer Waldlichtung. Hilla, die den letzten Bus verpasst, lässt sich von einem Autofahrer mitnehmen und wacht am anderen Morgen auf einer einsamen Waldlichtung auf, ohnmächtig, knapp dem Tod entronnen. Dass sie Jahre gebraucht habe, um die Erinnerung an das fatale Ereignis zuzulassen, verrät Ulla Hahn in einem Interview, aber auch, dass sie genau diese Passage immer und immer wieder umgeschrieben habe.
Imponierend löst sie aber auch das schwierige Thema der Aufarbeitung der Auschwitz-Prozesse und die Wiedervergegenwärtigung der Entnazifizierung: Deutschlehrer Rebmann verlangt von den Schülern, dass sie die Eltern nach ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg befragen und die Materialiensammlung für eine Jahresarbeit zum Thema Nationalsozialismus zusammentragen - eine Provokation, die ihm den Vorwurf des Brunnenvergifters und Nestbeschmutzers einträgt.
Ulla Hahn zeichnet mit diesen Szenen subtil und energisch die schmerzhaften Versuche der Elterngeneration, sich einem Gespräch über die Vergangenheit zu verweigern, und die hartnäckigen Forderungen der Kinder nach Erinnerung - auch das symptomatisch für die sechziger Jahre - und verschweigt dabei nicht, wie sich Eltern und Kinder dabei gegenseitig hilflos ausgeliefert waren.
Schließlich bleibt, als eindrückliche Leseerinnerung, das karge Porträt des Vaters haften, der sich der Tochter eine Kindheit lang nur dumpf und verschlossen zeigt, aber auf dem Höhepunkt des krisenhaften Ablösungsprozesses über sich selbst hinauswächst. Ausgerechnet er, der die Emanzipationsversuche des Kindes trotzig quittierte, räumt ihm jetzt den Weg an die Kölner Universität und damit in die neue Welt frei - damit sich sein eigenes Schicksal nicht wiederhole. An solchen Stellen offenbart sich das Verdienst dieses Schicksals- und Selbsterforschungsromans. "Aufbruch" ist Geschichtsschreibung von unten, eine Sozial- und Milieustudie aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, welche die Krisen und Chancen dieser Ära eindringlich vor Augen führt.
Ulla Hahn: "Aufbruch". Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009. 586 S., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.12.2009So betörend war der Schulfunk
Mit „Aufbruch” hat Ulla Hahn ihr autobiographisches Romanprojekt fortgesetzt Von Stephan Speicher
Acht Jahre sind es her, dass Ulla Hahn mit dem ersten Band ihres autobiographisch grundierten Romanwerks hervortrat. „Das verborgene Wort” war ein gewaltiger Erfolg beim Publikum (die Reaktion der Kritik war gespalten), mehr als 400000 Exemplare wurden verkauft. Nun ist die Fortsetzung erschienen. Die Heldin (und sie ist eine Heldin) Hilla Palm erlebt ihren „Aufbruch”, auch wenn dieser sich in den bekannten Bahnen vollzieht. Das Mädchen, das mit der Mittleren Reife die Schule beenden musste, um „aufs Büro” geschickt zu werden, ist mit der Hilfe des Pfarrers und zweier Lehrer befreit worden, sie darf die Lehre abbrechen und auf dem Aufbaugymnasium Abitur machen. Ganz so glücklich wie erhofft gelingt die Reifeprüfung nicht, das ersehnte Stipendium bleibt ihr versagt. Aber sie beginnt das Studium in Köln, das „katholische Arbeitermädchen vom Lande”, von dem in den sechziger Jahren so viel die Rede war, hat sich von den Fesseln ihrer Herkunft befreit.
Es ist die ruhige, stabile Welt eines niederrheinischen Dorfes, aus dem sie sich Anfang/Mitte der sechziger Jahre herauskämpft, eine idyllische ist es nicht. Jedes Jahr, immer am 2. Weihnachtstag, muss die Schülerin sich beim Bürgermeister zu Hause mit einem Alpenveilchen für das „Schulgeld” bedanken. Wie haushälterisch die Gemeinde mit den Steuergeldern umging! Wie demütigend das für arme Leute war! Bedrückend geht es auch zu Hause bei Familie Palm zu. Beschränkt sind die Verhältnisse in allen Stücken, beschränkt sind Wohnraum, finanzielle Umstände, geistige Ansprüche. Allerdings wären auch in solchen Verhältnissen gute Laune, Witz, seelische Großzügigkeit möglich. Aber gerade daran fehlt es. Die Mutter ist ängstlich („Dat dicke Äng kütt noch”, „das dicke Ende kommt noch” ist ihre Lieblingswendung), ihre strenge Frömmigkeit ganz ohne Freude: „Karfreitag war sie in ihrem Element … mag sein, die Auferstehung hielt sie für eine Sondervergünstigung, für ein Privileg, so wie Brauereibesitzer Küppers nach Amerika konnte Gottes Sohn in den Himmel fliegen. Nix für kleine Lück.” Der Vater zeigt sich hart, erst spät öffnet er sich der Tochter und hilft ihr, in die Welt hinauszutreten. Selbst als Kind grausam misshandelt, um jede Chance der Entwicklung gebracht, holt er mit den Bildungssendungen im Fernsehen ein wenig von dem nach, was ihm vorenthalten wurde. Dabei hat die Familie sogar einen Juden im „Dritten Reich” versteckt. Aber selbst dieser große Beweis von Mut und Mitgefühl befreit die Menschen nicht aus ihrem Geducktsein.
Das Problem des Buches ist, dass davon auch etwas auf die Ich-Erzählerin abfärbt. Sie will aus der Enge aufsteigen, aber dafür bekommt sie etwas Musterhaftes, und musterhaft ist, was sie erlebt. Diese Hilla Palm ist von einer kaum fasslichen Belesenheit. Selbst auf Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus” weiß sie anzuspielen, Mitte der sechziger Jahre, „e Kenk vun nem Prolete”! Nicht dass der doch sehr naturalistisch erzählte Roman an solchen Stellen unglaubwürdig wirkt, ist der Einwand, sondern dass die bedrückende Welt des Elternhauses und der dörflichen Gemeinschaft zu einfach mit einer Idealwelt des Geistes konfrontiert wird: dort alles bon! So geht es z.B. in der Schule, die sich als ganz vorzüglich erweist, mit Lehrern, die von der Sache erfüllt sind und voller Wohlwollen für ihre Adepten. Man übt sich im Latein-Sprechen und debattiert offen die Fragen der Zeit. Als der Auschwitz-Prozess das Land aufwühlt, werden die Schüler aufgefordert, in ihrer Umgebung nach Erinnerungen an den Nationalsozialismus zu forschen, Geschichte von unten zu betreiben, wie man sie aus den Siebzigern erst zu kennen meint. Hilla Palm trifft einen Zeugen der Bücherverbrennung 1933, der sich glücklicherweise nicht nur an den Hergang im Ganzen, die Stimmung und seine Empfindung erinnern kann, sondern noch an die einzelnen „Feuersprüche” im Wortlaut.
Alles kommt in „Aufbruch” vor, Persil 65, die ersten Selbstbedienungsmärkte und das Zweite Vaticanum, die Beatles (Hilla findet sie primitiv), Klosterfrau Melissengeist, die neuen Hosenanzüge für Frauen und eben der Nationalsozialismus. Auch die Gastarbeiter haben ihren Auftritt. In der Fabrik, in der Hilla in den Ferien arbeitet, kommt es zu einem kleinen Aufstand, bei dem die deutschen Frauen ihre Abneigung gegen die Griechinnen überwinden und man sich über die Grenzen der Nation hinaus solidarisiert. Das alles ist so recht, geziemend und nützlich eingebaut, dass der Leser, sofern er die hier dargestellte Zeit mitbekommen hat, sich an den Schulfunk erinnert fühlt, an „Neues aus Waldhagen” zum Beispiel, wo kleine Geschichten rund um Bauern Piepenbrink und Opa Negenborn anschaulich aus Sozialkunde und Zeitgeschichte erzählten.
So gut poliert ist auch die Hauptfigur. Sie will lernen, nichts erleben. „Ich wollte keine Liebe … vermisste nichts. Ich hatte den Unterricht, die Schule. Und meine Freunde in den Regalen, mit denen ich mich jederzeit aus dem Alltag herausschleichen konnte … Später, das Abitur in der Tasche, würde ich mich ohne Eile entscheiden, wie ich es leben wollte, das Leben.” Merkwürdig ist das schon. Die meisten lesen als Schüler doch so gebannt, weil sie Antworten auf Lebenssituationen suchen. Das gibt der Lektüre dieser Jahre ihre dramatische Bedeutung. Bei Hilla Palm ist es anders. Liegt es an ihrer sozialen Situation, die ihr jede Ablenkung verbietet, sie ganz auf das verweist, was nach draußen führt? Aber es verödet ihre Figur etwas, diese Wahre-Liebe-kann-warten-Trockenheit. Bis sie auf dem Heimweg von einem Fest der katholischen Landjugend auf einer Lichtung vergewaltigt wird. Es ist ein Trauma, über das sie mit niemandem sprechen kann. Immer wieder sucht sie die Erinnerung heim, doch sie versucht, sie abzuwehren, sie einzukapseln. Nur von der „Kapsel” oder der „Lichtung” spricht das Opfer zu sich selbst. „Alles Leichte, Freie, Frohe dahin. Statt Lernlust und Wissensdurst Pauken und Einprägen … ich wollte Wissen, das mich nicht betraf, mich nicht traf.”
Die „Verkapselung” ist Folge der Vergewaltigung, aber etwas Verkapseltes hat Hilla Palm auch vor dieser Gewalttat schon gehabt. Und diese Verkapselung prägt das ganze Werk. Es ist jetzt schon ein Erfolg beim Publikum und dieser Erfolg wird noch eine Weile anhalten, gewiss nicht ohne Grund. „Aufbruch” gehört zu den Büchern, deren Stärke die saugende Atmosphäre ist. Man klappt auf und ist unmittelbar im Geschehen, eingekapselt.
Die Hauptfigur erlebt und erleidet ein außerordentliches Schicksal. Aber die Schilderung von Zeit und Gesellschaft bleibt über lange Strecken pittoresk wie der rheinische Dialekt, Mittel des Zeit- und Lokalkolorits wie Quelle-Katalog und Bärenmarke („Nicht geht über ...”). Das schafft Behagen und Unbehagen.
Ulla Hahn
Aufbruch
Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009. 592 Seiten, 24,95 Euro.
„Lass nicht zu, dass andere Deine Geschichte schreiben. Folge Deiner Phantasie. Aber folge ihr mit Vernunft.”: Ulla Hahn Foto: Matthias Jung / laif
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Mit „Aufbruch” hat Ulla Hahn ihr autobiographisches Romanprojekt fortgesetzt Von Stephan Speicher
Acht Jahre sind es her, dass Ulla Hahn mit dem ersten Band ihres autobiographisch grundierten Romanwerks hervortrat. „Das verborgene Wort” war ein gewaltiger Erfolg beim Publikum (die Reaktion der Kritik war gespalten), mehr als 400000 Exemplare wurden verkauft. Nun ist die Fortsetzung erschienen. Die Heldin (und sie ist eine Heldin) Hilla Palm erlebt ihren „Aufbruch”, auch wenn dieser sich in den bekannten Bahnen vollzieht. Das Mädchen, das mit der Mittleren Reife die Schule beenden musste, um „aufs Büro” geschickt zu werden, ist mit der Hilfe des Pfarrers und zweier Lehrer befreit worden, sie darf die Lehre abbrechen und auf dem Aufbaugymnasium Abitur machen. Ganz so glücklich wie erhofft gelingt die Reifeprüfung nicht, das ersehnte Stipendium bleibt ihr versagt. Aber sie beginnt das Studium in Köln, das „katholische Arbeitermädchen vom Lande”, von dem in den sechziger Jahren so viel die Rede war, hat sich von den Fesseln ihrer Herkunft befreit.
Es ist die ruhige, stabile Welt eines niederrheinischen Dorfes, aus dem sie sich Anfang/Mitte der sechziger Jahre herauskämpft, eine idyllische ist es nicht. Jedes Jahr, immer am 2. Weihnachtstag, muss die Schülerin sich beim Bürgermeister zu Hause mit einem Alpenveilchen für das „Schulgeld” bedanken. Wie haushälterisch die Gemeinde mit den Steuergeldern umging! Wie demütigend das für arme Leute war! Bedrückend geht es auch zu Hause bei Familie Palm zu. Beschränkt sind die Verhältnisse in allen Stücken, beschränkt sind Wohnraum, finanzielle Umstände, geistige Ansprüche. Allerdings wären auch in solchen Verhältnissen gute Laune, Witz, seelische Großzügigkeit möglich. Aber gerade daran fehlt es. Die Mutter ist ängstlich („Dat dicke Äng kütt noch”, „das dicke Ende kommt noch” ist ihre Lieblingswendung), ihre strenge Frömmigkeit ganz ohne Freude: „Karfreitag war sie in ihrem Element … mag sein, die Auferstehung hielt sie für eine Sondervergünstigung, für ein Privileg, so wie Brauereibesitzer Küppers nach Amerika konnte Gottes Sohn in den Himmel fliegen. Nix für kleine Lück.” Der Vater zeigt sich hart, erst spät öffnet er sich der Tochter und hilft ihr, in die Welt hinauszutreten. Selbst als Kind grausam misshandelt, um jede Chance der Entwicklung gebracht, holt er mit den Bildungssendungen im Fernsehen ein wenig von dem nach, was ihm vorenthalten wurde. Dabei hat die Familie sogar einen Juden im „Dritten Reich” versteckt. Aber selbst dieser große Beweis von Mut und Mitgefühl befreit die Menschen nicht aus ihrem Geducktsein.
Das Problem des Buches ist, dass davon auch etwas auf die Ich-Erzählerin abfärbt. Sie will aus der Enge aufsteigen, aber dafür bekommt sie etwas Musterhaftes, und musterhaft ist, was sie erlebt. Diese Hilla Palm ist von einer kaum fasslichen Belesenheit. Selbst auf Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus” weiß sie anzuspielen, Mitte der sechziger Jahre, „e Kenk vun nem Prolete”! Nicht dass der doch sehr naturalistisch erzählte Roman an solchen Stellen unglaubwürdig wirkt, ist der Einwand, sondern dass die bedrückende Welt des Elternhauses und der dörflichen Gemeinschaft zu einfach mit einer Idealwelt des Geistes konfrontiert wird: dort alles bon! So geht es z.B. in der Schule, die sich als ganz vorzüglich erweist, mit Lehrern, die von der Sache erfüllt sind und voller Wohlwollen für ihre Adepten. Man übt sich im Latein-Sprechen und debattiert offen die Fragen der Zeit. Als der Auschwitz-Prozess das Land aufwühlt, werden die Schüler aufgefordert, in ihrer Umgebung nach Erinnerungen an den Nationalsozialismus zu forschen, Geschichte von unten zu betreiben, wie man sie aus den Siebzigern erst zu kennen meint. Hilla Palm trifft einen Zeugen der Bücherverbrennung 1933, der sich glücklicherweise nicht nur an den Hergang im Ganzen, die Stimmung und seine Empfindung erinnern kann, sondern noch an die einzelnen „Feuersprüche” im Wortlaut.
Alles kommt in „Aufbruch” vor, Persil 65, die ersten Selbstbedienungsmärkte und das Zweite Vaticanum, die Beatles (Hilla findet sie primitiv), Klosterfrau Melissengeist, die neuen Hosenanzüge für Frauen und eben der Nationalsozialismus. Auch die Gastarbeiter haben ihren Auftritt. In der Fabrik, in der Hilla in den Ferien arbeitet, kommt es zu einem kleinen Aufstand, bei dem die deutschen Frauen ihre Abneigung gegen die Griechinnen überwinden und man sich über die Grenzen der Nation hinaus solidarisiert. Das alles ist so recht, geziemend und nützlich eingebaut, dass der Leser, sofern er die hier dargestellte Zeit mitbekommen hat, sich an den Schulfunk erinnert fühlt, an „Neues aus Waldhagen” zum Beispiel, wo kleine Geschichten rund um Bauern Piepenbrink und Opa Negenborn anschaulich aus Sozialkunde und Zeitgeschichte erzählten.
So gut poliert ist auch die Hauptfigur. Sie will lernen, nichts erleben. „Ich wollte keine Liebe … vermisste nichts. Ich hatte den Unterricht, die Schule. Und meine Freunde in den Regalen, mit denen ich mich jederzeit aus dem Alltag herausschleichen konnte … Später, das Abitur in der Tasche, würde ich mich ohne Eile entscheiden, wie ich es leben wollte, das Leben.” Merkwürdig ist das schon. Die meisten lesen als Schüler doch so gebannt, weil sie Antworten auf Lebenssituationen suchen. Das gibt der Lektüre dieser Jahre ihre dramatische Bedeutung. Bei Hilla Palm ist es anders. Liegt es an ihrer sozialen Situation, die ihr jede Ablenkung verbietet, sie ganz auf das verweist, was nach draußen führt? Aber es verödet ihre Figur etwas, diese Wahre-Liebe-kann-warten-Trockenheit. Bis sie auf dem Heimweg von einem Fest der katholischen Landjugend auf einer Lichtung vergewaltigt wird. Es ist ein Trauma, über das sie mit niemandem sprechen kann. Immer wieder sucht sie die Erinnerung heim, doch sie versucht, sie abzuwehren, sie einzukapseln. Nur von der „Kapsel” oder der „Lichtung” spricht das Opfer zu sich selbst. „Alles Leichte, Freie, Frohe dahin. Statt Lernlust und Wissensdurst Pauken und Einprägen … ich wollte Wissen, das mich nicht betraf, mich nicht traf.”
Die „Verkapselung” ist Folge der Vergewaltigung, aber etwas Verkapseltes hat Hilla Palm auch vor dieser Gewalttat schon gehabt. Und diese Verkapselung prägt das ganze Werk. Es ist jetzt schon ein Erfolg beim Publikum und dieser Erfolg wird noch eine Weile anhalten, gewiss nicht ohne Grund. „Aufbruch” gehört zu den Büchern, deren Stärke die saugende Atmosphäre ist. Man klappt auf und ist unmittelbar im Geschehen, eingekapselt.
Die Hauptfigur erlebt und erleidet ein außerordentliches Schicksal. Aber die Schilderung von Zeit und Gesellschaft bleibt über lange Strecken pittoresk wie der rheinische Dialekt, Mittel des Zeit- und Lokalkolorits wie Quelle-Katalog und Bärenmarke („Nicht geht über ...”). Das schafft Behagen und Unbehagen.
Ulla Hahn
Aufbruch
Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009. 592 Seiten, 24,95 Euro.
„Lass nicht zu, dass andere Deine Geschichte schreiben. Folge Deiner Phantasie. Aber folge ihr mit Vernunft.”: Ulla Hahn Foto: Matthias Jung / laif
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Zwischen "Behagen und Unbehagen" changiert Rezensent Stephan Speicher in seinem Urteil über den Roman einer Dorfjugend von Ulla Hahn. Denn einerseits anerkennt er die Darstellung der dörflichen Beschränktheit, die sich ziemlich eindrücklich auf den Leser überträgt. Andererseits sind ihm die eingestreuten Zeitanalysen der sechziger Jahre zu erbaulich und lassen ihn an den eigenen, etwas beschränkten Schulfunk zurückdenken. Die unvermittelte Konzentration der Protagonistin auf ihre Schullektüre lässt die Hauptfigur auch etwas veröden, stört sich Speicher. Den bisherigen Erfolg des Buches kann er allerdings verstehen: Aufgrund der "saugenden Atmosphäre" des Buches, die einem mit Beginn der Lektüre gleichsam in die Geschichte zieht, prophezeit er dem Roman eine anhaltend große Leserschaft.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Die Autorin überliefert herrliche Formulierungen (...) wunderbar, dass Ulla Hahn bereits an der Fortsetzung schreibt.« Deutschlandradio