Im Mittelpunkt des Sonderbands steht die Rolle der Avantgarden beim Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Es geht dabei vor allem um einen differenzierten Überblick über unterschiedliche Avantgarde-Bewegungen im deutschsprachigen Raum. Der Sonderband will aber nicht nur den historischen Horizont des Avantgarde-Themas aufhellen, sondern auch avantgardistische Texte "wieder lesen": aus aktueller Perspektive. "Leser" sind Stefan Banz, Norbert Blüm, Barbara Köhler, Thomas Kling, Peter Rühmkorf, Yoko Tawada und andere. Der Band umfasst außerdem Beiträge von Evelyn Deutsch-Schreiner, Walter Fähnders, Stephan Füssel, Boris Groys, Annette Hülsenbeck und Ortrun Niethammer, Katharina Keim, Hermann Korte, Uwe Lindemann, Gerhard Plumpe, Winfried Mogge, Hans Dieter Schäfer, Norbert Schmitz, Ute Schneider, Peter Sprengel, Klaus Stadtmüller und Ingo Stöckmann.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.08.2002Vorwärts! Avanti! Uns nach!
Ein Sonderband von "Text + Kritik" über Avantgarden
"Öffentliches Ärgernis zu erregen", so Walter Benjamin, sei das vorrangige Ziel futuristischer Kunst. Das "Manifest der futuristischen Maler" von 1910 erklärt denn auch "allen Künstlern und allen Institutionen den Krieg", die "an der Tradition, dem Akademismus und vor allem an einer widerwärtigen geistigen Trägheit festkleben". Auch andere Stoßtrupps der europäischen Avantgarde knüpfen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts an die ursprüngliche militärische Wortbedeutung an und setzen sich als "Vorhut" an die Spitze von Kunstbewegungen. Ihre geistige Kriegsführung wird von aggressiver Propaganda und karnevalesken Aktionen flankiert. Gekämpft wird mit allen verfügbaren Waffen der Ästhetik - mit Schreibstift und Pinsel ebenso wie mit der Filmkamera, dem sprechenden Körper oder der reproduzierbaren Stimme.
Avantgarden verweigern sich prinzipiell der Beschränkung und Festlegung. Hans Ludwig Arnolds vorliegende Auswahl macht aus dieser Not eine Tugend. Natürlich steht die Literatur im Zentrum, also die Poetik der Infragestellung und des assoziativen, unabgeschlossenen, experimentellen und materialen Umgangs mit Sprache. Doch die dafür verantwortlichen Programme erschließen sich am ehesten aus den sozialen und politischen Aufbruchs- und Protestbewegungen der Zeit. Denn die Avantgarde verfügt neben der militärischen über eine frühsozialistische Wortgeschichte, die der Übertragung auf die Kunst durch die Saint-Simonisten vorangeht. An politische Losungen wie "Vorwärts! Avanti! Uns nach!" knüpfen die Kunstinstitutionen an: Die Berliner "Sturm-Bühne" oder die Hamburger "Kampf-Bühne", Zeitschriften wie "Die Rote Erde", "Die Revolution" oder "Die Aktion", Schriftenreihen wie "Der jüngste Tag" oder "Die Silbergäule". Damit befassen sich einzelne Beiträge, die dem Theater, den Journalen oder Verlagen der Avantgarde gewidmet sind. Literarische Texte lassen sich aber auch auf Jugendbewegungen der Zeit zurückführen oder als Sturmlauf gegen Rechtsbestimmungen lesen, die etwa vor Gotteslästerung, Verunglimpfung oder Verbreitung unzüchtiger Darstellungen schützen sollen.
Diesen historischen Erkundungen von Literatur-, Medien- und Buchwissenschaftlern folgen im zweiten Teil des Bandes "Lektüren". Vielleicht verdanken wir es dem antiakademischen Gestus aller Avantgarden, daß hier erfreulicherweise Interpreten aus Kunst und Öffentlichkeit zu Wort kommen. Norbert Blüm stellt etwa Gottfried Benns "Morgue" als "Requiem auf das bürgerliche Gesellschaftsvertrauen" vor. Und Autoren wie Helmut Heißenbüttel, Thomas Kling oder Barbara Köhler lesen Texte von Friedrich Glauser, Carl Einstein, Hugo Ball oder Kurt Schwitters. Insgesamt bietet der Band ein vielseitiges Panorama konkurrierender avantgardistischer Strömungen. Kurzlebig und zum Scheitern verurteilt waren sie allesamt, doch als provokative Stimulationen von unschätzbarer Wirkung auf die Kunst und Literatur der Moderne.
ALEXANDER KOSENINA.
"Aufbruch ins 20. Jahrhundert". Über Avantgarden. Text + Kritik. Sonderband IX. Edition Text + Kritik, München 2001. 312 S., br., 24,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Sonderband von "Text + Kritik" über Avantgarden
"Öffentliches Ärgernis zu erregen", so Walter Benjamin, sei das vorrangige Ziel futuristischer Kunst. Das "Manifest der futuristischen Maler" von 1910 erklärt denn auch "allen Künstlern und allen Institutionen den Krieg", die "an der Tradition, dem Akademismus und vor allem an einer widerwärtigen geistigen Trägheit festkleben". Auch andere Stoßtrupps der europäischen Avantgarde knüpfen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts an die ursprüngliche militärische Wortbedeutung an und setzen sich als "Vorhut" an die Spitze von Kunstbewegungen. Ihre geistige Kriegsführung wird von aggressiver Propaganda und karnevalesken Aktionen flankiert. Gekämpft wird mit allen verfügbaren Waffen der Ästhetik - mit Schreibstift und Pinsel ebenso wie mit der Filmkamera, dem sprechenden Körper oder der reproduzierbaren Stimme.
Avantgarden verweigern sich prinzipiell der Beschränkung und Festlegung. Hans Ludwig Arnolds vorliegende Auswahl macht aus dieser Not eine Tugend. Natürlich steht die Literatur im Zentrum, also die Poetik der Infragestellung und des assoziativen, unabgeschlossenen, experimentellen und materialen Umgangs mit Sprache. Doch die dafür verantwortlichen Programme erschließen sich am ehesten aus den sozialen und politischen Aufbruchs- und Protestbewegungen der Zeit. Denn die Avantgarde verfügt neben der militärischen über eine frühsozialistische Wortgeschichte, die der Übertragung auf die Kunst durch die Saint-Simonisten vorangeht. An politische Losungen wie "Vorwärts! Avanti! Uns nach!" knüpfen die Kunstinstitutionen an: Die Berliner "Sturm-Bühne" oder die Hamburger "Kampf-Bühne", Zeitschriften wie "Die Rote Erde", "Die Revolution" oder "Die Aktion", Schriftenreihen wie "Der jüngste Tag" oder "Die Silbergäule". Damit befassen sich einzelne Beiträge, die dem Theater, den Journalen oder Verlagen der Avantgarde gewidmet sind. Literarische Texte lassen sich aber auch auf Jugendbewegungen der Zeit zurückführen oder als Sturmlauf gegen Rechtsbestimmungen lesen, die etwa vor Gotteslästerung, Verunglimpfung oder Verbreitung unzüchtiger Darstellungen schützen sollen.
Diesen historischen Erkundungen von Literatur-, Medien- und Buchwissenschaftlern folgen im zweiten Teil des Bandes "Lektüren". Vielleicht verdanken wir es dem antiakademischen Gestus aller Avantgarden, daß hier erfreulicherweise Interpreten aus Kunst und Öffentlichkeit zu Wort kommen. Norbert Blüm stellt etwa Gottfried Benns "Morgue" als "Requiem auf das bürgerliche Gesellschaftsvertrauen" vor. Und Autoren wie Helmut Heißenbüttel, Thomas Kling oder Barbara Köhler lesen Texte von Friedrich Glauser, Carl Einstein, Hugo Ball oder Kurt Schwitters. Insgesamt bietet der Band ein vielseitiges Panorama konkurrierender avantgardistischer Strömungen. Kurzlebig und zum Scheitern verurteilt waren sie allesamt, doch als provokative Stimulationen von unschätzbarer Wirkung auf die Kunst und Literatur der Moderne.
ALEXANDER KOSENINA.
"Aufbruch ins 20. Jahrhundert". Über Avantgarden. Text + Kritik. Sonderband IX. Edition Text + Kritik, München 2001. 312 S., br., 24,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ansprechend und erfrischend antiakademisch, wie sich das für einen Sammelband zum Thema "Avantgarden" gehört, findet Alexander Kosenina den von Hans Ludwig Arnold herausgegebenen Materialband, der naheliegenderweise die Literatur ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit rückt. Da gerade das Unabgeschlossene, Experimentelle, Assoziative ein Kennzeichen der Avantgarden ist, bemerkt Kosenina, seien sie auch schwer zu definieren und einzukreisen. Dieses Problem umschiffe der Band klugerweise, indem er sich den verschiedensten Bewegungen des 20. Jahrhunderts einfach überlasse. Ihre Programmatik - Dadaismus, Futurismus, Expressionismus etc - erschließe sich am besten, wie der Band belege, über den Kontext der sie begleitenden sozialen und politischen Aufbruchsbewegungen. Auf diese sozial- und literaturhistorischen Exkurse folgt ein zweiter Teil, berichtet Kosenina, der unter der Überschrift "Lektüren" einzelnen Texten auf der Spur sei. Verschiedene Persönlichkeiten bieten ihre Lesart an: Autoren wie Heißenbüttel, Kling oder Barbara Köhler kommen dabei zu Wort, aber auch der Politiker Norbert Blüm, der Gottfried Benns "Morgue" interpretiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH