Naturnahes Wohnen, Naturheilmedizin, gesunde Ernährung, körperliche Achtsamkeit - derartige Lebensentwürfe sind nicht neu. Bereits um 1900 machte sich im Zuge von Industrialisierung und Modernisierung ein bürgerliches Unbehagen breit, das zu einer 'Zurück zur Natur'-Bewegung führte. Die Lebensreformbewegung propagierte einen umfassenden Aufbruch. Zu ihr gehörten Vegetarismus, alternative Heilverfahren, Körperkultur und ländliches Siedeln. Bernd Wedemeyer-Kolwe entwirft ein eindrucksvolles Panorama all dieser Bestrebungen, denen eins gemeinsam ist: Ihre Anhänger verspürten die gesellschaftlichen Bedingungen der Kaiserzeit als unerträgliches Korsett und suchten individuelle Wege eines neuen Zusammenlebens, die die Gesellschaft renovieren sollten. Der Autor analysiert die Zäsuren, die die Lebensreform zwischen Sozialutopie, Selbstreform und Lebensstil initiierte und weist auf die Aktualität derartiger Daseinskonzepte bis zu heutigen alternativen Entwürfen hin.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2017Vor der Nachhaltigkeit
Bernd Wedemeyer-Kolwe über die Lebensreformer
Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts rebellierten die Bedürfnisse. Menschen entschieden sich, aus Zwängen der technischen und wissenschaftlichen Moderne auszusteigen, die sie als unnatürlich und lebensfeindlich empfanden. Wer zu dieser Lebensreformbewegung gehörte, der ernährte sich vegetarisch, vertraute der Naturheilkunde, huldigte dem nackten Körper und der Bewegung im Freien und wohnte in Siedlungen, die im Grünen lagen.
Viel später kamen dann die Wissenschaftler. Jetzt sah es so aus, als würden noch andere Ideen und Leute wie die Wandervögel, die Reformpädagogen, Sportvereine, Schrebergärten und bestimmte Erscheinungen in Kunst und Literatur, in Architektur und Städtebau zur Lebensreformbewegung gehören. Der Begriff wurde verwässert.
Bei Bernd Wedemeyer-Kolwe aber ist alles so, wie es am Anfang war. Sein Buch sei ein Kompendium, sagt der Autor, eine Zusammenfassung für Forschung und Lehre. So liest es sich auch, geradlinig, systematisch, korrekt, umstandslos. Wer das mag, der ist damit gut bedient. Der Autor verspricht nicht mehr, als er auch halten mag.
Der letzte Satz des Buches ist der interessanteste: Es fehle, schreibt der Autor, bevor er das lange Literaturverzeichnis folgen lässt, "eine Synthese von kultur- und sozialgeschichtlichen Ansätzen" und es stehe noch "eine die Forschung überzeugende Deutung zum historischen Phänomen der Lebensreformbewegung" aus. Der Laie wird diesen Mangel nicht angemessen bedauern können, auch wenn er von der Lebensreformbewegung in ihren Ausläufern profitiert, sobald er in Reformhäusern einkaufen geht.
Warum diese Bewegung gerade in Deutschland so in Fahrt kam, ist noch nicht schlüssig erklärt. Das gilt auch für den esoterischen Anteil, für das Wirken der Heiler, Spiritisten, Wundergläubigen, Deuter, Schauenden und Handaufleger. Auch die Anthroposophie findet sich in der für Deutschland typischen Masse und Macht in anderen Ländern nicht. Wer auf dem Markt beim Demeter-Bauern einkauft, weil das Obst und Gemüse von ihm gut schmeckt, der steht am Ende einer langen Tradition, deren Ideen ihm vielleicht, kennte er sie, gar nicht so recht sind.
Die Lebensreform hat sich nicht überlebt, sie ist mittelmäßig geworden und in den sozialen Mittelstand eingezogen, der als Produzent, aber vor allem als Konsument nachhaltig zu agieren versucht. Wer heute auf sich hält, lebt bewusst. Er versteht darunter vor allem, dass er Produkte daraufhin prüft, ob das, was in ihnen drinsteckt, seiner Gesundheit förderlich ist und ob die Art und Weise, wie die Produkte hergestellt und in die Läden gebracht werden, seinen weichen Vorstellungen von Gerechtigkeit entspricht. Der moderne Lebensbewegte ist kein Aussteiger, sondern ein qualitätsbewusstes Mitglied der Gesellschaft.
Die ersten Leute von der Lebensreform waren keine großen Geister. Sie fühlten sich zuerst nur unwohl, dann fühlten sie, was sie tun sollten, und dann fühlten sie sich gut und im Recht. Wenn Lebensgefühle avantgardistisch sein können, dann gehörten die Gefühle der Lebensreformer zur Avantgarde der Industrialisierung, gerade weil sie die Menschen spüren ließen, dass es so nicht weitergehen konnte und die Angestellten und Arbeiter eine andere Lebensführung brauchten, um besser durchzuhalten. Einhundert Jahre sind seit diesem Aufbruch der Bedürfnisse vergangen. So lange hat es gedauert, bis die Ideen der Reformbewegung eingingen in ein gesellschaftskonformes Lebenskonzept, eine erfolgreiche Mischung aus arbeitsamer Askese, geschmeidigem Körperbewusstsein, harmonisierendem Geist und urbanisiertem Naturgefühl.
Von hier aus gesehen, kommt ein Buch gerade recht, das mit einfachen Worten und klarer Gliederung daran erinnert, wie diese deutsche Geschichte angefangen hat.
EBERHARD RATHGEB
Bernd Wedemeyer-Kolwe: "Aufbruch".
Die Lebensreform in Deutschland.
Philipp von Zabern Verlag, Darmstadt 2017. 208 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bernd Wedemeyer-Kolwe über die Lebensreformer
Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts rebellierten die Bedürfnisse. Menschen entschieden sich, aus Zwängen der technischen und wissenschaftlichen Moderne auszusteigen, die sie als unnatürlich und lebensfeindlich empfanden. Wer zu dieser Lebensreformbewegung gehörte, der ernährte sich vegetarisch, vertraute der Naturheilkunde, huldigte dem nackten Körper und der Bewegung im Freien und wohnte in Siedlungen, die im Grünen lagen.
Viel später kamen dann die Wissenschaftler. Jetzt sah es so aus, als würden noch andere Ideen und Leute wie die Wandervögel, die Reformpädagogen, Sportvereine, Schrebergärten und bestimmte Erscheinungen in Kunst und Literatur, in Architektur und Städtebau zur Lebensreformbewegung gehören. Der Begriff wurde verwässert.
Bei Bernd Wedemeyer-Kolwe aber ist alles so, wie es am Anfang war. Sein Buch sei ein Kompendium, sagt der Autor, eine Zusammenfassung für Forschung und Lehre. So liest es sich auch, geradlinig, systematisch, korrekt, umstandslos. Wer das mag, der ist damit gut bedient. Der Autor verspricht nicht mehr, als er auch halten mag.
Der letzte Satz des Buches ist der interessanteste: Es fehle, schreibt der Autor, bevor er das lange Literaturverzeichnis folgen lässt, "eine Synthese von kultur- und sozialgeschichtlichen Ansätzen" und es stehe noch "eine die Forschung überzeugende Deutung zum historischen Phänomen der Lebensreformbewegung" aus. Der Laie wird diesen Mangel nicht angemessen bedauern können, auch wenn er von der Lebensreformbewegung in ihren Ausläufern profitiert, sobald er in Reformhäusern einkaufen geht.
Warum diese Bewegung gerade in Deutschland so in Fahrt kam, ist noch nicht schlüssig erklärt. Das gilt auch für den esoterischen Anteil, für das Wirken der Heiler, Spiritisten, Wundergläubigen, Deuter, Schauenden und Handaufleger. Auch die Anthroposophie findet sich in der für Deutschland typischen Masse und Macht in anderen Ländern nicht. Wer auf dem Markt beim Demeter-Bauern einkauft, weil das Obst und Gemüse von ihm gut schmeckt, der steht am Ende einer langen Tradition, deren Ideen ihm vielleicht, kennte er sie, gar nicht so recht sind.
Die Lebensreform hat sich nicht überlebt, sie ist mittelmäßig geworden und in den sozialen Mittelstand eingezogen, der als Produzent, aber vor allem als Konsument nachhaltig zu agieren versucht. Wer heute auf sich hält, lebt bewusst. Er versteht darunter vor allem, dass er Produkte daraufhin prüft, ob das, was in ihnen drinsteckt, seiner Gesundheit förderlich ist und ob die Art und Weise, wie die Produkte hergestellt und in die Läden gebracht werden, seinen weichen Vorstellungen von Gerechtigkeit entspricht. Der moderne Lebensbewegte ist kein Aussteiger, sondern ein qualitätsbewusstes Mitglied der Gesellschaft.
Die ersten Leute von der Lebensreform waren keine großen Geister. Sie fühlten sich zuerst nur unwohl, dann fühlten sie, was sie tun sollten, und dann fühlten sie sich gut und im Recht. Wenn Lebensgefühle avantgardistisch sein können, dann gehörten die Gefühle der Lebensreformer zur Avantgarde der Industrialisierung, gerade weil sie die Menschen spüren ließen, dass es so nicht weitergehen konnte und die Angestellten und Arbeiter eine andere Lebensführung brauchten, um besser durchzuhalten. Einhundert Jahre sind seit diesem Aufbruch der Bedürfnisse vergangen. So lange hat es gedauert, bis die Ideen der Reformbewegung eingingen in ein gesellschaftskonformes Lebenskonzept, eine erfolgreiche Mischung aus arbeitsamer Askese, geschmeidigem Körperbewusstsein, harmonisierendem Geist und urbanisiertem Naturgefühl.
Von hier aus gesehen, kommt ein Buch gerade recht, das mit einfachen Worten und klarer Gliederung daran erinnert, wie diese deutsche Geschichte angefangen hat.
EBERHARD RATHGEB
Bernd Wedemeyer-Kolwe: "Aufbruch".
Die Lebensreform in Deutschland.
Philipp von Zabern Verlag, Darmstadt 2017. 208 S., Abb., geb., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Sein Buch sei ein Kompendium, sagt der Autor, eine Zusammenfassung für Forschung und Lehre. So liest es sich auch, geradlinig, systematisch, korrekt, umstandslos. Wer das mag, der ist damit gut bedient. Der Autor verspricht nicht mehr, als er auch halten mag. Von hier aus gesehen, kommt ein Buch gerade recht, das mit einfachen Worten und klarer Gliederung daran erinnert, wie diese deutsche Geschichte angefangen hat.« FAZ »Das gut lesbare Buch hält so manchen Aha-Erlebnis bereit.« Wochenblatt für Landwirtschaft & Landleben »Eine gut geschriebene Einführung« Historische Zeitschrift »Gleichwohl handelt es sich bei dem vorliegenden Werk um ein im höchsten Maße verdienstvolles, quellengesättigtes und lesefreundlich aufgearbeitetes Einführungswerk.« (Florian Mildenberger)