In einem Kloster irgendwo in Italien beobachtet ein namenloser Seminarist die unter-schwelligen Konflikte zwischen Mönchen und Priestern, läuft Rollschuh in einem leeren Schwimmbecken und erfindet dabei verträumte Liturgien. Aber bald verzweifelt er am Widerspruch zwischen der sich ihm offenbarenden malerischen Schönheit der ländlichen Kulisse und der zerstörerischen Kraft der Welt. Er wird Mitglied einer revolutionären Bewegung, organisiert politische Kundgebungen mit einer Gruppe klappriger Genossen, vernimmt die unglaubliche Geschichte der Einbalsamierung von Lenin und beschließt die Reise mit einer persönlichen und epochalen Katastrophe. Ernüchtert versteckt er sich in einer norditalienischen Großstadt und wird Schriftsteller. Dort macht ihm ein Verleger den Hof, weist ihn aber wieder zurück und hängt ihm einen halbtoten Biographen an. Schließlich ermutigt er den Autor, sein Werk als höchste Form der Veröffentlichung zu zerstören. Antonio Morescos Aufbrüche ist ein intellektueller Höllenritt durch die Trias von Religion, Revolution und Kunst im Leben eines modernen Simplizissimus irgendwo in der weiten Wüste zwischen Dante und Beckett, dem es nie gelingt, der erdrückenden Einsamkeit zu entkommen und sich festzulegen. Stattdessen rast er in motorisierten Blechkisten wie Mad Max durch apokalyptisch anmutende Landschaften der italienischen Geschichte von den sechziger Jahren bis zur heutigen Mediengesellschaft mit der scheinbaren Mission, die eigene Berufung ohne Vorbehalt aufs Spiel zu setzen und endlich einmal in der Freiheit anzukommen und - Ja zu sagen. Hinter Morescos scheinbar einfacher Sprache verbirgt sich eine schwindelerregend visionäre Bilderflut, die alle Elemente großer Literatur - Poesie, Komik, Tragik - in einem unbändigen Strudel mit sich reißt und die
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2005Die Wirklichkeit ist nicht realistisch
Antonio Morescos monumentales Erzählwerk "Aufbrüche" / Von Richard Kämmerlings
Es gibt Kunstwerke, vor denen der Betrachter ebenso fasziniert wie hilflos steht, von deren innerstem Wesen man sich bei aller mächtigen Anziehung stets ausgeschlossen, regelrecht ausgesperrt fühlt. Fast scheinen solche erratischen Werke gar keines Betrachters, Zuschauers, keines Lesers zu bedürfen, sondern ganz in sich zu ruhen und jeden Versuch der hermeneutischen Kontaktaufnahme als Zudringlichkeit zurückzuweisen, vergleichbar jenem rätselhaften schwarzen Obelisken in Stanley Kubricks Sciencefiction-Klassiker "2001". In der bildenden Kunst sind wir den Umgang mit solchen Werken gewohnt und lassen jenseits des rationalen Zugangs auch die kontemplative Annäherung als angemessene Rezeptionshaltung zu. Und in der Literatur?
"Aufbrüche", das nun auf deutsch vorliegende Hauptwerk des 1947 geborenen Italieners Antonio Moresco, macht die Frage nach der Haltung des Lesers unabweisbar, eine Frage, die unzeitgemäß geworden ist und gerade deswegen heute wieder einmal gestellt werden muß. Denn mit den Klassikern des modernen Romans machen wir es uns gemeinhin einfach: Das Genie eines Claude Simon, eines Samuel Beckett, eines Witold Gombrowicz wird nicht bestritten, doch heißt das noch lange nicht, daß ihre großen Bücher jenseits akademischer Kreise wirklich noch gelesen, geschweige denn als Maßstab genommen würden. Selbst bei Kafka ist das fraglich. Denn der konventionelle realistische Roman (mitsamt seinen postmodernen Spielarten) hat sich, machen wir uns nichts vor, bei Kritik und Publikum als dominierendes Erzählmodell mehr als nur behaupten können. Daran gemessen, erscheinen erzählerische "Experimente" - schon der Begriff hat inzwischen einen pejorativen Klang - als elitäre Zumutungen an den Leser, der den Schwarzen Peter seiner Überforderung an den Autor zurückreicht. "Die Realität ist nicht realistisch", lautet dagegen lapidar ein Credo Morescos, das dem informativen Beiheft zu entnehmen ist.
"Aufbrüche", im Original 1998 erschienen, besteht aus drei Teilen, in denen der namenlose Ich-Erzähler sich jeweils auf einem bestimmten Feld moderner Selbstverwirklichung bewegt: der Religion, der Politik, der Kunst. Im ersten Teil, der "Das Schweigen" überschrieben ist, begegnen wir ihm als Novizen in einem Kloster in Norditalien; das Geschehen dürfte etwa in den sechziger Jahren anzusiedeln sein. Zunächst muten die Beschreibungen des mönchischen Alltags durchaus naturalistisch-exakt an: die strengen Rituale, die peinlich genau wiedergegebenen Meßfeiern, die durch unterdrückte Triebhaftigkeit aggressiv aufgeladene Atmosphäre der Männergemeinschaft, entlastende, kindlich-verspielte Freizeitbeschäftigungen. Da kleinste Abweichungen vom Immergleichen in diesem Umfeld zwangsläufig eine ungeheure Bedeutung bekommen, scheint auch die Detailbesessenheit der Beobachtung psychologisch begründbar: Einem Präfekten hängen beim Mahl Speisereste an den Lippen; ein Kohlestückchen springt aus dem Weihrauchfaß und versengt den Teppich; in der Durchreiche zum Speisesaal fällt der Blick für eine Sekunde auf die Hand einer schwarzen Nonne in der Küche, die man aber nie zu Gesicht bekommt.
Doch irritiert bald das Fehlen jeglicher Selbstreflexion des Erzählers, der sich offenbar nicht nur gegenüber den Mitbrüdern heimlich ein zusätzliches Schweigegebot auferlegt hat, dessen Einhaltung größte Anstrengungen erfordert. Die Gründe dafür bleiben ebenso im dunkeln wie die Motive, die ihn überhaupt ins Kloster geführt haben, oder die wahre Natur seiner augenscheinlich speziellen Beziehungen zum Prior. Spätestens die Schilderung einer längeren Reise ins Heimatdorf macht klar, daß Morescos Erzählen mit herkömmlichen Kategorien von Setting oder Plot verfehlt wird. Der feudale Gutshof, auf dem sich der Novize wegen einer Operation - einer Beschneidung - aufhält (ob die Gründe dafür medizinische oder religiöse sind, bleibt bezeichnenderweise offen), ist weit eher eine Seelenlandschaft als ein realer Ort, die Figuren sind eher Archetypen als Individuen, die Geschehnisse - eine Hochzeit, ein fatal endender Brieftaubenwettstreit, ein Herbstfeuer von apokalyptischen Ausmaßen - eher Anlässe zu statischen Panoramen, deren Einzelheiten sich bei jeder Wiederholung stärker ins Gedächtnis brennen.
Fast könnte man meinen, durch Gemälde im Stil der "Pittura Metafisica" de Chiricos oder des Surrealismus zu wandeln. Obwohl in diesem Roman ständig Auto, Motorrad oder zumindest Fahrrad gefahren wird (selbst die Seminaristen fahren Rollschuh auf dem Klosterhof), betreibt Moresco eine Stillstellung jeglicher Erzähldynamik im Tableau. Es geht nicht um eine exzessive Beschreibungskunst à la Proust, sondern um eine radikale Subjektivierung der Wahrnehmung bis ins Halluzinative: Gesehen wird, was für den Erzähler von Bedeutung ist. Diese Filterung treibt Moresco zu einer gleichsam fetischistischen Poetik, die oft um erotische Versuchungen kreist: die Hände der schwarzen Nonne, die wuchernden Hühneraugen des Oheims, die zum Körperschmuck eines Mädchens gewordene Pfote einer toten Katze. Solche äußeren, oft seltsam belebten Dinge sind die innere Wirklichkeit des Erzählers. In diesem Sinne ist die Realität nicht realistisch.
Zu jedem "Aufbruch" gehört eine emphatische Bejahung, die gleichwohl durch den jeweils übergangslos folgenden Teil dementiert wird: Am Ende des "Schweigens" bekräftigt der Erzähler seine geistliche Berufung und ist gleich darauf als politischer Agitator zu erleben, der in einer abgelegenen Prozinz Parteigänger für die - niemals näher bestimmte - linksradikale Sache anwirbt. Stärker noch als im ersten Teil, dem jede theologische Debatte fehlt, wird hier die reine Form des Engagements vorgeführt - und zugleich desavouiert. Wenn der Erzähler ein Häufchen merkwürdigster Gestalten um sich sammelt, mit einem winzigen Fiat von Dorf zu Dorf tingelt, um dort Parolen über leere Plätze zu brüllen, und schließlich Chef einer längst aufgegebenen und verfallenen Niederlassung in der Stadt wird, muß man das wohl als Abgesang auf die einst mächtige italienische Linke lesen. Stapelweise Mitgliedsanträge ohne Mitglieder, ein gigantischer Apparat von Zweigstellen ohne Zentrale - das ist Kafka auf Italien-Reise. Dieser zweite Teil ist allerdings - trotz einiger grotesker Höhepunkte wie der Schilderung von Lenins wahrem Ende durch einen greisen Genossen - der schwächste der drei. Zu deutlich die Fiktionssignale (das parteieigene Auto, das fährt, ohne jemals tanken zu müssen!), zu groß der Widerspruch zwischen der Irritation des Erzählers und seinen stoischen Versuchen, sich in einer verkehrten Welt einzurichten: der Aktivist, versunken in Passivität. Einigermaßen paradox steht am Ende die Entscheidung, "Krieger", also Terrorist, zu werden - die gewaltsame Lösung des gordischen Knotens.
Der dritte Teil schließlich führt den Erzähler als Schriftsteller ein, als Autor eines dem vorliegenden Roman ähnelnden Werks von radikaler Kompromißlosigkeit, der in beinahe sadistischer Weise von einem Verlag hingehalten wird. Die Handlung spielt nun in Mailand, ist erkennbar an die Gegenwart herangerückt und liefert ein überaus tristes Bild der anonymen Großstadt. Die kulturkritischen Seitenhiebe auf den trendhörigen und opportunistischen Literaturbetrieb dürfte Moresco, der seit 1984 an diesem Roman arbeitete und jahrelang vergeblich versuchte, dafür einen Verlag zu finden, erst später eingefügt haben. Der Verleger, der sich als Mitbruder aus dem ersten Teil entpuppt, schlägt schließlich die Vernichtung des Werks als ultimative Form der Publikation vor, und auch hier wird der dramatische Schluß auf einer höheren Ebene dementiert - denn der Roman liegt ja vor.
Man hat sich diese drei - durch Leitmotive und Figuren virtuos verknüpften - Teile nun nicht als eine Art Stufenweg vorzustellen oder gar als autobiographischen Entwicklungsroman. Eher geht es um gleichberechtigte Modelle einer "reinen", einer höheren Idee geweihten Existenz, deren jeweiliges Scheitern vorgeführt wird: Der Geistliche scheitert an den ununterdrückbaren Ansprüchen des Leibs, der Aktivist an der fehlenden Solidarität, der Künstler an den Zwängen des Markts. Dantes Dreischritt von Hölle, Fegefeuer und Paradies mag als formales Vorbild naheliegen; in der deutschen Literatur wird man in Peter Weiss' "Ästhetik des Widerstands" ein vergleichbares Unternehmen finden, nicht nur weil sich auch dieser mit verschiedenen Möglichkeiten des politischen Engagements auseinandersetzt. Die Aufhebung des Erzählflusses im Bild ist eine weitere Parallele wie überhaupt die Vorstellung von Kunstaneignung und Lektüre als "Arbeit", als einer mitunter mühsamen Art von Widerstand. Auch Moresco träumt noch einmal den Traum der Avantgarde, daß Kunst und Leben ins eins fallen mögen.
Ein gewaltiges, gegenüber Lesererwartungen so provozierend gleichgültiges Werk wie "Aufbrüche" stellt jede Kritik vor ein Dilemma. Denn der Mehrzahl der Leser wird man das Buch wohl nicht guten Gewissens empfehlen können. Mit dem schlichten Hinweis auf die auf keine andere Weise zu machenden Erfahrungen könnte auch ein Reisejournalist eine Wüstenwanderung anpreisen. Wer einen Roman nach den Kriterien der Folgerichtigkeit der Handlung oder der psychologischen Glaubwürdigkeit, der "Lebensnähe" der Figuren beurteilt, wer von der Literatur vor allem Unterhaltung oder Belehrung, Zerstreuung oder Lebenshilfe erwartet, der sollte von den "Aufbrüchen" tunlichst die Finger lassen. Wer seinen Weg durch diesen Roman finden will, der muß bereit sein, sich auf die Regeln einzulassen, die er wie jedes große Kunstwerk selbst vorgibt.
Antonio Moresco: "Aufbrüche". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Ragni Maria Gschwend. Ammann Verlag, Zürich 2005. 656 S., geb., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Antonio Morescos monumentales Erzählwerk "Aufbrüche" / Von Richard Kämmerlings
Es gibt Kunstwerke, vor denen der Betrachter ebenso fasziniert wie hilflos steht, von deren innerstem Wesen man sich bei aller mächtigen Anziehung stets ausgeschlossen, regelrecht ausgesperrt fühlt. Fast scheinen solche erratischen Werke gar keines Betrachters, Zuschauers, keines Lesers zu bedürfen, sondern ganz in sich zu ruhen und jeden Versuch der hermeneutischen Kontaktaufnahme als Zudringlichkeit zurückzuweisen, vergleichbar jenem rätselhaften schwarzen Obelisken in Stanley Kubricks Sciencefiction-Klassiker "2001". In der bildenden Kunst sind wir den Umgang mit solchen Werken gewohnt und lassen jenseits des rationalen Zugangs auch die kontemplative Annäherung als angemessene Rezeptionshaltung zu. Und in der Literatur?
"Aufbrüche", das nun auf deutsch vorliegende Hauptwerk des 1947 geborenen Italieners Antonio Moresco, macht die Frage nach der Haltung des Lesers unabweisbar, eine Frage, die unzeitgemäß geworden ist und gerade deswegen heute wieder einmal gestellt werden muß. Denn mit den Klassikern des modernen Romans machen wir es uns gemeinhin einfach: Das Genie eines Claude Simon, eines Samuel Beckett, eines Witold Gombrowicz wird nicht bestritten, doch heißt das noch lange nicht, daß ihre großen Bücher jenseits akademischer Kreise wirklich noch gelesen, geschweige denn als Maßstab genommen würden. Selbst bei Kafka ist das fraglich. Denn der konventionelle realistische Roman (mitsamt seinen postmodernen Spielarten) hat sich, machen wir uns nichts vor, bei Kritik und Publikum als dominierendes Erzählmodell mehr als nur behaupten können. Daran gemessen, erscheinen erzählerische "Experimente" - schon der Begriff hat inzwischen einen pejorativen Klang - als elitäre Zumutungen an den Leser, der den Schwarzen Peter seiner Überforderung an den Autor zurückreicht. "Die Realität ist nicht realistisch", lautet dagegen lapidar ein Credo Morescos, das dem informativen Beiheft zu entnehmen ist.
"Aufbrüche", im Original 1998 erschienen, besteht aus drei Teilen, in denen der namenlose Ich-Erzähler sich jeweils auf einem bestimmten Feld moderner Selbstverwirklichung bewegt: der Religion, der Politik, der Kunst. Im ersten Teil, der "Das Schweigen" überschrieben ist, begegnen wir ihm als Novizen in einem Kloster in Norditalien; das Geschehen dürfte etwa in den sechziger Jahren anzusiedeln sein. Zunächst muten die Beschreibungen des mönchischen Alltags durchaus naturalistisch-exakt an: die strengen Rituale, die peinlich genau wiedergegebenen Meßfeiern, die durch unterdrückte Triebhaftigkeit aggressiv aufgeladene Atmosphäre der Männergemeinschaft, entlastende, kindlich-verspielte Freizeitbeschäftigungen. Da kleinste Abweichungen vom Immergleichen in diesem Umfeld zwangsläufig eine ungeheure Bedeutung bekommen, scheint auch die Detailbesessenheit der Beobachtung psychologisch begründbar: Einem Präfekten hängen beim Mahl Speisereste an den Lippen; ein Kohlestückchen springt aus dem Weihrauchfaß und versengt den Teppich; in der Durchreiche zum Speisesaal fällt der Blick für eine Sekunde auf die Hand einer schwarzen Nonne in der Küche, die man aber nie zu Gesicht bekommt.
Doch irritiert bald das Fehlen jeglicher Selbstreflexion des Erzählers, der sich offenbar nicht nur gegenüber den Mitbrüdern heimlich ein zusätzliches Schweigegebot auferlegt hat, dessen Einhaltung größte Anstrengungen erfordert. Die Gründe dafür bleiben ebenso im dunkeln wie die Motive, die ihn überhaupt ins Kloster geführt haben, oder die wahre Natur seiner augenscheinlich speziellen Beziehungen zum Prior. Spätestens die Schilderung einer längeren Reise ins Heimatdorf macht klar, daß Morescos Erzählen mit herkömmlichen Kategorien von Setting oder Plot verfehlt wird. Der feudale Gutshof, auf dem sich der Novize wegen einer Operation - einer Beschneidung - aufhält (ob die Gründe dafür medizinische oder religiöse sind, bleibt bezeichnenderweise offen), ist weit eher eine Seelenlandschaft als ein realer Ort, die Figuren sind eher Archetypen als Individuen, die Geschehnisse - eine Hochzeit, ein fatal endender Brieftaubenwettstreit, ein Herbstfeuer von apokalyptischen Ausmaßen - eher Anlässe zu statischen Panoramen, deren Einzelheiten sich bei jeder Wiederholung stärker ins Gedächtnis brennen.
Fast könnte man meinen, durch Gemälde im Stil der "Pittura Metafisica" de Chiricos oder des Surrealismus zu wandeln. Obwohl in diesem Roman ständig Auto, Motorrad oder zumindest Fahrrad gefahren wird (selbst die Seminaristen fahren Rollschuh auf dem Klosterhof), betreibt Moresco eine Stillstellung jeglicher Erzähldynamik im Tableau. Es geht nicht um eine exzessive Beschreibungskunst à la Proust, sondern um eine radikale Subjektivierung der Wahrnehmung bis ins Halluzinative: Gesehen wird, was für den Erzähler von Bedeutung ist. Diese Filterung treibt Moresco zu einer gleichsam fetischistischen Poetik, die oft um erotische Versuchungen kreist: die Hände der schwarzen Nonne, die wuchernden Hühneraugen des Oheims, die zum Körperschmuck eines Mädchens gewordene Pfote einer toten Katze. Solche äußeren, oft seltsam belebten Dinge sind die innere Wirklichkeit des Erzählers. In diesem Sinne ist die Realität nicht realistisch.
Zu jedem "Aufbruch" gehört eine emphatische Bejahung, die gleichwohl durch den jeweils übergangslos folgenden Teil dementiert wird: Am Ende des "Schweigens" bekräftigt der Erzähler seine geistliche Berufung und ist gleich darauf als politischer Agitator zu erleben, der in einer abgelegenen Prozinz Parteigänger für die - niemals näher bestimmte - linksradikale Sache anwirbt. Stärker noch als im ersten Teil, dem jede theologische Debatte fehlt, wird hier die reine Form des Engagements vorgeführt - und zugleich desavouiert. Wenn der Erzähler ein Häufchen merkwürdigster Gestalten um sich sammelt, mit einem winzigen Fiat von Dorf zu Dorf tingelt, um dort Parolen über leere Plätze zu brüllen, und schließlich Chef einer längst aufgegebenen und verfallenen Niederlassung in der Stadt wird, muß man das wohl als Abgesang auf die einst mächtige italienische Linke lesen. Stapelweise Mitgliedsanträge ohne Mitglieder, ein gigantischer Apparat von Zweigstellen ohne Zentrale - das ist Kafka auf Italien-Reise. Dieser zweite Teil ist allerdings - trotz einiger grotesker Höhepunkte wie der Schilderung von Lenins wahrem Ende durch einen greisen Genossen - der schwächste der drei. Zu deutlich die Fiktionssignale (das parteieigene Auto, das fährt, ohne jemals tanken zu müssen!), zu groß der Widerspruch zwischen der Irritation des Erzählers und seinen stoischen Versuchen, sich in einer verkehrten Welt einzurichten: der Aktivist, versunken in Passivität. Einigermaßen paradox steht am Ende die Entscheidung, "Krieger", also Terrorist, zu werden - die gewaltsame Lösung des gordischen Knotens.
Der dritte Teil schließlich führt den Erzähler als Schriftsteller ein, als Autor eines dem vorliegenden Roman ähnelnden Werks von radikaler Kompromißlosigkeit, der in beinahe sadistischer Weise von einem Verlag hingehalten wird. Die Handlung spielt nun in Mailand, ist erkennbar an die Gegenwart herangerückt und liefert ein überaus tristes Bild der anonymen Großstadt. Die kulturkritischen Seitenhiebe auf den trendhörigen und opportunistischen Literaturbetrieb dürfte Moresco, der seit 1984 an diesem Roman arbeitete und jahrelang vergeblich versuchte, dafür einen Verlag zu finden, erst später eingefügt haben. Der Verleger, der sich als Mitbruder aus dem ersten Teil entpuppt, schlägt schließlich die Vernichtung des Werks als ultimative Form der Publikation vor, und auch hier wird der dramatische Schluß auf einer höheren Ebene dementiert - denn der Roman liegt ja vor.
Man hat sich diese drei - durch Leitmotive und Figuren virtuos verknüpften - Teile nun nicht als eine Art Stufenweg vorzustellen oder gar als autobiographischen Entwicklungsroman. Eher geht es um gleichberechtigte Modelle einer "reinen", einer höheren Idee geweihten Existenz, deren jeweiliges Scheitern vorgeführt wird: Der Geistliche scheitert an den ununterdrückbaren Ansprüchen des Leibs, der Aktivist an der fehlenden Solidarität, der Künstler an den Zwängen des Markts. Dantes Dreischritt von Hölle, Fegefeuer und Paradies mag als formales Vorbild naheliegen; in der deutschen Literatur wird man in Peter Weiss' "Ästhetik des Widerstands" ein vergleichbares Unternehmen finden, nicht nur weil sich auch dieser mit verschiedenen Möglichkeiten des politischen Engagements auseinandersetzt. Die Aufhebung des Erzählflusses im Bild ist eine weitere Parallele wie überhaupt die Vorstellung von Kunstaneignung und Lektüre als "Arbeit", als einer mitunter mühsamen Art von Widerstand. Auch Moresco träumt noch einmal den Traum der Avantgarde, daß Kunst und Leben ins eins fallen mögen.
Ein gewaltiges, gegenüber Lesererwartungen so provozierend gleichgültiges Werk wie "Aufbrüche" stellt jede Kritik vor ein Dilemma. Denn der Mehrzahl der Leser wird man das Buch wohl nicht guten Gewissens empfehlen können. Mit dem schlichten Hinweis auf die auf keine andere Weise zu machenden Erfahrungen könnte auch ein Reisejournalist eine Wüstenwanderung anpreisen. Wer einen Roman nach den Kriterien der Folgerichtigkeit der Handlung oder der psychologischen Glaubwürdigkeit, der "Lebensnähe" der Figuren beurteilt, wer von der Literatur vor allem Unterhaltung oder Belehrung, Zerstreuung oder Lebenshilfe erwartet, der sollte von den "Aufbrüchen" tunlichst die Finger lassen. Wer seinen Weg durch diesen Roman finden will, der muß bereit sein, sich auf die Regeln einzulassen, die er wie jedes große Kunstwerk selbst vorgibt.
Antonio Moresco: "Aufbrüche". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Ragni Maria Gschwend. Ammann Verlag, Zürich 2005. 656 S., geb., 29,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit der Geschichte dieses Romans will Joachim Sartorius sich nicht lange aufhalten. Der eigentliche Held des Buches nämlich sei die Beschreibungskunst des Autors, "ein Crescendo hin zu einer halluzinatorischen Wahrnehmung", das, so Sartorius, vor allem im Mittelteil des 650 Seiten-Schinkens für die "stärksten Passagen" sorge. Bis er zu diesen "skurrilen Einzelszenen" gelangt, "traurigkomische, verrückte, somnambule Ereignisse", die ihn an Fellini erinnern, hat sich der Rezensent allerdings durch einen "immer surrealer, aber auch immer ausgeleierter" erscheinenden Mix aus Entwicklungs-, Künstler-, und Zeitgeschichtsroman gekämpft, der ihn fragen lässt, ob das Verhältnis von Stoff und Genre stimmig ist und bei einem Entwicklungsroman wirklich auf alle Psychologie verzichtet werden kann. Mag der Autor auch die hochtrabenden Ankündigungen seines Verlages von einem "großen Roman" auch nicht ganz erfüllen, irgendwas findet Sartorius an diesem Moresco. Und sei es bloß ein "gefriergetrockneter Bunuel", ein "spröder Phantast" und "phantasievoller Langstreckenläufer".
© Perlentaucher Medien GmbH
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