Jürgen Nendzas neue Gedichte erinnern mit sprachlicher Sinnlichkeit und feinem Gespür an das, was in der Welt verloren geht, und erweisen sich als Seismographen des Verletzlichen. Dabei versetzen sie uns immer wieder ins Staunen. Sei es über die Formationen von Starenwolken, über die schlankstämmige Eberesche oder über Mausohren im Kreisverkehr. Die Panoramen reichen von den Topographien industrieller Zerstörung bis zum Labyrinth der Mythologie, verschmelzen Natur- und Denkräume und überführen genaueste Beobachtung im Detail zu einem lyrischen Fluss, in dem sich innere und äußere Zeit auflösen und Unscheinbares am Rande der Wahrnehmung erkennbar wird. Es sind Gedichte, die in Tableaus von irritierender Schönheit von Verlusten und beglückenden Momenten erzählen.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.04.2022Angespülte
Naherholung
Jürgen Nendzas Gedichte
zum Ende des Tagebaus
Auf den ersten Blick sieht der „INDESCHE OZEAN“ aus wie ein Druckfehler. Aber wenn der Lyriker Jürgen Nendza, geboren 1957 in Essen, ein Wort in Versalien setzt, ist es meist ein Fundstück aus der Wirklichkeit. So war es etwa in seinem letzten Band „picknick“ (2017), als er im „Kopfalbum“ auf das Ruhrgebiet seiner Kindheit zurückblickte. Wenn der Schichtverlauf der Flöze in Richtung MONTAGSLOCH führte, bezeichnete das Montagsloch die Stelle im Essener Grugapark, an der im März 1945 russische Zwangsarbeiter ermordet wurden.
Nendza lebt inzwischen in Aachen. Im neuen Band „Auffliegendes Gras“ heißt der erste Gedichtzyklus „Abraum“. Er ist eine überaus genaue poetische Vergegenwärtigung der verschwindenden Landschaften und Dörfer in den Gebieten des Rheinischen Braunkohletagebaus. Den „Indeschen Ozean“ gibt es noch nicht, er soll als künstlicher See erst entstehen, in der Nähe der Gemeinde Inden im Kreis Düren. Aber zu ahnen ist er schon: „Du/ spürst Ufernähe, / angespülte / Naherholung“.
Die „Rüttelverdichtung“, sagt das Lexikon der Geowissenschaften, ist eine Maßnahme zur Erhöhung der Festigkeit des Bodens mittels horizontaler, maschinell erzeugter Schwingungen. Für Jürgen Nendza ist das Wort ein readymade, vorgefundenes Sprachmaterial aus den Regionen des Tagebaus. Er greift es nicht einfach auf, er fügt ihm Bedeutungsschichten hinzu. „Und Rüttelverdichtung, / die Böschung / abgeflacht in Folgelandschaft: // ein Kind am Fenster / puzzelt das Dorf / mit einer Kirche.“ Das ist, in Abbreviatur, die Textbewegung. Sie führt durch die Abraumwelten, hin zu den aus der Bergaufsicht entlassenen Landschaften, die „Folgelandschaften“ heißen. Wer vom Ende des Abraum-Zyklus an den Anfang zurückkehrt, wird nicht mehr überlesen, dass in der Rüttelverdichtung die Dichtung steckt. Nendza hat aus dem Lexikonbegriff eine Chiffre für sein poetisches Verfahren gemacht.
Bodenhaftung zeichnet diesen Dichter seit je aus, immer schon war er Wortfeldbesteller, der sich die Offenheit der deutschen Sprache für die Bildung von Komposita zunutze machte. Das kommt ihm auch hier zugute, wo „Löschwasser, Werksgelände, / gebundener Staub“ den Blick anhalten lassen. „Bruchkante, dein Blick / rotiert, sucht Topografie. // und Kindesbeine noch: Resthäuserhorizont.“ So markiert ein neues Kompositum die Signatur verschwindender Ortschaften. Menschenleer sind sie in Zeiten der Migration nicht, noch intakte Häuser werden zu Flüchtlingsunterkünften: „Am Bordstein ein Junge / dreht Erde, dreht syrische Zeit / an einem Hinterrad / von BRUDER JOHN.“ Wieder die Signalwirkung der Versalien. Die deutsche Firma, die Fahrzeuge eines amerikanischen Landmaschinenherstellers im Spielzeugformat herstellt, heißt Bruder John.
„Und keine Festigkeit / der Oberfläche: Setzungsfließen / hinter der Stirn, das Nachzittern...“. Können Böden fließen? Ja, wenn das Grundwasser ansteigt. Zuvor lassen sich auf ihnen „Lesefunde“ machen, so nennen Archäologen nicht intendierte Grabungsfunde. Duschköpfe, Sprenkler gehören dazu, „Haarbürsten verfüllt mit / Staub: Kopfsouvenire.“
Im „Arboretum“, dem zweiten Abschnitt des Bandes, sind Silberweide und Espe, Schwarz-Pappel und Weißbirke, Stieleiche und Rotbuche, Feldulme und Eberesche, Rosskastanie und Esche versammelt. Statuarisch wirken sie nicht. Sie sind von Zweizeilern umgeben, die ineinander übergehen, sparsam punktiert. Eher Komma oder kein Zeichen als ein Punkt, eher mal ein Doppelpunkt, der auf Fortsetzung aus ist. Die Verse zeichnen nicht die Umrisse, die Physiognomie der Bäume nach, als müssten sie ein Bestimmungsbuch illustrieren, sondern erkunden ihre Lebenswelt. So sieht die Weißbirke aus: „Eine Frühe steckt in diesem Pioniergehölz: /ausschweifend ist sie in der Beweglichkeit / von Ast und Blatt geschraubt, ins zottelnde / mähnige Zweigen: ein Fächeln in Erleichterung / gehängt und kronenhoch verjüngt / zu Lichtgenuss und Phantasie...“.
Ein Langgedicht, aber nicht sehr lang, nur gut drei Druckseiten enthält der Abschnitt „Vor dem Nachtquartier“. Es entfaltet eine Situation, den Blick eines Paares in den Himmel bei Abendlicht, die Schwelle zur Erzählung überschreitet es nicht. Eine Starenwolke fliegt vorbei, ein „Luftschiff aus Rauschen“, das in der Wahrnehmung nicht aufgeht, sondern Gedankenflüge auslöst. Erst im letzten Abschnitt des Bandes, „Kretisches Gelände“, taucht die Titelwendung auf. Es herrscht Windstille im Café Alyggos in der Mirabellobucht, als der Gast geht: „Du stehst auf. Spatzen stauben hoch, / Gedanken an auffliegendes Gras.“ Mag sein, es ist die Stunde des Pan. Denn es gibt bei Jürgen Nendza auch die diskrete Anwesenheit der Mythologie. Sie trägt dazu bei, dass sich dieser schmale Band nur schwer auslesen lässt.
LOTHAR MÜLLER
„Lesefunde“ nennen
Archäologen zufällige
Grabungsfunde
Jürgen Nendza:
Auffliegendes Gras.
Gedichte.
Verlag Poetenladen,
Leipzig 2022.
72 Seiten, 19 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Naherholung
Jürgen Nendzas Gedichte
zum Ende des Tagebaus
Auf den ersten Blick sieht der „INDESCHE OZEAN“ aus wie ein Druckfehler. Aber wenn der Lyriker Jürgen Nendza, geboren 1957 in Essen, ein Wort in Versalien setzt, ist es meist ein Fundstück aus der Wirklichkeit. So war es etwa in seinem letzten Band „picknick“ (2017), als er im „Kopfalbum“ auf das Ruhrgebiet seiner Kindheit zurückblickte. Wenn der Schichtverlauf der Flöze in Richtung MONTAGSLOCH führte, bezeichnete das Montagsloch die Stelle im Essener Grugapark, an der im März 1945 russische Zwangsarbeiter ermordet wurden.
Nendza lebt inzwischen in Aachen. Im neuen Band „Auffliegendes Gras“ heißt der erste Gedichtzyklus „Abraum“. Er ist eine überaus genaue poetische Vergegenwärtigung der verschwindenden Landschaften und Dörfer in den Gebieten des Rheinischen Braunkohletagebaus. Den „Indeschen Ozean“ gibt es noch nicht, er soll als künstlicher See erst entstehen, in der Nähe der Gemeinde Inden im Kreis Düren. Aber zu ahnen ist er schon: „Du/ spürst Ufernähe, / angespülte / Naherholung“.
Die „Rüttelverdichtung“, sagt das Lexikon der Geowissenschaften, ist eine Maßnahme zur Erhöhung der Festigkeit des Bodens mittels horizontaler, maschinell erzeugter Schwingungen. Für Jürgen Nendza ist das Wort ein readymade, vorgefundenes Sprachmaterial aus den Regionen des Tagebaus. Er greift es nicht einfach auf, er fügt ihm Bedeutungsschichten hinzu. „Und Rüttelverdichtung, / die Böschung / abgeflacht in Folgelandschaft: // ein Kind am Fenster / puzzelt das Dorf / mit einer Kirche.“ Das ist, in Abbreviatur, die Textbewegung. Sie führt durch die Abraumwelten, hin zu den aus der Bergaufsicht entlassenen Landschaften, die „Folgelandschaften“ heißen. Wer vom Ende des Abraum-Zyklus an den Anfang zurückkehrt, wird nicht mehr überlesen, dass in der Rüttelverdichtung die Dichtung steckt. Nendza hat aus dem Lexikonbegriff eine Chiffre für sein poetisches Verfahren gemacht.
Bodenhaftung zeichnet diesen Dichter seit je aus, immer schon war er Wortfeldbesteller, der sich die Offenheit der deutschen Sprache für die Bildung von Komposita zunutze machte. Das kommt ihm auch hier zugute, wo „Löschwasser, Werksgelände, / gebundener Staub“ den Blick anhalten lassen. „Bruchkante, dein Blick / rotiert, sucht Topografie. // und Kindesbeine noch: Resthäuserhorizont.“ So markiert ein neues Kompositum die Signatur verschwindender Ortschaften. Menschenleer sind sie in Zeiten der Migration nicht, noch intakte Häuser werden zu Flüchtlingsunterkünften: „Am Bordstein ein Junge / dreht Erde, dreht syrische Zeit / an einem Hinterrad / von BRUDER JOHN.“ Wieder die Signalwirkung der Versalien. Die deutsche Firma, die Fahrzeuge eines amerikanischen Landmaschinenherstellers im Spielzeugformat herstellt, heißt Bruder John.
„Und keine Festigkeit / der Oberfläche: Setzungsfließen / hinter der Stirn, das Nachzittern...“. Können Böden fließen? Ja, wenn das Grundwasser ansteigt. Zuvor lassen sich auf ihnen „Lesefunde“ machen, so nennen Archäologen nicht intendierte Grabungsfunde. Duschköpfe, Sprenkler gehören dazu, „Haarbürsten verfüllt mit / Staub: Kopfsouvenire.“
Im „Arboretum“, dem zweiten Abschnitt des Bandes, sind Silberweide und Espe, Schwarz-Pappel und Weißbirke, Stieleiche und Rotbuche, Feldulme und Eberesche, Rosskastanie und Esche versammelt. Statuarisch wirken sie nicht. Sie sind von Zweizeilern umgeben, die ineinander übergehen, sparsam punktiert. Eher Komma oder kein Zeichen als ein Punkt, eher mal ein Doppelpunkt, der auf Fortsetzung aus ist. Die Verse zeichnen nicht die Umrisse, die Physiognomie der Bäume nach, als müssten sie ein Bestimmungsbuch illustrieren, sondern erkunden ihre Lebenswelt. So sieht die Weißbirke aus: „Eine Frühe steckt in diesem Pioniergehölz: /ausschweifend ist sie in der Beweglichkeit / von Ast und Blatt geschraubt, ins zottelnde / mähnige Zweigen: ein Fächeln in Erleichterung / gehängt und kronenhoch verjüngt / zu Lichtgenuss und Phantasie...“.
Ein Langgedicht, aber nicht sehr lang, nur gut drei Druckseiten enthält der Abschnitt „Vor dem Nachtquartier“. Es entfaltet eine Situation, den Blick eines Paares in den Himmel bei Abendlicht, die Schwelle zur Erzählung überschreitet es nicht. Eine Starenwolke fliegt vorbei, ein „Luftschiff aus Rauschen“, das in der Wahrnehmung nicht aufgeht, sondern Gedankenflüge auslöst. Erst im letzten Abschnitt des Bandes, „Kretisches Gelände“, taucht die Titelwendung auf. Es herrscht Windstille im Café Alyggos in der Mirabellobucht, als der Gast geht: „Du stehst auf. Spatzen stauben hoch, / Gedanken an auffliegendes Gras.“ Mag sein, es ist die Stunde des Pan. Denn es gibt bei Jürgen Nendza auch die diskrete Anwesenheit der Mythologie. Sie trägt dazu bei, dass sich dieser schmale Band nur schwer auslesen lässt.
LOTHAR MÜLLER
„Lesefunde“ nennen
Archäologen zufällige
Grabungsfunde
Jürgen Nendza:
Auffliegendes Gras.
Gedichte.
Verlag Poetenladen,
Leipzig 2022.
72 Seiten, 19 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Harald Hartung gefällt gleich der erste Zyklus aus acht Dreizeilern am besten im neuen Gedichtband des Naturlyrikers Jürgen Nendza. Da widmet sich der Dichter laut Hartung dem rheinischen Tagebau und seinen Abraumhalden und "evoziert" das Malmen der Bagger. Trotz Pathos macht das dem Rezensenten Spaß. Konventioneller dagegen laut Hartung die weiteren Zyklen im Band über Bäume und "Kretisches Gelände". Da hätte er sich mehr "ekstatischen Kranichtanz" gewünscht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.06.2022Sag: Totenstille
Jürgen Nendzas Gedichtband "Auffliegendes Gras"
Im Strom der gegenwärtigen Natur- und Landschaftslyrik ist Jürgen Nendza, Jahrgang 1957, aus Essen stammend und in Aachen lebend, einer der produktivsten Autoren. Seit seinem Debüt von 1992 hat er etwa ein Dutzend Gedichtbände publiziert, darunter Titel wie "Wir treffen uns im Apfel", "Mikadogeäst" oder "Die Gelegenheit der Wiese". Diese Linie setzt "Auffliegendes Gras" fort, sein neuer Band, der aus fünf Zyklen in freien Versen komponiert ist.
"Abraum", der erste Zyklus, ist, um es gleich zu sagen, der interessanteste und auch gelungenste Zyklus des Ganzen. Acht Dreizeiler zeichnen das rheinische Braunkohlerevier mit seiner vom Menschen verwüsteten Landschaft, den Neuansiedelungen der abgebaggerten Dörfer und der Etablierung eines Naherholungsgebiets mit künstlichem See. Nendza bildet sprachlich Prozesse nach wie "Rüttelverdichtung" oder "Revierverluste", er evoziert die technoide "Säbelzahnkatze" und evoziert "das Malmen aus der Tiefe". Die Bilanz ist negativ, der Zyklus endet elegisch: "Du spürst Ufernähe / angespülte / Naherholung, Sag: / INDESCHER OZEAN, / sag: Totenstille. / ein Fortblumen der Totenstille." Pathos mischt sich mit Groteske. Der spaßige Indesche Ozean geht laut Anmerkung auf Inden zurück, einen ausgekohlten Tagebau. Nendza bleibt kühl und unpersönlich, er ignoriert die politisierten Hambacher-Forst-Proteste.
Deutlich konventioneller, ein Gegenstück der versehrten Abraumwelt, ist der Zyklus "Arboretum". Er enthält zehn Baumgedichte, von Silberweide bis Esche. Von der Stieleiche heißt es: "skulpturales Laub und diese Rede / vom Wärmecharakter im Denken". Nendza benutzt ein Zitat von Joseph Beuys, um den Wärmecharakter des Denkens zu belegen. Doch wenn er bei der Espe das Zittern des Laubs mit dem Denken in Zusammenhang bringt, ist die bekannte Gedankenblässe nicht fern: "Eine Empfindlichkeit am Wegrand, / die sich ins Zittern legt schon / bei geringstem Denkanstoß." Der Versuch, Naturelemente mit Ideen zu durchdringen, gelingt freilich nur, wenn die Beobachtung sich nah an die Dinge hält.
Manches bleibt esoterisch. Da muss uns eine Anmerkung jenes Licht aufstecken, das wir lieber aus dem Gedicht selbst empfangen hätten. Im Schlusszyklus "Kretisches Gelände" gibt es die etwas vage Zeile "Gedanken an auffliegendes Gras", die zum Titel des Buches führte. Man lese aber die Anmerkung dazu. Sie erwähnt den altgriechischen Kranichtanz, der darauf zurückgeht, dass die Kraniche bei ihren Tänzen Gras aus dem Boden rupfen und in die Luft werfen. Ein poetisches Potential, als Anmerkung versteckt. Dieser ekstatische Kranichtanz fehlt uns. HARALD HARTUNG
Jürgen Nendza: "Auffliegendes Gras." Gedichte.
Poetenladen Verlag, Leipzig 2022. 72 S., geb., 18,80 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jürgen Nendzas Gedichtband "Auffliegendes Gras"
Im Strom der gegenwärtigen Natur- und Landschaftslyrik ist Jürgen Nendza, Jahrgang 1957, aus Essen stammend und in Aachen lebend, einer der produktivsten Autoren. Seit seinem Debüt von 1992 hat er etwa ein Dutzend Gedichtbände publiziert, darunter Titel wie "Wir treffen uns im Apfel", "Mikadogeäst" oder "Die Gelegenheit der Wiese". Diese Linie setzt "Auffliegendes Gras" fort, sein neuer Band, der aus fünf Zyklen in freien Versen komponiert ist.
"Abraum", der erste Zyklus, ist, um es gleich zu sagen, der interessanteste und auch gelungenste Zyklus des Ganzen. Acht Dreizeiler zeichnen das rheinische Braunkohlerevier mit seiner vom Menschen verwüsteten Landschaft, den Neuansiedelungen der abgebaggerten Dörfer und der Etablierung eines Naherholungsgebiets mit künstlichem See. Nendza bildet sprachlich Prozesse nach wie "Rüttelverdichtung" oder "Revierverluste", er evoziert die technoide "Säbelzahnkatze" und evoziert "das Malmen aus der Tiefe". Die Bilanz ist negativ, der Zyklus endet elegisch: "Du spürst Ufernähe / angespülte / Naherholung, Sag: / INDESCHER OZEAN, / sag: Totenstille. / ein Fortblumen der Totenstille." Pathos mischt sich mit Groteske. Der spaßige Indesche Ozean geht laut Anmerkung auf Inden zurück, einen ausgekohlten Tagebau. Nendza bleibt kühl und unpersönlich, er ignoriert die politisierten Hambacher-Forst-Proteste.
Deutlich konventioneller, ein Gegenstück der versehrten Abraumwelt, ist der Zyklus "Arboretum". Er enthält zehn Baumgedichte, von Silberweide bis Esche. Von der Stieleiche heißt es: "skulpturales Laub und diese Rede / vom Wärmecharakter im Denken". Nendza benutzt ein Zitat von Joseph Beuys, um den Wärmecharakter des Denkens zu belegen. Doch wenn er bei der Espe das Zittern des Laubs mit dem Denken in Zusammenhang bringt, ist die bekannte Gedankenblässe nicht fern: "Eine Empfindlichkeit am Wegrand, / die sich ins Zittern legt schon / bei geringstem Denkanstoß." Der Versuch, Naturelemente mit Ideen zu durchdringen, gelingt freilich nur, wenn die Beobachtung sich nah an die Dinge hält.
Manches bleibt esoterisch. Da muss uns eine Anmerkung jenes Licht aufstecken, das wir lieber aus dem Gedicht selbst empfangen hätten. Im Schlusszyklus "Kretisches Gelände" gibt es die etwas vage Zeile "Gedanken an auffliegendes Gras", die zum Titel des Buches führte. Man lese aber die Anmerkung dazu. Sie erwähnt den altgriechischen Kranichtanz, der darauf zurückgeht, dass die Kraniche bei ihren Tänzen Gras aus dem Boden rupfen und in die Luft werfen. Ein poetisches Potential, als Anmerkung versteckt. Dieser ekstatische Kranichtanz fehlt uns. HARALD HARTUNG
Jürgen Nendza: "Auffliegendes Gras." Gedichte.
Poetenladen Verlag, Leipzig 2022. 72 S., geb., 18,80 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main