Stadt-Kultur-Lesen während eines Jahres in Berlin: Notizen einer WeltbürgerinSchon auf der ersten Seite dieses Berlin-Journals ist die Stadt gesättigt von Geschichte und ihren Schrecken - und von Gegenwart, der Gegenwart der ganzen Welt. Ilma Rakusa bewegt sich hellwach und offen durch die unterschiedlichen Quartiere und 'Zeiten' Berlins, zwischen den Erinnerungsstätten nationalsozialistischen Terrors und den Galerien, Kinos, Theatern und Cafés der Gegenwart, zwischen Schriftstellern aus Japan, dem Libanon und der Türkei und Bibliotheken, Hinterhöfen und Parks. Als Fellow des Wissenschaftskollegs weilt sie von Oktober 2010 bis Juli 2011 vor Ort und lernt, selber eine Autorin mit vielfältigsten Wurzeln und Sprachen, Künstler und Intellektuelle unterschiedlicher Herkunft kennen.Ein unvergleichliches Jahr in einer unvergleichlichen Stadt. Mit ihrer nervösen Prosa hält Ilma Rakusa die Wahrnehmungen dieser Tage fest: die Katastrophen, die die Nachrichten ihr zutragen (vom Giftschlammdesaster in Kolontár bis Fukushima), die sozialen Verwerfungen, mit denen sie auf Schritt und Tritt konfrontiert ist, die Kulturereignisse, die Lektüren, vor allem die zahllosen Begegnungen mit Kollegen und Kolleginnen wie Yoko Tawada, Elias Khoury, Carlo Ginzburg oder Liao Yiwu. Ein ebenso sensibles wie dichtes Porträt Berlins, dieser Metropole der Unruhe und einer der phantasievollsten Weltstädte unserer Zeit.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Alexandra Stäheli zeigt sich sehr angetan von Ilma Rakusas Berlin-Journal. Sie ist der Autorin, die von zwischen Oktober 2010 und Juli 2011 als Stipendiatin Gast des Wissenschaftskollegs war, gern auf ihren Berlin-Spaziergängen gefolgt. Rakusas feine Beobachtungen der Brüche und Widersprüche der Stadt, ihre Begegnungen mit Fremden und Freunden haben sie sichtlich fasziniert. Besonders hebt sie die Empathie und Poesie der Beschreibungen hervor, die ein treffendes Bild des Gesehenen vermitteln, ohne es mit einer "abschließenden Deutung" zu fixieren. Das Fazit der Rezensentin: eine wunderbare Hommage an Berlin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.06.2013Tagebuch einer Flaneuse
Einsam in den Dünen der Großstadt: Ilma Rakusas Berlin-Journal
"Ich lese die Stadt wie ein Palimpsest, mit all ihren Leer- und Bruchstellen." Ilma Rakusas Berlin ist ein ganz eigenes Biotop, funkelnd und beseelt vom Odem einer Dichterin, die die Alltäglichkeit der Großstadt in stilvolle Wortmalerei kleidet. Vor allem ist es der Blick der Fremden, die für die einjährige Berufung zum Fellow am Wissenschaftskolleg den Blick der unvoreingenommenen Außenseiterin mitbringt - eine Perspektive, die den Werken der 1946 in der Slowakei geborenen Chamisso-Preisträgerin schon seit jeher innewohnt. Sie bekennt: "In Wirklichkeit aber stehe ich draußen, unzugehörig. Mein Lebensgefühl." Als hätte es die unzähligen Berlin-Bücher niemals gegeben, gelingt es Rakusa mit ihren Tagebuchnotaten "Aufgerissene Blicke", eine längst zur Langeweile geronnene Schwärmertopographie aus der Position der Immigrantin neu zu erschließen.
Die Skizzen reichen von den Niederungen des Berliner Straßenlebens bis zu findigen Kommentaren zur Hochkultur. Besonders die Spontaneindrücke der Flaneuse bieten das dichte Stimmungsbild einer Stadt, die ständig in der Schwebe zu sein scheint. "Im "Dünen-Berlin, prekär und ständig im Werden", trifft sie sich mit Bekannten in Cafés, plaudert abseits des Türkenmarkts über die muslimische Szene, erzählt von einem anregenden Gulaschessen mit Péter Esterházy und sinniert über die Melancholie der Veränderung in der Metropole.
Sie kann sich den Wahrnehmungsströmen kaum entziehen, Sommer- und Wintertage in der Stadt an der Spree ergreifen von ihr Besitz: "Die Großstadt zerrt an Aufmerksamkeit, stößt und piekt. Impulse von allen Seiten, permanentes floating." Was sie beobachtet, ergießt sich in Sprache. Berlin ist ein Kraftfeld, das sie unablässig zum Schreiben inspiriert. Zum Beispiel über Ausstellungen und Theateraufführungen: Während Robert Wilsons Inszenierung von Frank Wedekinds "Lulu", ein "poppiges Schicksalstheater", sie zum Staunen veranlasst, versetzen der Besuch der Wannsee-Villa und die dortige Dokumentation der "Endlösung der Judenfrage" die Autorin in nachdenkliches Schweigen. An anderer Stelle zeigt Rakusa sich durch die Fotografien von André Kertész im Gropius-Bau hingerissen und besingt die darin Gestalt gewordene "Apotheose der Einsamkeit".
Unterdessen bleibt Berlin - trotz mancher Klischees, die auch Rakusa unterlaufen, wenn sie beispielsweise immer wieder auf die ungemeine Rastlosigkeit und Dynamik "einer Stadt, die immerzu unterwegs" ist, zu sprechen kommt - nicht die Stadt, die es ist. Mit funkelnder Ingeniosität poetisiert sie Berlin, bis daraus ein facettenreiches Kunstwerk hervorgeht, das gerade im Bewusstsein seiner inneren Widersprüchlichkeit eine stilvolle Aura entfaltet. Dafür gilt: "Berlin und Schönheit: das ist zweierlei. Aber erstaunlich, mit wie viel Phantasie und Witz aus dem Unschönen, Faden, Verwahrlosten Freundlichkeit hervorgezaubert wird."
Dennoch formuliert die Schriftstellerin nicht nur eine schwungvolle Eloge auf eine Weltstadt; allem voran ist ihr Diarium auch Kommentar zur Zeitgeschichte. Immer wieder durchdringen Nachrichten und Schreckensmeldungen die Notizen zum Tagesgeschehen. Die Ergreifung des serbischen Kriegsverbrechers Ratko Mladic ist darin ebenso präsent wie die Liquidierung Osama Bin Ladins, die Rakusa leichtfüßig mit ironischem Wimpernschlag streift: "Ein Posten weniger auf der ,To do'-Dringlichkeitsliste." Dass dem aufregenden Großstadtflair dabei zugleich Fragilität innewohnt, macht insbesondere die Katastrophe von Fukushima deutlich. Wie ein hartnäckiger Widergänger geistert das Unglück durch den gesamten Band, trübt alle Gegenwart Berlins ein, ruft Skepsis bei der Autorin hervor: "Fast unverschämt, dieser Himmel, dieses Blau. In der feinen Winklerstraße überkommt mich ein Gefühl akuter Fassungslosigkeit."
Berlin - das wird unter all den Schleiern und Schichten, in die Rakusa die Stadt so eindrucksvoll-poetisch kleidet, sichtbar - ist eben eine Stadt von Welt, die alles in sich aufnimmt. In ihr wirkt das Nationale wie das Globale, das Bodenständige wie das Verträumte. Ein solch freigeistiges Werk kann nur von einer Kosmopolitin stammen, die die Welt nicht nur kennt, sondern auch durchdacht hat. Man glaubt dieser Sprachkartographie der Ilma Rakusa, wenn sie begeistert pointiert: "Berlin ist cool, gerade im ehemaligen Osten. Offenheit statt Phobie. Experimentierfreude, work in progress. Na, jetzt gerate ich gleich ins Schwärmen." Na und? Dem Leser geht es schließlich auch nicht anders.
BJÖRN HAYER
Ilma Rakusa: "Aufgerissene Blicke". Berlin-Journal.
Literaturverlag Droschl, Wien 2013. 116 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einsam in den Dünen der Großstadt: Ilma Rakusas Berlin-Journal
"Ich lese die Stadt wie ein Palimpsest, mit all ihren Leer- und Bruchstellen." Ilma Rakusas Berlin ist ein ganz eigenes Biotop, funkelnd und beseelt vom Odem einer Dichterin, die die Alltäglichkeit der Großstadt in stilvolle Wortmalerei kleidet. Vor allem ist es der Blick der Fremden, die für die einjährige Berufung zum Fellow am Wissenschaftskolleg den Blick der unvoreingenommenen Außenseiterin mitbringt - eine Perspektive, die den Werken der 1946 in der Slowakei geborenen Chamisso-Preisträgerin schon seit jeher innewohnt. Sie bekennt: "In Wirklichkeit aber stehe ich draußen, unzugehörig. Mein Lebensgefühl." Als hätte es die unzähligen Berlin-Bücher niemals gegeben, gelingt es Rakusa mit ihren Tagebuchnotaten "Aufgerissene Blicke", eine längst zur Langeweile geronnene Schwärmertopographie aus der Position der Immigrantin neu zu erschließen.
Die Skizzen reichen von den Niederungen des Berliner Straßenlebens bis zu findigen Kommentaren zur Hochkultur. Besonders die Spontaneindrücke der Flaneuse bieten das dichte Stimmungsbild einer Stadt, die ständig in der Schwebe zu sein scheint. "Im "Dünen-Berlin, prekär und ständig im Werden", trifft sie sich mit Bekannten in Cafés, plaudert abseits des Türkenmarkts über die muslimische Szene, erzählt von einem anregenden Gulaschessen mit Péter Esterházy und sinniert über die Melancholie der Veränderung in der Metropole.
Sie kann sich den Wahrnehmungsströmen kaum entziehen, Sommer- und Wintertage in der Stadt an der Spree ergreifen von ihr Besitz: "Die Großstadt zerrt an Aufmerksamkeit, stößt und piekt. Impulse von allen Seiten, permanentes floating." Was sie beobachtet, ergießt sich in Sprache. Berlin ist ein Kraftfeld, das sie unablässig zum Schreiben inspiriert. Zum Beispiel über Ausstellungen und Theateraufführungen: Während Robert Wilsons Inszenierung von Frank Wedekinds "Lulu", ein "poppiges Schicksalstheater", sie zum Staunen veranlasst, versetzen der Besuch der Wannsee-Villa und die dortige Dokumentation der "Endlösung der Judenfrage" die Autorin in nachdenkliches Schweigen. An anderer Stelle zeigt Rakusa sich durch die Fotografien von André Kertész im Gropius-Bau hingerissen und besingt die darin Gestalt gewordene "Apotheose der Einsamkeit".
Unterdessen bleibt Berlin - trotz mancher Klischees, die auch Rakusa unterlaufen, wenn sie beispielsweise immer wieder auf die ungemeine Rastlosigkeit und Dynamik "einer Stadt, die immerzu unterwegs" ist, zu sprechen kommt - nicht die Stadt, die es ist. Mit funkelnder Ingeniosität poetisiert sie Berlin, bis daraus ein facettenreiches Kunstwerk hervorgeht, das gerade im Bewusstsein seiner inneren Widersprüchlichkeit eine stilvolle Aura entfaltet. Dafür gilt: "Berlin und Schönheit: das ist zweierlei. Aber erstaunlich, mit wie viel Phantasie und Witz aus dem Unschönen, Faden, Verwahrlosten Freundlichkeit hervorgezaubert wird."
Dennoch formuliert die Schriftstellerin nicht nur eine schwungvolle Eloge auf eine Weltstadt; allem voran ist ihr Diarium auch Kommentar zur Zeitgeschichte. Immer wieder durchdringen Nachrichten und Schreckensmeldungen die Notizen zum Tagesgeschehen. Die Ergreifung des serbischen Kriegsverbrechers Ratko Mladic ist darin ebenso präsent wie die Liquidierung Osama Bin Ladins, die Rakusa leichtfüßig mit ironischem Wimpernschlag streift: "Ein Posten weniger auf der ,To do'-Dringlichkeitsliste." Dass dem aufregenden Großstadtflair dabei zugleich Fragilität innewohnt, macht insbesondere die Katastrophe von Fukushima deutlich. Wie ein hartnäckiger Widergänger geistert das Unglück durch den gesamten Band, trübt alle Gegenwart Berlins ein, ruft Skepsis bei der Autorin hervor: "Fast unverschämt, dieser Himmel, dieses Blau. In der feinen Winklerstraße überkommt mich ein Gefühl akuter Fassungslosigkeit."
Berlin - das wird unter all den Schleiern und Schichten, in die Rakusa die Stadt so eindrucksvoll-poetisch kleidet, sichtbar - ist eben eine Stadt von Welt, die alles in sich aufnimmt. In ihr wirkt das Nationale wie das Globale, das Bodenständige wie das Verträumte. Ein solch freigeistiges Werk kann nur von einer Kosmopolitin stammen, die die Welt nicht nur kennt, sondern auch durchdacht hat. Man glaubt dieser Sprachkartographie der Ilma Rakusa, wenn sie begeistert pointiert: "Berlin ist cool, gerade im ehemaligen Osten. Offenheit statt Phobie. Experimentierfreude, work in progress. Na, jetzt gerate ich gleich ins Schwärmen." Na und? Dem Leser geht es schließlich auch nicht anders.
BJÖRN HAYER
Ilma Rakusa: "Aufgerissene Blicke". Berlin-Journal.
Literaturverlag Droschl, Wien 2013. 116 S., geb., 16,- [Euro].
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