Das Gesundheitsamt der Stadt Frankfurt ist eines der größten des Landes. Bei mehr als 700.000 Einwohnern und Besuchern aus aller Welt sind die Aufgaben rund um die Gesundheit der Bürger vielfältig. Sie reichen von Einschulungsuntersuchungen oder Humanitären Sprechstunden bis hin zur Hygieneüberwachung. Entstanden ist das öffentliche Gesundheitswesen in Frankfurt im 14. Jahrhundert als Ein-Mann-Betrieb. Die Gründung des Amtes erfolgte 1917, mitten im Ersten Weltkrieg.Immer wieder musste sich die Behörde seitdem neuen Herausforderungen stellen wie Umweltgiften oder dem Auftreten von AIDS.Diese Publikation beschreibt die Geschichte des Gesundheitsamtes von der Stadthygiene bis zum Kampf gegen multiresistente Keime. Es zeigt die Arbeit der anerkannten Fachinstitution und wirft einen Blick in die Zukunft.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.04.2017Akribische Vollstrecker des Rassenwahns
100 Jahre Gesundheitsamt: Dazu erscheint heute ein Buch, das unbequeme Wahrheiten offenlegt. Denn in der NS-Zeit hatte sich das Amt die "Sicherstellung der Rassenhygiene" zur Aufgabe gemacht.
Von Marie Lisa Kehler
Auguste war frisch verheiratet, jung und körperlich gesund. Gemeinsam mit ihrem Mann wollte sie eine Familie gründen. Auf eigenen Wunsch ließ sie sich in den Jahren des Zweiten Weltkrieges in die Kuranstalt Hohemark einweisen, um sich dort von einer seelischen Erkrankung zu erholen. Doch dann wurde bei ihr Schizophrenie diagnostiziert. Eine Krankheit, die gleichzeitig ein Urteil war. Denn Auguste sollte sich einer Zwangssterilisation unterziehen. Im "Dritten Reich" wurde das Ziel verfolgt, eine "gesunde Rasse" zu schaffen - ohne Rücksicht auf die Menschenwürde.
Das Schicksal von Auguste ist nur eines von vielen, das die Autorin Sabine Börchers in dem Buch "Aufklärung - Vorsorge - Schutz. 100 Jahre Gesundheitsamt" schildert. Der Fall der jungen Frau ließ die 50 Jahre alte Journalistin und Buchautorin nicht mehr los. Augustes Krankenakte war Börchers während der Recherchearbeit im Institut für Stadtgeschichte in die Hände gefallen. Das Dokument ist eines von rund 13 000, die im Keller des Instituts lagern und die Verbrechen der NS-Zeit akribisch festhalten.
In den Unterlagen ist zu lesen, dass Augustes Ehemann Protestbriefe an das Gesundheitsamt schrieb. Die Zwangssterilisation wurde ausgesetzt - dafür musste Auguste in der geschlossenen Klinik bleiben, in der sie fünf Jahre später starb.
René Gottschalk, Leiter des Gesundheitsamtes, weiß, dass das Buch die Aufarbeitung des Geschehens nur anstoßen kann. Er stellt ein wissenschaftliches Projekt in Aussicht, das die Rolle des Gesundheitsamtes während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit lückenlos dokumentieren soll. Auch Gesundheitsdezernent Stefan Majer (Die Grünen) hält das für nötig: "Es ist vieles noch nicht erforscht. Erst wenn wir uns präzise erinnern, haben wir eine Chance zu lernen." Einen Anfang hat Sabine Börchers durch die Jubiläumsschrift gemacht.
1933 wurden 58 städtische Bedienstete des Gesundheitsamtes entlassen und durch "regimefreundliches Personal" und frisch examinierte nationalsozialistische Ärzte ersetzt. Neuer Leiter wurde Werner Fischer-Defoy, zuvor Stadtmedizinalrat. "Das Gesundheitswesen ist eine der Säulen, auf denen sich der Aufbau des Dritten Reiches bezieht", wird er in einem Bericht aus der "Frankfurter Wochenschau" zitiert. Die Aufgabe der Fürsorge wurde durch den Auftrag zur "Sicherstellung der Rassenhygiene" abgelöst.
Noch im Jahr der Machtergreifung wurde die Abteilung für "Erb- und Rassenpflege" errichtet. Ein "monströses Projekt", wie Börchers schreibt. Die "Fortpflanzung der schwer erblich belasteten Personen" sollte verhindert und die der "wertvollen erbgesunden Menschen" unterstützt werden. Dafür wurde die Anlage einer Erbkartei und eines Erbarchivs vorangetrieben. Beides betreute der Mediziner Kurt Gramm. Er setzte sich maßgeblich ein für die "Durchführung der völkischen Aufartung, wie sie vom Führer erstrebt wird".
Das bedeutete erst einmal eines: Daten sammeln. Und zwar aus allen Bereichen, die den Ärzten zugänglich gemacht wurden. Waren 1933 erst 30 000 Karteikarten und 60 000 Akten angelegt, waren es 1943 schon 420 000 Karten und 330 000 Patientenakten. Sie enthielten unter anderem Informationen zur Krankengeschichte, Schulabgangszeugnisse und Scheidungsurteile. Zwei Drittel der Frankfurter Bevölkerung wurden durch dieses System erfasst. Die Stadt konnte damals auf eine der größten Erbkarteien Deutschlands zurückgreifen. "Die persönlichen Angaben wurden als Grundlage für die unterschiedlichsten städtischen Entscheidungen genutzt - egal ob nun jemand ein Kind adoptieren, ein Stelle im Städtischen Dienst antreten oder heiraten wollte", schreibt Börchers.
1935 wurde die staatliche Kontrolle noch erweitert. Wer heiraten wollte, musste zur "Eheberatungsstelle". Denn das Gesetz zum "Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" schrieb den heiratswilligen Paaren vor, einen Beweis zu erbringen, dass keiner der Partner unter einer ansteckenden Krankheit oder geistigen Störung leidet. Ausgestellt wurde dieses Ehetauglichkeitszeugnis vom Gesundheitsamt.
Fast jedes fünfte Frankfurter Paar galt nach einer Untersuchung der Behörden als "ungeeignet" für die Ehe. Wurde ein Paar abgelehnt, trennte sich aber nicht, war eine Verfolgung durch die Gesundheitsbehörde keine Seltenheit. So folgte häufig auf die Ablehnung des Ehegesuchs noch eine Anzeige, die ein "Verfahren zur Unfruchtbarmachung" einleitete. Paare wurden durch eine angeordnete berufliche Versetzung auseinandergerissen oder bekamen vom Gesundheitsamt eine "verhandlungsschriftliche Verweisung", den Geschlechtsverkehr zu unterlassen.
Auch war die Zwangssterilisation im Fall einer Erbkrankheit schon seit 1934 legalisiert. Anträge konnten Ärzte, Pfleger, Beamte und gesetzliche Vertreter stellen. Die Anzeigen trafen Menschen aller Bevölkerungsgruppen, Glaubensrichtungen und Altersklassen. Das Institut für Stadtgeschichte hat heute 3338 personenbezogene Akten zu Zwangssterilisationen in seinem Bestand. In 73 Prozent der Fälle wurde die Zwangssterilisation nachweislich vorgenommen. Die Zahl der angeordneten, aber nicht durchgeführten Sterilisationen, so die Vermutung, dürfte weitaus höher liegen. "Mir war zum Anfang meiner Recherche nicht bewusst, mit welcher Akribie und auf welche perfide Art versucht wurde, Daten zu sammeln", sagt Börchers.
Sie hat während ihrer einjährigen Recherchearbeit "hinter die Fassaden" der Behörde geblickt und dabei nicht nur die Vergangenheit thematisiert, sondern auch einen Blick in die Zukunft gewagt. Wie wird es aussehen, das Gesundheitsamt von morgen? Welche Aufgaben, welche Herausforderungen kommen auf die aktuell mehr als 200 Mitarbeiter zu? Wie weit ist der Wandel von der kontrollierenden Behörde zum städtischen Dienstleister schon vorangeschritten? Das Buch liefert Antworten - und wirft weitere Fragen auf. Besonders zur "unrühmlichen Rolle des Amtes in der antisemitischen und rassistischen Zeit des Nationalsozialismus", wie es Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) ausdrückt. Fragen, die beantwortet werden müssen.
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100 Jahre Gesundheitsamt: Dazu erscheint heute ein Buch, das unbequeme Wahrheiten offenlegt. Denn in der NS-Zeit hatte sich das Amt die "Sicherstellung der Rassenhygiene" zur Aufgabe gemacht.
Von Marie Lisa Kehler
Auguste war frisch verheiratet, jung und körperlich gesund. Gemeinsam mit ihrem Mann wollte sie eine Familie gründen. Auf eigenen Wunsch ließ sie sich in den Jahren des Zweiten Weltkrieges in die Kuranstalt Hohemark einweisen, um sich dort von einer seelischen Erkrankung zu erholen. Doch dann wurde bei ihr Schizophrenie diagnostiziert. Eine Krankheit, die gleichzeitig ein Urteil war. Denn Auguste sollte sich einer Zwangssterilisation unterziehen. Im "Dritten Reich" wurde das Ziel verfolgt, eine "gesunde Rasse" zu schaffen - ohne Rücksicht auf die Menschenwürde.
Das Schicksal von Auguste ist nur eines von vielen, das die Autorin Sabine Börchers in dem Buch "Aufklärung - Vorsorge - Schutz. 100 Jahre Gesundheitsamt" schildert. Der Fall der jungen Frau ließ die 50 Jahre alte Journalistin und Buchautorin nicht mehr los. Augustes Krankenakte war Börchers während der Recherchearbeit im Institut für Stadtgeschichte in die Hände gefallen. Das Dokument ist eines von rund 13 000, die im Keller des Instituts lagern und die Verbrechen der NS-Zeit akribisch festhalten.
In den Unterlagen ist zu lesen, dass Augustes Ehemann Protestbriefe an das Gesundheitsamt schrieb. Die Zwangssterilisation wurde ausgesetzt - dafür musste Auguste in der geschlossenen Klinik bleiben, in der sie fünf Jahre später starb.
René Gottschalk, Leiter des Gesundheitsamtes, weiß, dass das Buch die Aufarbeitung des Geschehens nur anstoßen kann. Er stellt ein wissenschaftliches Projekt in Aussicht, das die Rolle des Gesundheitsamtes während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit lückenlos dokumentieren soll. Auch Gesundheitsdezernent Stefan Majer (Die Grünen) hält das für nötig: "Es ist vieles noch nicht erforscht. Erst wenn wir uns präzise erinnern, haben wir eine Chance zu lernen." Einen Anfang hat Sabine Börchers durch die Jubiläumsschrift gemacht.
1933 wurden 58 städtische Bedienstete des Gesundheitsamtes entlassen und durch "regimefreundliches Personal" und frisch examinierte nationalsozialistische Ärzte ersetzt. Neuer Leiter wurde Werner Fischer-Defoy, zuvor Stadtmedizinalrat. "Das Gesundheitswesen ist eine der Säulen, auf denen sich der Aufbau des Dritten Reiches bezieht", wird er in einem Bericht aus der "Frankfurter Wochenschau" zitiert. Die Aufgabe der Fürsorge wurde durch den Auftrag zur "Sicherstellung der Rassenhygiene" abgelöst.
Noch im Jahr der Machtergreifung wurde die Abteilung für "Erb- und Rassenpflege" errichtet. Ein "monströses Projekt", wie Börchers schreibt. Die "Fortpflanzung der schwer erblich belasteten Personen" sollte verhindert und die der "wertvollen erbgesunden Menschen" unterstützt werden. Dafür wurde die Anlage einer Erbkartei und eines Erbarchivs vorangetrieben. Beides betreute der Mediziner Kurt Gramm. Er setzte sich maßgeblich ein für die "Durchführung der völkischen Aufartung, wie sie vom Führer erstrebt wird".
Das bedeutete erst einmal eines: Daten sammeln. Und zwar aus allen Bereichen, die den Ärzten zugänglich gemacht wurden. Waren 1933 erst 30 000 Karteikarten und 60 000 Akten angelegt, waren es 1943 schon 420 000 Karten und 330 000 Patientenakten. Sie enthielten unter anderem Informationen zur Krankengeschichte, Schulabgangszeugnisse und Scheidungsurteile. Zwei Drittel der Frankfurter Bevölkerung wurden durch dieses System erfasst. Die Stadt konnte damals auf eine der größten Erbkarteien Deutschlands zurückgreifen. "Die persönlichen Angaben wurden als Grundlage für die unterschiedlichsten städtischen Entscheidungen genutzt - egal ob nun jemand ein Kind adoptieren, ein Stelle im Städtischen Dienst antreten oder heiraten wollte", schreibt Börchers.
1935 wurde die staatliche Kontrolle noch erweitert. Wer heiraten wollte, musste zur "Eheberatungsstelle". Denn das Gesetz zum "Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" schrieb den heiratswilligen Paaren vor, einen Beweis zu erbringen, dass keiner der Partner unter einer ansteckenden Krankheit oder geistigen Störung leidet. Ausgestellt wurde dieses Ehetauglichkeitszeugnis vom Gesundheitsamt.
Fast jedes fünfte Frankfurter Paar galt nach einer Untersuchung der Behörden als "ungeeignet" für die Ehe. Wurde ein Paar abgelehnt, trennte sich aber nicht, war eine Verfolgung durch die Gesundheitsbehörde keine Seltenheit. So folgte häufig auf die Ablehnung des Ehegesuchs noch eine Anzeige, die ein "Verfahren zur Unfruchtbarmachung" einleitete. Paare wurden durch eine angeordnete berufliche Versetzung auseinandergerissen oder bekamen vom Gesundheitsamt eine "verhandlungsschriftliche Verweisung", den Geschlechtsverkehr zu unterlassen.
Auch war die Zwangssterilisation im Fall einer Erbkrankheit schon seit 1934 legalisiert. Anträge konnten Ärzte, Pfleger, Beamte und gesetzliche Vertreter stellen. Die Anzeigen trafen Menschen aller Bevölkerungsgruppen, Glaubensrichtungen und Altersklassen. Das Institut für Stadtgeschichte hat heute 3338 personenbezogene Akten zu Zwangssterilisationen in seinem Bestand. In 73 Prozent der Fälle wurde die Zwangssterilisation nachweislich vorgenommen. Die Zahl der angeordneten, aber nicht durchgeführten Sterilisationen, so die Vermutung, dürfte weitaus höher liegen. "Mir war zum Anfang meiner Recherche nicht bewusst, mit welcher Akribie und auf welche perfide Art versucht wurde, Daten zu sammeln", sagt Börchers.
Sie hat während ihrer einjährigen Recherchearbeit "hinter die Fassaden" der Behörde geblickt und dabei nicht nur die Vergangenheit thematisiert, sondern auch einen Blick in die Zukunft gewagt. Wie wird es aussehen, das Gesundheitsamt von morgen? Welche Aufgaben, welche Herausforderungen kommen auf die aktuell mehr als 200 Mitarbeiter zu? Wie weit ist der Wandel von der kontrollierenden Behörde zum städtischen Dienstleister schon vorangeschritten? Das Buch liefert Antworten - und wirft weitere Fragen auf. Besonders zur "unrühmlichen Rolle des Amtes in der antisemitischen und rassistischen Zeit des Nationalsozialismus", wie es Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) ausdrückt. Fragen, die beantwortet werden müssen.
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