Dies sind Péter Nádas' Lebenserinnerungen. Er folgt darin den «aufleuchtenden Details» der Geschichte seines Aufwachsens und Lebens im bewegten 20. Jahrhundert und formt, wie in seinen großen Romanen, mit seiner erzählerischen Gedächtniskunst eine zutiefst sinnliche, nachhaltige Erfahrung der großen Schicksalswendungen eines Kontinents im gewaltsamen Umbruch.
Während Peter Nádas' Mutter am 14. Oktober 1942 in Budapest mit der Straßenbahn zur Entbindung fährt, liquidiert ein Einsatzkommando das Getto in Mizocz, Anne Frank zeichnet das Gewicht jedes Familienmitglieds auf, Jan Karski übermittelt in den Pyrenäen der polnischen Exilregierung Nachrichten des Widerstands, und Viktor Klemperer erhält in Dresden kein Brot.
Jedes Ereignis, so Nádas, wirkt auf alle anderen Ereignisse ein - ob in der Politik oder der privaten Lebensgeschichte. Es sind jene Momente, die Geschichte fassbar machen und Erinnerung konstituieren - eben die "aufleuchtenden Details". Deren weitgespannten Verflechtungen folgen Péter Nádas' Memoiren nicht chronologisch, sondern assoziativ, wie in seinen großen Romanen. Und durch jede einzelne Episode zieht sich die geheime Frage: Wie bin ich zu dem geworden, der ich bin, wenn jede persönliche Erinnerung, jede Prägung, untrennbar mit Geschichte verstrickt ist? Wenn jeder Moment des Lebens nur die Spitze eines Eisbergs ist?
Während Peter Nádas' Mutter am 14. Oktober 1942 in Budapest mit der Straßenbahn zur Entbindung fährt, liquidiert ein Einsatzkommando das Getto in Mizocz, Anne Frank zeichnet das Gewicht jedes Familienmitglieds auf, Jan Karski übermittelt in den Pyrenäen der polnischen Exilregierung Nachrichten des Widerstands, und Viktor Klemperer erhält in Dresden kein Brot.
Jedes Ereignis, so Nádas, wirkt auf alle anderen Ereignisse ein - ob in der Politik oder der privaten Lebensgeschichte. Es sind jene Momente, die Geschichte fassbar machen und Erinnerung konstituieren - eben die "aufleuchtenden Details". Deren weitgespannten Verflechtungen folgen Péter Nádas' Memoiren nicht chronologisch, sondern assoziativ, wie in seinen großen Romanen. Und durch jede einzelne Episode zieht sich die geheime Frage: Wie bin ich zu dem geworden, der ich bin, wenn jede persönliche Erinnerung, jede Prägung, untrennbar mit Geschichte verstrickt ist? Wenn jeder Moment des Lebens nur die Spitze eines Eisbergs ist?
Péter Nádas ist der große Vermesser der europäischen Seelenlandschaften des 20. Jahrhunderts. (...) eben noch atemberaubend mikrokopisch, ein Fest der Details und Nuancen, im nächsten Augenblick epochal und essayistisch (...) ein unüberbietbares Kunstwerk (...). Iris Radisch Die Zeit
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.12.2017Sprache überlebt den Krieg
Péter Nádas' "Aufleuchtende Details" sind Familiengeschichte und Chronik des 20. Jahrhunderts
Gertrude Stein hat einmal gesagt, dass es hundert Jahre, nämlich drei Generationen, dauere, um eine Sache zu verändern, und einen Krieg, um allen bewusst zu machen, dass die Dinge aufgehört hätten, die gleiche Bedeutung zu haben, die sie zuvor hatten. Und erklärt werden könne dies dadurch, dass eben die erzählte Erinnerung in den Familien nach drei Generationen abbreche, dass die Großeltern den Enkeln noch erzählen könnten, was sie gesehen und erlebt und gefühlt hatten, danach aber werde es, weil die sinnliche Erfahrung verloren sei, zu Geschichte: wie sich ein Kleidungsstück angefühlt, eine Speise geschmeckt, ein Badezimmer gerochen, eine Stimme geklungen, ein Schmerz gebrannt habe, weiß dann niemand mehr. Bewahrt werden kann nur das Beschreibbare, nicht aber das individuelle Erleben, das, was nicht Sprache ist.
Ein Schriftsteller, der dasselbe wie die erzählenden Großeltern versucht, nur in einem Ausmaß und mit einer Wucht, die das mündliche Erzählen niemals erlaubte, ist der Ungar Péter Nádas. In seinen kurz vor seinem 75. Geburtstag am 14. Oktober auf Deutsch erschienenen, mit "Memoiren eines Schriftstellers" untertitelten "Aufleuchtenden Details" erzählt er uns, seinen imaginierten Kindern und Enkeln, die mit dem monströsen 20. Jahrhundert verzahnte Geschichte seiner Familie. Die Eltern, sind glühende Kommunisten (der Vater zudem Jude), die in der Illegalität, mit falschen Papieren und in ständiger Gefahr, verhaftet, gefoltert, ermordet zu werden, Faschismus und deutsche Besatzung in Budapest überstehen. Nach dem Krieg unterstützen sie die Errichtung des kommunistischen Regimes, geraten in die Mühlen von Verdächtigung und Verleumdung, werden durch die Geheimdienste bespitzelt, der Vater wird schließlich von den eigenen Genossen angeklagt und in einem Schauprozess verurteilt. Die Mutter stirbt an Krebs. Der Vater nimmt sich das Leben. Péter Nádas ist vierzehn Jahre alt.
Was die Eltern dem Kind, das Péter Nádas bis zu ihrem Tode war oder zu sein versuchte, an Selbstdisziplin, Aufopferung für andere und Verzicht abverlangten, grenzt an seelische Folter. Man wundert sich, wie er da herauskam, nicht heil, aber doch immerhin imstande, ein eigenständiges Leben zu führen, ein Schriftsteller zu werden. Der Geschichte der Eltern und deren Eltern, der Tanten, Onkel, Freunde nachzuspüren und aufzuschreiben, was sie erzählt haben; zu erforschen, welche anderen als die unzuverlässigen mündlichen Zeugnisse es gibt; was sich an Wohnungsinventar und Kleidungsstücken, an Aufzeichnungen und Arbeitszeugnissen wiederfinden lässt - das ist die eine große, sich assoziativ verästelnde Erzählung des Péter Nádas.
Die andere ist die vom liberalen bürgerlichen Zeitalter und seinem Untergang, dem bürgerlichen häuslichen Leben mit seinen fürchterlichen Anstrengungen und den festgeschriebenen Rollen von Mann und Frau, Eltern und Kindern, Dienstboten und Herrschaft. Was für eine allwöchentliche Strapaze die "Große Wäsche" war, erfährt man hier. Und wer es gelesen hat, fragt hoffentlich nie mehr danach, womit bloß die Frauen all ihre "Mußestunden" gefüllt haben, während ihre genialen Männer komponierten oder studierten oder die Staatsgeschäfte betrieben. Die bürgerliche Familiengeschichte ist wiederum eingeschrieben in die der jüdischen Emanzipation, des ungarischen Nationalismus, der sozialen Bewegung, der kommunistischen Konversion.
Unwillkürlich beginnt man beim Lesen, die eigene Familiengeschichte parallel zu schalten - die Erinnerungen an die Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel. Und wer Kinder hat, erschauert vor der verantwortungsvollen Aufgabe, sie in dieser Welt, ohne dass sie Schaden nehmen, zu verankern. Es erscheint einem unmöglich, sie vor den eigenen Unzulänglichkeiten zu schützen, den Verschrobenheiten der Verwandten, den Halbwahrheiten und Lügen, der alles grundierenden Gewalt, die keinesfalls, das macht Nádas auf fast 1300 Seiten deutlich, nur als eine physische Unheil stiftet, sondern vor allem in und durch die Sprache.
Wir sind aus Sprache gemacht. Aus Erzähltem, Verbotenem, aus Liedern und Gebeten, aus Redensarten und Floskeln, aus Schwüren, Meineiden, Geständnissen, Befehlen, aus ausgesprochenen und nicht ausgesprochenen Gedanken. Die Sprache geht den Ereignissen voraus, und sie folgt ihnen, sie hat die Macht, die Geschehnisse auszulösen und sie, sind sie eingetreten, umzuschreiben, umzudeuten, zu bemänteln, zu verharmlosen oder, im Gegenteil, aufzublähen, anzuklagen, zu erpressen. Wenn Nádas über seine Familie und ihre Verstrickung in die Geschicke des 19. und 20. Jahrhunderts schreibt, so immer im Bewusstsein der Macht und gleichzeitig der Unzulänglichkeit der Sprache. Wie die Wörter in seine kindliche Welt drangen, wie er aufmerksam war auf Klang, Nuancen der Formulierung, verschiedene Ausdrücke für ein und dasselbe je nachdem, wer sprach, wo man war; wie die Wörter sein Denken und Verstehen prägten und auch verdunkelten - all das nimmt viel Raum ein in Erzählung und Reflexion. Es bestimmt das ganze Buch, denn dieses besteht ja aus nichts anderem als: Sprache.
Neben dem Besitz, der im Krieg unter Bomben verschwand oder auf dem Schwarzmarkt eingetauscht wurde gegen Kartoffeln und Bohnen, ein paar Eier oder etwas Fleisch, ist die Sprache der immaterielle Reichtum des Bürgertums. Für eine Sache nicht ein Wort zu haben, sondern zwei, fünf, zehn; Gefühle ausdrücken, Ansichten vertreten, über sie nachdenken zu können, Fremdsprachen zu sprechen; philosophische und juristische Begriffe zur Verfügung zu haben, das ist ein Schatz, den Péter Nádas geerbt hat, auch wenn seine Eltern sonst nichts mehr besaßen. Und er nutzt dieses Erbe, um zu erzählen, wie er geworden ist, der er ist. Das Erbe, das es ihm ermöglichte, Schriftsteller zu werden, will er, der Kinderlose, weitergeben, an uns. Und weil das nur geht, indem er es vor uns ausbreitet, erzählt er von dem alten, vergangenen Leben, von Besuchen und Gewohnheiten, den alltäglichen Verrichtungen, von Herrschafts- und Arbeits- und Wohnverhältnissen, von Berufen, der Kindererziehung, den Mahlzeiten und Gerichten. Von Empfindungen, Gefühlen, Verletzungen, Schönheiten.
Nádas ist ein rasant die Brennweiten, Belichtungszeiten und Geschwindigkeiten wechselnder Erzähler. Er zoomt, zitiert, parodiert, reflektiert, kommentiert, rekonstruiert, montiert. Er ist vier Jahre alt und dann zehn und vierzehn, dann wieder der Endzwanziger, der zu verstehen beginnt, und der über Siebzigjährige, dem klar ist, dass er nur noch dieses eine Werk hat, um zu sagen, zu bewahren, was mit seinem Tod für immer verschwunden sein wird.
Anders als bei dem 2012 erschienenen Mammutwerk "Parallelgeschichten", spürt man: Hier ist nichts nur angelesen und auf der Suche nach Kontrasten konstruiert, nein, hier ist jede Szene im Leben, im Schreiben empfunden, durchlitten. Das, was Nádas erzählt, geht ihn an: Als Teil, als Letzter in einem Zweig der Familie, auf die er stolz ist und die er verabscheut, deren Mitglieder er liebt und hasst. Und als Chronist eines Jahrhunderts, das so monströs und groß und brutal und voller Brüche war wie kein anderes menschliches Jahrhundert zuvor. Ein Jahrhundert, das noch immer nicht vergangen ist, in uns, seinen Leserinnen und Lesern, sondern erst in unseren Kindern, die mit Krieg und Nachkrieg nichts Lebendiges mehr verbindet, Vergangenheit, Geschichte geworden sein wird.
Es ist ein großes Buch. Es hätte ein ganz großes Buch werden können. Aber es hat zwei Schwächen. Die eine betrifft die Komposition. Das Buch kombiniert Nahaufnahme und Totale oft in einem Satz, verschränkt Zitat und Erzählung und Reflexion. Das ist die ersten 500 Seiten großartig durchgeführt. Dann beginnen die Wiederholungen, die nicht Variationen sind, die ein anderes Licht auf dieselbe, schon einmal erzählte Begebenheit werfen, eine neue Perspektive eröffnen, sondern leider nur schwacher zweiter Durchgang durch das bereits Ausgebreitete. Ungeheuerlich beim ersten Erzählen, wie, was dem Vater in der faschistischen Folter geschah, erst verschwiegen, dann doch noch, ja, verraten wird. Beim zweiten, nüchtern wiederholenden Bericht, wird nicht nur die emotionale Bewegung der ersten Erzählung neutralisiert, durch die Wiederholung erscheint der Vater auch plötzlich als der gar nicht Schweigsame, Bescheidene, bescheiden sein Leiden Verbergende, als der er einem zuvor auf Hunderten von Seiten präsentiert wurde. Absicht, um ihn zu entlarven? Oder doppelbödige Strategie, um den Erzähler zu kompromittieren?
Es ist nicht die einzige Szene, die durch die Wiederholung an Wirkung verliert. Auf den zweiten achthundert Seiten gibt es etliche Themen und Begebenheiten, von denen bereits sehr ausführlich die Rede war. Lustlosigkeit macht sich breit beim Lesen, auch weil die Raffinesse der Montage die des Anfangs nicht mehr erreicht. Ermüdender ist allerdings Nádas' zweite Schwäche: Gern reiht er drei Adjektive aneinander, lässt Verben in langer Reihe aufeinander folgen, die dasselbe bedeuten und die Aussage immer nur verwässern: "Ihre Lektorin verteidigte sie nicht mehr, sondern ließ sie (. . .) im Regen stehen, verriet sie, fiel ihr in den Rücken (. . .)."
Bei einem Schriftsteller, dem die Präzision des Erzählens so ungeheuer wichtig ist, dass er sie auf fast jeder Seite thematisiert, der die Unzulänglichkeiten der anderen gern bespöttelt, erstaunt das Fehlen der kritischen Distanz zum eigenen Text. Ist es Unvermögen? Ironie? Arroganz? Vielleicht alles zusammen. Vielleicht aber auch nur das von Verzweiflung grundierte Festklammern am Familienerbe, der Sprache, die wie Möbel und Bilder am Verschwinden ist.
BETTINA HARTZ
Péter Nádas: "Aufleuchtende Details. Memoiren eines Erzählers". Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt-Verlag, 1280 Seiten, 39,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Péter Nádas' "Aufleuchtende Details" sind Familiengeschichte und Chronik des 20. Jahrhunderts
Gertrude Stein hat einmal gesagt, dass es hundert Jahre, nämlich drei Generationen, dauere, um eine Sache zu verändern, und einen Krieg, um allen bewusst zu machen, dass die Dinge aufgehört hätten, die gleiche Bedeutung zu haben, die sie zuvor hatten. Und erklärt werden könne dies dadurch, dass eben die erzählte Erinnerung in den Familien nach drei Generationen abbreche, dass die Großeltern den Enkeln noch erzählen könnten, was sie gesehen und erlebt und gefühlt hatten, danach aber werde es, weil die sinnliche Erfahrung verloren sei, zu Geschichte: wie sich ein Kleidungsstück angefühlt, eine Speise geschmeckt, ein Badezimmer gerochen, eine Stimme geklungen, ein Schmerz gebrannt habe, weiß dann niemand mehr. Bewahrt werden kann nur das Beschreibbare, nicht aber das individuelle Erleben, das, was nicht Sprache ist.
Ein Schriftsteller, der dasselbe wie die erzählenden Großeltern versucht, nur in einem Ausmaß und mit einer Wucht, die das mündliche Erzählen niemals erlaubte, ist der Ungar Péter Nádas. In seinen kurz vor seinem 75. Geburtstag am 14. Oktober auf Deutsch erschienenen, mit "Memoiren eines Schriftstellers" untertitelten "Aufleuchtenden Details" erzählt er uns, seinen imaginierten Kindern und Enkeln, die mit dem monströsen 20. Jahrhundert verzahnte Geschichte seiner Familie. Die Eltern, sind glühende Kommunisten (der Vater zudem Jude), die in der Illegalität, mit falschen Papieren und in ständiger Gefahr, verhaftet, gefoltert, ermordet zu werden, Faschismus und deutsche Besatzung in Budapest überstehen. Nach dem Krieg unterstützen sie die Errichtung des kommunistischen Regimes, geraten in die Mühlen von Verdächtigung und Verleumdung, werden durch die Geheimdienste bespitzelt, der Vater wird schließlich von den eigenen Genossen angeklagt und in einem Schauprozess verurteilt. Die Mutter stirbt an Krebs. Der Vater nimmt sich das Leben. Péter Nádas ist vierzehn Jahre alt.
Was die Eltern dem Kind, das Péter Nádas bis zu ihrem Tode war oder zu sein versuchte, an Selbstdisziplin, Aufopferung für andere und Verzicht abverlangten, grenzt an seelische Folter. Man wundert sich, wie er da herauskam, nicht heil, aber doch immerhin imstande, ein eigenständiges Leben zu führen, ein Schriftsteller zu werden. Der Geschichte der Eltern und deren Eltern, der Tanten, Onkel, Freunde nachzuspüren und aufzuschreiben, was sie erzählt haben; zu erforschen, welche anderen als die unzuverlässigen mündlichen Zeugnisse es gibt; was sich an Wohnungsinventar und Kleidungsstücken, an Aufzeichnungen und Arbeitszeugnissen wiederfinden lässt - das ist die eine große, sich assoziativ verästelnde Erzählung des Péter Nádas.
Die andere ist die vom liberalen bürgerlichen Zeitalter und seinem Untergang, dem bürgerlichen häuslichen Leben mit seinen fürchterlichen Anstrengungen und den festgeschriebenen Rollen von Mann und Frau, Eltern und Kindern, Dienstboten und Herrschaft. Was für eine allwöchentliche Strapaze die "Große Wäsche" war, erfährt man hier. Und wer es gelesen hat, fragt hoffentlich nie mehr danach, womit bloß die Frauen all ihre "Mußestunden" gefüllt haben, während ihre genialen Männer komponierten oder studierten oder die Staatsgeschäfte betrieben. Die bürgerliche Familiengeschichte ist wiederum eingeschrieben in die der jüdischen Emanzipation, des ungarischen Nationalismus, der sozialen Bewegung, der kommunistischen Konversion.
Unwillkürlich beginnt man beim Lesen, die eigene Familiengeschichte parallel zu schalten - die Erinnerungen an die Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel. Und wer Kinder hat, erschauert vor der verantwortungsvollen Aufgabe, sie in dieser Welt, ohne dass sie Schaden nehmen, zu verankern. Es erscheint einem unmöglich, sie vor den eigenen Unzulänglichkeiten zu schützen, den Verschrobenheiten der Verwandten, den Halbwahrheiten und Lügen, der alles grundierenden Gewalt, die keinesfalls, das macht Nádas auf fast 1300 Seiten deutlich, nur als eine physische Unheil stiftet, sondern vor allem in und durch die Sprache.
Wir sind aus Sprache gemacht. Aus Erzähltem, Verbotenem, aus Liedern und Gebeten, aus Redensarten und Floskeln, aus Schwüren, Meineiden, Geständnissen, Befehlen, aus ausgesprochenen und nicht ausgesprochenen Gedanken. Die Sprache geht den Ereignissen voraus, und sie folgt ihnen, sie hat die Macht, die Geschehnisse auszulösen und sie, sind sie eingetreten, umzuschreiben, umzudeuten, zu bemänteln, zu verharmlosen oder, im Gegenteil, aufzublähen, anzuklagen, zu erpressen. Wenn Nádas über seine Familie und ihre Verstrickung in die Geschicke des 19. und 20. Jahrhunderts schreibt, so immer im Bewusstsein der Macht und gleichzeitig der Unzulänglichkeit der Sprache. Wie die Wörter in seine kindliche Welt drangen, wie er aufmerksam war auf Klang, Nuancen der Formulierung, verschiedene Ausdrücke für ein und dasselbe je nachdem, wer sprach, wo man war; wie die Wörter sein Denken und Verstehen prägten und auch verdunkelten - all das nimmt viel Raum ein in Erzählung und Reflexion. Es bestimmt das ganze Buch, denn dieses besteht ja aus nichts anderem als: Sprache.
Neben dem Besitz, der im Krieg unter Bomben verschwand oder auf dem Schwarzmarkt eingetauscht wurde gegen Kartoffeln und Bohnen, ein paar Eier oder etwas Fleisch, ist die Sprache der immaterielle Reichtum des Bürgertums. Für eine Sache nicht ein Wort zu haben, sondern zwei, fünf, zehn; Gefühle ausdrücken, Ansichten vertreten, über sie nachdenken zu können, Fremdsprachen zu sprechen; philosophische und juristische Begriffe zur Verfügung zu haben, das ist ein Schatz, den Péter Nádas geerbt hat, auch wenn seine Eltern sonst nichts mehr besaßen. Und er nutzt dieses Erbe, um zu erzählen, wie er geworden ist, der er ist. Das Erbe, das es ihm ermöglichte, Schriftsteller zu werden, will er, der Kinderlose, weitergeben, an uns. Und weil das nur geht, indem er es vor uns ausbreitet, erzählt er von dem alten, vergangenen Leben, von Besuchen und Gewohnheiten, den alltäglichen Verrichtungen, von Herrschafts- und Arbeits- und Wohnverhältnissen, von Berufen, der Kindererziehung, den Mahlzeiten und Gerichten. Von Empfindungen, Gefühlen, Verletzungen, Schönheiten.
Nádas ist ein rasant die Brennweiten, Belichtungszeiten und Geschwindigkeiten wechselnder Erzähler. Er zoomt, zitiert, parodiert, reflektiert, kommentiert, rekonstruiert, montiert. Er ist vier Jahre alt und dann zehn und vierzehn, dann wieder der Endzwanziger, der zu verstehen beginnt, und der über Siebzigjährige, dem klar ist, dass er nur noch dieses eine Werk hat, um zu sagen, zu bewahren, was mit seinem Tod für immer verschwunden sein wird.
Anders als bei dem 2012 erschienenen Mammutwerk "Parallelgeschichten", spürt man: Hier ist nichts nur angelesen und auf der Suche nach Kontrasten konstruiert, nein, hier ist jede Szene im Leben, im Schreiben empfunden, durchlitten. Das, was Nádas erzählt, geht ihn an: Als Teil, als Letzter in einem Zweig der Familie, auf die er stolz ist und die er verabscheut, deren Mitglieder er liebt und hasst. Und als Chronist eines Jahrhunderts, das so monströs und groß und brutal und voller Brüche war wie kein anderes menschliches Jahrhundert zuvor. Ein Jahrhundert, das noch immer nicht vergangen ist, in uns, seinen Leserinnen und Lesern, sondern erst in unseren Kindern, die mit Krieg und Nachkrieg nichts Lebendiges mehr verbindet, Vergangenheit, Geschichte geworden sein wird.
Es ist ein großes Buch. Es hätte ein ganz großes Buch werden können. Aber es hat zwei Schwächen. Die eine betrifft die Komposition. Das Buch kombiniert Nahaufnahme und Totale oft in einem Satz, verschränkt Zitat und Erzählung und Reflexion. Das ist die ersten 500 Seiten großartig durchgeführt. Dann beginnen die Wiederholungen, die nicht Variationen sind, die ein anderes Licht auf dieselbe, schon einmal erzählte Begebenheit werfen, eine neue Perspektive eröffnen, sondern leider nur schwacher zweiter Durchgang durch das bereits Ausgebreitete. Ungeheuerlich beim ersten Erzählen, wie, was dem Vater in der faschistischen Folter geschah, erst verschwiegen, dann doch noch, ja, verraten wird. Beim zweiten, nüchtern wiederholenden Bericht, wird nicht nur die emotionale Bewegung der ersten Erzählung neutralisiert, durch die Wiederholung erscheint der Vater auch plötzlich als der gar nicht Schweigsame, Bescheidene, bescheiden sein Leiden Verbergende, als der er einem zuvor auf Hunderten von Seiten präsentiert wurde. Absicht, um ihn zu entlarven? Oder doppelbödige Strategie, um den Erzähler zu kompromittieren?
Es ist nicht die einzige Szene, die durch die Wiederholung an Wirkung verliert. Auf den zweiten achthundert Seiten gibt es etliche Themen und Begebenheiten, von denen bereits sehr ausführlich die Rede war. Lustlosigkeit macht sich breit beim Lesen, auch weil die Raffinesse der Montage die des Anfangs nicht mehr erreicht. Ermüdender ist allerdings Nádas' zweite Schwäche: Gern reiht er drei Adjektive aneinander, lässt Verben in langer Reihe aufeinander folgen, die dasselbe bedeuten und die Aussage immer nur verwässern: "Ihre Lektorin verteidigte sie nicht mehr, sondern ließ sie (. . .) im Regen stehen, verriet sie, fiel ihr in den Rücken (. . .)."
Bei einem Schriftsteller, dem die Präzision des Erzählens so ungeheuer wichtig ist, dass er sie auf fast jeder Seite thematisiert, der die Unzulänglichkeiten der anderen gern bespöttelt, erstaunt das Fehlen der kritischen Distanz zum eigenen Text. Ist es Unvermögen? Ironie? Arroganz? Vielleicht alles zusammen. Vielleicht aber auch nur das von Verzweiflung grundierte Festklammern am Familienerbe, der Sprache, die wie Möbel und Bilder am Verschwinden ist.
BETTINA HARTZ
Péter Nádas: "Aufleuchtende Details. Memoiren eines Erzählers". Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt-Verlag, 1280 Seiten, 39,95 Euro
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