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In den gegenwärtigen Debatten der Kultur-, Medien- und Geschichtswissenschaft spielt die Wahrnehmungstheorie eine entscheidende Rolle: Sie leistet die Verbindung zwischen einer Theorie der Bildmedien und des Betrachters, zwischen einer Untersuchung der physiologischen und psychologischen Voraussetzungen und einer Kulturgeschichte der Wahrnehmung. Jonathan Crarys neues Buch gibt den Diskussionen eine überraschende Wendung, indem es den Begriff der Aufmerksamkeit in den Mittelpunkt rückt. Die Aufmerksamkeit, d.h. die Art und Weise, in der wir etwas bewußt wahrnehmen, ist das Ergebnis von…mehr

Produktbeschreibung
In den gegenwärtigen Debatten der Kultur-, Medien- und Geschichtswissenschaft spielt die Wahrnehmungstheorie eine entscheidende Rolle: Sie leistet die Verbindung zwischen einer Theorie der Bildmedien und des Betrachters, zwischen einer Untersuchung der physiologischen und psychologischen Voraussetzungen und einer Kulturgeschichte der Wahrnehmung. Jonathan Crarys neues Buch gibt den Diskussionen eine überraschende Wendung, indem es den Begriff der Aufmerksamkeit in den Mittelpunkt rückt. Die Aufmerksamkeit, d.h. die Art und Weise, in der wir etwas bewußt wahrnehmen, ist das Ergebnis von radikalen Veränderungen der Wahrnehmung selbst, deren Wurzeln bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgt werden können. Hier setzt eine »Modernisierung« des Blicks ein, die mit einer Industrialisierung und massenweisen Verbreitung der visuellen Medien Hand in Hand geht. Am Beispiel von drei Malern der Moderne - Manet, Seurat und Cézanne - zeigt Jonathan Crary die entscheidenden und folgenreichen Verschiebungen des Konzeptes und des Bereiches der Wahrnehmung auf. Aufmerksamkeit entwirft eine brillante und materialreiche Archäologie der gegenwärtigen Technologien der Wahrnehmung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.08.2002

Erobert das Unsichtbare!
Für Jonathan Crary ist Aufmerksamkeit ein Mittel zur Repression

Jonathan Crarys' Untersuchung "Techniken des Beobachters. Sehen und Moderne im neunzehnten Jahrhundert" (1990, deutsch 1996), in welcher der Kunsthistoriker an der Columbia University die Entwicklung der Sehpraxis der Moderne in einem Feld von medialen Techniken und Diskursen darstellte, ist schnell zu einer Art Bibel der kritischen Wahrnehmungsforschung geworden. Das hat sich in dem neuen Buch, in dem die Folgen der Verschiebung des Sehmodells dargestellt werden sollen, gelegentlich in einem Verkündigungston niedergeschlagen, was der Aufmerksamkeit der Gemeinde vermutlich keinen Abbruch tun wird. Der Hauptbegriff (attention) war in den Kognitionswissenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts aufgrund seiner Mehrdeutigkeit lange Zeit verpönt, in den letzten Jahren kommt er jedoch in der Hirnforschung, der kognitiven Psychologie, der Linguistik und der Informatik wieder in die Diskussion, obwohl eine anerkannte Definition fehlt. Crary macht sich das Schillernde des Begriffs freilich gerade dialektisch und suggestiv zunutze.

Reziprok zu Benjamins und Adornos Kritik der zerstreuten Rezeption erklärt er die auffällige Rolle, die Aufmerksamkeit in der Wissenschaft der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts spielte, aus der Entwicklung nachklassischer Erkenntnistheorie und Sehpraxis wie der kapitalistischen Warenproduktion und Gesellschaftsform. Aufmerksamkeit werde da zu einer Möglichkeitsbedingung der Wahrnehmung und zugleich zur Idee einer leistungsorientierten und steuerbaren Subjektivität. In einer zunehmend fragmentarisierten Kultur, in der das Vertrauen in die Fähigkeit zu synthetischer Wahrnehmung schwinde, diene, so Crary, die Betonung der Aufmerksamkeit der Aufrechterhaltung einer kohärenten Vorstellung von der Wirklichkeit, damit aber der Disziplinierung des Subjekts. Umgekehrt erhält Unaufmerksamkeit in der Mechanisierung und Spezialisierung der Arbeitsabläufe den "Charakter einer Gefahr, eines ernsten Problems".

Zu einem Fokus der Reflexion moderner Kultur wird Aufmerksamkeit in dem Moment, in dem die Idee der Gegenwärtigkeit und der Ganzheitlichkeit der Wahrnehmung getilgt wird, so daß sie nunmehr nur noch pragmatisch als "Simulation von Präsenz" fungieren kann. Medien- und kulturkritisch sieht Crary die Konstruktion und das Gebot aufmerksamer Wahrnehmung als Regulierungsstrategie moderner Gesellschaftssysteme, die Kreativität in "vorgefertigten Rhythmen, Bildern, Geschwindigkeiten und Kreisläufen" kanalisieren soll. Mit Foucault erkennt der Sehforscher daher im Aufmerksamkeitsbegriff der Wissenschaft und der Technologie des neunzehnten Jahrhunderts eine "Interiorisierung disziplinärer Imperative".

Andererseits aber sieht er in der reflektierten, auf sich selbst gerichteten ästhetischen Aufmerksamkeit ein entschleunigendes Heilmittel gegen den "Fieberwahn" des Modernisierungsprozesses - "mittels der Aufmerksamkeit kann ein individueller Betrachter diese subjektiven Grenzen überwinden und die Wahrnehmung zu seiner eigenen machen". Gegen die dynamische Logik der Kulturindustrie, die im Spektakel eine ruhige und stabile Wahrnehmung unterminiert, bietet er emphatisch die schöpferischen Zustände "von Trance, Unaufmerksamkeit, Wachtraum und Fixierung" auf, rekurriert auf eine romantisch-visionäre Tradition von William Blake bis Cézanne.

In den Hauptkapiteln zu Manets "Im Wintergarten" (1879), Seurats "Parade du cirque" (1887/88) und vor allem Cézannes "Kiefern und Felsen" (um 1900) zeigt Crary im Kontext der neuen Techniken maschineller Wahrnehmung und Simulation, wie sich die Veränderungen des Sehens in der Verfahrensweise der Malerei niederschlagen. In Manets Bildern wird im Ineins von Innen- und Außenperspektive der Traum einer neuen, modernen Unmittelbarkeit und Synthese sinnfällig. Gegen die Standardisierung der Aufmerksamkeit, die ihre Fortsetzung in den "digitalen und kybernetischen Imperativen" von heute finden wird, versucht Manet tapfer eine "Befreiung des Sehens". Seurats Werk ist bereits untrennbar mit den Konsequenzen der neuen Modelle des subjektiven Sehens, der Ablösung "des klassischen Regimes der Visualität", verbunden. Auf das physiologische Modell der "Dauer einer Lichtimpression auf der Netzhaut" reagiert er zugleich mit Anpassung und kalkulierter Subversion der "auf der Renaissance basierenden pikturalen Ordnung", die auf eine "tröstliche Verdunklung des Selbst" verzichtet. Das Kunstwerk "hält seinen Betrachter in der Schwebe zwischen der Unterwerfung unter seine empirischen Operationen und der Antizipation einer lichterfüllten Verschmelzung" des momentan Unversöhnten.

In Cézannes "Neuerfindung der Synthese" zeigen sich schließlich die Aktivitäten eines Auges, "das mit einer unmöglichen Aufmerksamkeit blicken können sollte". Damit bildet Cézannes Werk den Höhepunkt und die Auflösung des romantisch-visionären Paradigmas der Unendlichkeit des Möglichen. "Was Blake in einer figürlichen Sprache zu erreichen versuchte - eine heroische Überwindung von Schwerkraft, von Wahrnehmungszwängen und chromatischer Opazität -, das verwirklichte Cézanne in den transparenten, unmotivierten Feldern seiner späten Aquarelle und Landschaften."

Der moderne Widerspruch, daß die Idee einer unwillkürlichen Präsenz in der Kunst nur durch Aufmerksamkeit und Willkür zum Vorschein gebracht werden kann, löst sich schließlich in der Selbstreferenz: Cézannes "unermüdliche Aufmerksamkeit auf die Aufmerksamkeit selbst" führe zur "Überwindung der verwalteten Wahrnehmung der spektakulären Kultur, in welcher die Aufmerksamkeit auf alles aufmerken soll, nur nicht auf sich selbst".

Solches Vexierspiel der Aufmerksamkeit als Vermögen des Geistes, Haltung und Sehpraxis hat freilich etwas von einem Taschenspielertrick, der auf der Ablenkung der Aufmerksamkeit des Lesers beruht. Dabei macht der rückwärtsgewandte Prophet und der Kritiker der Entzauberung der Welt reichlich zirzensisch Reklame für die Neuheit des eigenen Ansatzes. Crary redet während seiner Demonstrationen gleichsam pausenlos auf den Leser ein, so daß der nur schwer dazu kommt, die Litanei von der Moderne als fortgesetzter Krise, als entscheidenden Bruch der Kontinuität und als finstere Strategie der Wahrnehmungsverordnung in Frage zu stellen. In Vereinseitigung Foucaultscher Thesen von der Überwachung im klassischen Regime läßt Crary übersehen, daß sich das romantisch-visionäre Paradigma so nicht gegen den modernen Funktionalismus ausspielen läßt.

Denn entgegen seiner Setzung gab es jedenfalls in der englischen und deutschen Diskussion des achtzehnten Jahrhunderts durchaus schon ein Bewußtsein für den verhaltensregulierenden Charakter der Aufmerksamkeit sowie das nicht zuletzt bei Goethe formulierte Gegenmodell einer auf das "Selbst und die inneren Geistesoperationen gerichteten" Haltung. Bei Novalis ist Aufmerksamkeit als ruhige Betrachtung Erfordernis des Naturfreunds, des Liebenden und des Künstlers, zugleich aber erklärt sie das Sichtbare in platonischer Tradition zur bloßen Außenseite des Unsichtbaren und der Unendlichkeit des Möglichen, die Präsenz aber zum Durchgangsstadium der Futurität und Transzendenz. In Caspar David Friedrichs Bildern wird ein solcher Blick alsbald zu sehen sein. Da ist die Paradoxie von Naturüberhöhung und Naturentwertung längst aufgebrochen. Auch diese Tradition partizipierte von vornherein als "Eroberung des Unsichtbaren" am modernen Machbarkeitswahn der Herstellbarkeit aller Phänomene.

Daß Crary am Ende, vermittelt durch einen Brief Sigmund Freuds aus Rom, ein Anderes gegenüber der modernen Verblendung als Spektakel der "Konvivialität" gerade dort findet, wo es Goethe und die deutschen Künstler des späten achtzehnten Jahrhunderts auch schon suchten, nämlich auf einer Piazza der Ewigen Stadt, gibt dieser mit allen postmodernen medientheoretischen und kulturkritischen Wassern gewaschenen, wunderbar suggestiv illustrierten und auch in ihrer Fragwürdigkeit bewundernswerten Darstellung einen sympathischen Zug von Unzeitgemäßheit.

FRIEDMAR APEL

Jonathan Crary: "Aufmerksamkeit". Wahrnehmung und moderne Kultur. Aus dem Amerikanischen von Heinz Jatho. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 408 S., Abb., geb., 39,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Zum Thema Aufmerksamkeit - den "Schlüssel zum Ausgang aus der unverschuldeten Ungewissheit" nennt Elisabeth von Thadden sie - sind jede Menge Bücher erschienen. Eines davon, Jonathan Crarys Grundlagen-Studie "Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur", hält die Rezensentin für besonders erwähnenswert. Methodisch ausgreifend und profund, schreibt sie, ergründet diese Kulturgeschichte der Wahrnehmung die Rolle der Aufmerksamkeit bei der Entstehung der modernen Subjektivität und wandert durch die Wissenschaften vom Gehirn, von der Psyche und durch Theorien der Massenkultur. Wahrnehmung in der Wechselbeziehung mit Modernisierung, als historisches Phänomen - der Autor illustriert diese Sicht anhand von Kunstwerken, diagnostiziert die Wahrnehmungskrise gegen Ende des 19. Jahrhunderts und analysiert die Reaktionen der Zeitgenossen. Sinnvoll findet Thadden auch den Blick auf die "andere Seite": Indem der Autor die Vorgänge der Wahrnehmung beschreibt, gelingt es ihm zu zeigen, "wie verlockend es ist, sich dieser Techniken zur Erzeugung von Aufmerksamkeit zu bedienen". Dass bei Crary die Psychoanalyse als Technik der Aufmerksamkeit das letzte Wort hat, irritiert Thadden allerdings ein wenig, "wenn man heute die neurologische Besetzung des Problems gewohnt ist".

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