Eine unbekannte Geschichte weiblicher Selbstermächtigung
Im frühen 20. Jahrhundert erprobten junge afroamerikanische Frauen in großstädtischen Slums neue, subversive Formen der Liebe und der Solidarität außerhalb von Konvention und Gesetz: nichteheliche Partnerschaften und flüchtige Ehen, queere Identitäten und alleinerziehende Mutterschaft. Ihre Lebensentwürfe waren revolutionär, doch sie selbst sind vergessen. In ihrem bahnbrechenden, berührend schönen Buch erweitert Saidiya Hartman unsere Vorstellung von Geschichtsschreibung radikal. Sie belebt das historische Archiv mit literarischer Imagination und rekonstruiert die experimentellen Welten und rebellischen Begehren dieser Vorreiterinnen.
»Aufsässige Leben, schöne Experimente« erzählt die Geschichte des 20. Jahrhunderts zum ersten Mal als eine Geschichte schwarzer Weiblichkeit.
Im frühen 20. Jahrhundert erprobten junge afroamerikanische Frauen in großstädtischen Slums neue, subversive Formen der Liebe und der Solidarität außerhalb von Konvention und Gesetz: nichteheliche Partnerschaften und flüchtige Ehen, queere Identitäten und alleinerziehende Mutterschaft. Ihre Lebensentwürfe waren revolutionär, doch sie selbst sind vergessen. In ihrem bahnbrechenden, berührend schönen Buch erweitert Saidiya Hartman unsere Vorstellung von Geschichtsschreibung radikal. Sie belebt das historische Archiv mit literarischer Imagination und rekonstruiert die experimentellen Welten und rebellischen Begehren dieser Vorreiterinnen.
»Aufsässige Leben, schöne Experimente« erzählt die Geschichte des 20. Jahrhunderts zum ersten Mal als eine Geschichte schwarzer Weiblichkeit.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Marina Martinez Mateo bewundert, wie Saidiya Hartman in ihrer Studie zeigen kann, dass Versklavung und Rassismus auch nach dem offiziellen Ende der Sklaverei in den USA fortbestanden. Indem die Autorin Archivmaterial wie Gerichtsprotokolle, Fotos, Studien und Zeitungsartikel auswertet und mit fiktionalen Passagen aus der Perspektive schwarzer Frauen anreichert, entsteht laut Mateo eine Art "Gegenerzählung", die neben den Geschichten von Ausbeutung und Segregation auch Geschichten von Widerständigkeit, Gemeinschaft und Sinnlichkeit erzählt. Plastisch werden die Gedanken und Gefühle der Frauen sowie die Topografie Harlems, so Mateo, der die Gefahr einer Reproduktion des "exponierenden Blicks auf schwarze Frauen" durchaus bewusst ist. Für Mateo ist die Publikation dennoch ein "großer Gewinn".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.07.2022Um die Fiktionen der Historiographie zu übertreffen
Fabulieren, aber kritisch: Saidiya Hartman springt der übergangenen Erinnerung an schwarze Frauen mit Geschichten bei
Wie lässt sich die ungeschriebene Geschichte der Erfahrung versklavter Menschen darstellen? Und wie können die Schicksale dieser Menschen vor dem Vergessen gerettet werden? In ihrem 2008 erstmals publizierten, höchst einflussreichen Aufsatz "Venus in zwei Akten", der nun erstmals in deutscher Übersetzung in der schmalen Anthologie "Diese bittere Erde" vorliegt, denkt die an der Columbia-Universität in New York lehrende Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Saidiya Hartman über die Möglichkeiten nach, das Leben Versklavter während der Überfahrt über den Atlantik zu dokumentieren. Ausgangspunkt des Essays war ihre ein Jahr zuvor erschienene Studie "Lose Your Mother: A Journey Along the Atlantic Slave Route". In ihr hatte Hartman das Schicksal eines Mädchens geschildert, das 1792 auf dem britischen Sklavenschiff "Recovery" zu Tode gefoltert worden war, wohl weil es sich geweigert hatte, nackt für den Kapitän zu tanzen. Die Ermordung des Mädchens feuerte in England die Debatte über das Verbot des Sklavenhandels weiter an.
In Hartmans Erzählung dieser brutalen Tötung und der sich daran anschließenden Gerichtsverhandlungen findet beiläufig auch ein anderes versklavtes Mädchen namens "Venus" Erwähnung: ein zufälliger Aktenfund in der Anklageschrift gegen den - im Übrigen vom Gericht freigesprochenen - Kapitän des Sklavenschiffs. In "Venus in zwei Akten" greift sie das Schicksal dieses Mädchens wieder auf. Denn es verweise nicht nur auf den physischen Tod, den viele Versklavte während der Überfahrt erlitten. Es stehe zudem für den "sozialen Tod", welche das Archiv in seinem Unvermögen, schwarze Leben zu dokumentieren, befördere
Vor diesem Hintergrund entwirft Hartman in ihrem Aufsatz das Konzept eines "kritischen Fabulierens".Sie denkt darüber nach, "was hätte sein können", und beginnt mit einem erfundenen Detail: der Aussage eines Matrosen, der bezeugt, dass die beiden Mädchen befreundet waren. Davon ausgehend, imaginiert sie eine Geschichte von zwei dem Untergang geweihten Versklavten, die ihre Tage an Bord gemeinsam verbringen, Trost in der Gesellschaft der anderen finden. An Ende hält Venus ihre sterbende Freundin in den Armen und flüstert ihr ins Ohr, dass alles gut werde.
Hartman ist sich bewusst, dass eine solche "Gegengeschichte" vielen als problematisch erscheinen muss. Sie will trotzdem "eine Fantasiegeschichte schreiben, die die Fiktionen der Historiographie übertrifft". Und doch besteht ein Großteil ihres Essays darin, die Unsicherheit über ihr methodisches Verfahren darzulegen.
Hartmans Intervention machte "das Problem des Archivs" gleichwohl zu einer zentralen Frage für die Erforschung der atlantischen Sklaverei. Damit verband sich bald die Kritik schwarzer feministischer Forscherinnen an den Standardmethoden der Sozialgeschichte, die als unzureichend erachtet wurden, die Erfahrungen afrikanischer und afrikanischstämmiger Frauen in den Amerikas zu vermitteln. Hartmans jüngstes Buch unternimmt einen weiteren Versuch, diesen Erfahrungen zur Darstellung zu verhelfen.
Sie nutzt dazu Quellen vor allem von Akteuren, die schwarze Frauen als "Problem" sahen: Gerichts- und Gefängnisakten, Interviews mit Psychologen, soziologische Erhebungen. Und imaginiert auf der Grundlage punktueller Fakten die Sehnsuchtshorizonte ihrer Protagonistinnen. Ein ebenso irritierendes wie faszinierendes Verfahren, changierend zwischen Geschichtsschreibung und Literatur. Sie will ihr Buch jedoch nicht als historische Fiktion verstanden wissen, sondern etikettiert es als eine "Geschichte der Gegenwart" - die Untersuchung der Vergangenheit, um zu zeigen, wie sie unsere Zeit weiterhin heimsucht.
"Aufsässige Leben, schöne Experimente" führt in das frühe zwanzigste Jahrhundert und die erste Phase der "Great Migration" von Schwarzen in die urbanen Zentren des Nordens der Vereinigten Staaten. Die jungen schwarzen Frauen, die im Zentrum der Darstellung stehen, kamen nach New York und Philadelphia in der Hoffnung, den rassistischen Beschränkungen und der Gewalt der Jim-Crow-Gesetze in den Plantagenregionen des Südens zu entkommen. Sie trafen freilich auf heruntergekommene Slums, an Sklaverei gemahnende Hausarbeit und soziale Reformer und Polizisten, die ihre intimsten Aktivitäten zu überwachen suchten. Unter dem Deckmantel der Reform des Wohnungswesens sahen sich die Frauen regelmäßig der Prostitution beschuldigt und fanden sich in "Besserungsanstalten" oder Arbeitshäusern wieder.
Frauen wurden, schreibt Hartman, "auf der Türschwelle ihrer Häuser und in ihren Wohnungen verhaftet, beim Aussteigen aus Taxis, beim Flirten auf der Tanzfläche, beim Warten auf ihre Ehemänner, auf dem Heimweg vom Varieté mit Freundinnen, beim intimen Beisammensein mit einem Geliebten oder wenn sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren". Viele ihrer Protagonistinnen lebten in einer Art "alltäglicher Anarchie" und experimentierten mit neuen Lebensformen: Sie nahmen sich Liebhaber, pflegten lesbische Beziehungen, kleideten und benahmen sich, wie es ihnen gefiel.
Hartman argumentiert, dass schwarze Frauen eine ganze Reihe sozialer Arrangements begründeten, die einst als deviant erachtet wurden, heute aber "normal" geworden sind. Schwarze Frauen, schreibt sie, agierten oft außerhalb gängiger Geschlechternormen, ob sie es wollten oder nicht. Armut und Diskriminierung zwangen sie dazu, Dinge zu tun, die vergleichsweise wenige weiße Frauen taten: für Löhne arbeiten, einen Haushalt führen, und relativ frei Ehen eingehen und wieder auflösen. Ob dies politische Projekte waren, wie Hartman es sehen möchte, oder häufig schlicht aus der Notwendigkeit geborene Verhaltensweisen, bleibt eine offene Frage. ANDREAS ECKERT
Saidiya Hartman: "Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint)".
Aus dem Englischen von Yasemin Dinçer. August Verlag, Berlin 2022. 122 S., br., 14,- Euro.
Saidiya Hartman: "Aufsässige Leben, schöne Experimente". Von rebellischen schwarzen Mädchen, schwierigen Frauen und radikalen Queers.
A. d. Englischen von Anna Jäger. Claassen Verlag, Berlin 2022. 528 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fabulieren, aber kritisch: Saidiya Hartman springt der übergangenen Erinnerung an schwarze Frauen mit Geschichten bei
Wie lässt sich die ungeschriebene Geschichte der Erfahrung versklavter Menschen darstellen? Und wie können die Schicksale dieser Menschen vor dem Vergessen gerettet werden? In ihrem 2008 erstmals publizierten, höchst einflussreichen Aufsatz "Venus in zwei Akten", der nun erstmals in deutscher Übersetzung in der schmalen Anthologie "Diese bittere Erde" vorliegt, denkt die an der Columbia-Universität in New York lehrende Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Saidiya Hartman über die Möglichkeiten nach, das Leben Versklavter während der Überfahrt über den Atlantik zu dokumentieren. Ausgangspunkt des Essays war ihre ein Jahr zuvor erschienene Studie "Lose Your Mother: A Journey Along the Atlantic Slave Route". In ihr hatte Hartman das Schicksal eines Mädchens geschildert, das 1792 auf dem britischen Sklavenschiff "Recovery" zu Tode gefoltert worden war, wohl weil es sich geweigert hatte, nackt für den Kapitän zu tanzen. Die Ermordung des Mädchens feuerte in England die Debatte über das Verbot des Sklavenhandels weiter an.
In Hartmans Erzählung dieser brutalen Tötung und der sich daran anschließenden Gerichtsverhandlungen findet beiläufig auch ein anderes versklavtes Mädchen namens "Venus" Erwähnung: ein zufälliger Aktenfund in der Anklageschrift gegen den - im Übrigen vom Gericht freigesprochenen - Kapitän des Sklavenschiffs. In "Venus in zwei Akten" greift sie das Schicksal dieses Mädchens wieder auf. Denn es verweise nicht nur auf den physischen Tod, den viele Versklavte während der Überfahrt erlitten. Es stehe zudem für den "sozialen Tod", welche das Archiv in seinem Unvermögen, schwarze Leben zu dokumentieren, befördere
Vor diesem Hintergrund entwirft Hartman in ihrem Aufsatz das Konzept eines "kritischen Fabulierens".Sie denkt darüber nach, "was hätte sein können", und beginnt mit einem erfundenen Detail: der Aussage eines Matrosen, der bezeugt, dass die beiden Mädchen befreundet waren. Davon ausgehend, imaginiert sie eine Geschichte von zwei dem Untergang geweihten Versklavten, die ihre Tage an Bord gemeinsam verbringen, Trost in der Gesellschaft der anderen finden. An Ende hält Venus ihre sterbende Freundin in den Armen und flüstert ihr ins Ohr, dass alles gut werde.
Hartman ist sich bewusst, dass eine solche "Gegengeschichte" vielen als problematisch erscheinen muss. Sie will trotzdem "eine Fantasiegeschichte schreiben, die die Fiktionen der Historiographie übertrifft". Und doch besteht ein Großteil ihres Essays darin, die Unsicherheit über ihr methodisches Verfahren darzulegen.
Hartmans Intervention machte "das Problem des Archivs" gleichwohl zu einer zentralen Frage für die Erforschung der atlantischen Sklaverei. Damit verband sich bald die Kritik schwarzer feministischer Forscherinnen an den Standardmethoden der Sozialgeschichte, die als unzureichend erachtet wurden, die Erfahrungen afrikanischer und afrikanischstämmiger Frauen in den Amerikas zu vermitteln. Hartmans jüngstes Buch unternimmt einen weiteren Versuch, diesen Erfahrungen zur Darstellung zu verhelfen.
Sie nutzt dazu Quellen vor allem von Akteuren, die schwarze Frauen als "Problem" sahen: Gerichts- und Gefängnisakten, Interviews mit Psychologen, soziologische Erhebungen. Und imaginiert auf der Grundlage punktueller Fakten die Sehnsuchtshorizonte ihrer Protagonistinnen. Ein ebenso irritierendes wie faszinierendes Verfahren, changierend zwischen Geschichtsschreibung und Literatur. Sie will ihr Buch jedoch nicht als historische Fiktion verstanden wissen, sondern etikettiert es als eine "Geschichte der Gegenwart" - die Untersuchung der Vergangenheit, um zu zeigen, wie sie unsere Zeit weiterhin heimsucht.
"Aufsässige Leben, schöne Experimente" führt in das frühe zwanzigste Jahrhundert und die erste Phase der "Great Migration" von Schwarzen in die urbanen Zentren des Nordens der Vereinigten Staaten. Die jungen schwarzen Frauen, die im Zentrum der Darstellung stehen, kamen nach New York und Philadelphia in der Hoffnung, den rassistischen Beschränkungen und der Gewalt der Jim-Crow-Gesetze in den Plantagenregionen des Südens zu entkommen. Sie trafen freilich auf heruntergekommene Slums, an Sklaverei gemahnende Hausarbeit und soziale Reformer und Polizisten, die ihre intimsten Aktivitäten zu überwachen suchten. Unter dem Deckmantel der Reform des Wohnungswesens sahen sich die Frauen regelmäßig der Prostitution beschuldigt und fanden sich in "Besserungsanstalten" oder Arbeitshäusern wieder.
Frauen wurden, schreibt Hartman, "auf der Türschwelle ihrer Häuser und in ihren Wohnungen verhaftet, beim Aussteigen aus Taxis, beim Flirten auf der Tanzfläche, beim Warten auf ihre Ehemänner, auf dem Heimweg vom Varieté mit Freundinnen, beim intimen Beisammensein mit einem Geliebten oder wenn sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren". Viele ihrer Protagonistinnen lebten in einer Art "alltäglicher Anarchie" und experimentierten mit neuen Lebensformen: Sie nahmen sich Liebhaber, pflegten lesbische Beziehungen, kleideten und benahmen sich, wie es ihnen gefiel.
Hartman argumentiert, dass schwarze Frauen eine ganze Reihe sozialer Arrangements begründeten, die einst als deviant erachtet wurden, heute aber "normal" geworden sind. Schwarze Frauen, schreibt sie, agierten oft außerhalb gängiger Geschlechternormen, ob sie es wollten oder nicht. Armut und Diskriminierung zwangen sie dazu, Dinge zu tun, die vergleichsweise wenige weiße Frauen taten: für Löhne arbeiten, einen Haushalt führen, und relativ frei Ehen eingehen und wieder auflösen. Ob dies politische Projekte waren, wie Hartman es sehen möchte, oder häufig schlicht aus der Notwendigkeit geborene Verhaltensweisen, bleibt eine offene Frage. ANDREAS ECKERT
Saidiya Hartman: "Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint)".
Aus dem Englischen von Yasemin Dinçer. August Verlag, Berlin 2022. 122 S., br., 14,- Euro.
Saidiya Hartman: "Aufsässige Leben, schöne Experimente". Von rebellischen schwarzen Mädchen, schwierigen Frauen und radikalen Queers.
A. d. Englischen von Anna Jäger. Claassen Verlag, Berlin 2022. 528 S., geb., 28,- Euro.
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»Saidiya Hartman hat ein faszinierendes Buch geschrieben über das Leben junger schwarzer Frauen [...] - so aufsässig und experimentierfreudig wie die Figuren, die in ihm auftreten.« Novina Göhlsdorf Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20220508