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Aufsätze - Übersetzungen - Briefwechsel

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Aufsätze - Übersetzungen - Briefwechsel
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Autorenporträt
Friedrich Hölderlin, am 20. März 1770 in Lauffen am Neckar geboren, starb am 7. Juni 1843 in Tübingen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2001

Gewinn und Verlust
D.E. Sattler ediert Hölderlins Gesänge / Von Jochen Hieber

Es waren einmal, weit über ein Vierteljahrhundert ist das her, zwei Außenseiter, linksradikaler Kleinverleger der eine, Werbegrafiker ohne Abitur der andere. Die beiden lernten sich kennen und beschlossen rasch, ein allseits geachtetes Königreich des Geistes zu stürzen, indem sie ein eigenes, ein Gegenreich gründeten. Karl Dietrich Wolff hieß der Verleger mit bürgerlichem Namen - aber weil er alles Bürgerliche verachtete, nannte er sich einfach KD. Dietrich Eberhard Sattler, der Grafiker, tat es ihm nach oder gleich, er hieß fortan D.E. Das Königreich, das die beiden attackierten, hieß "Große Stuttgarter Ausgabe" und war das gerade der Vollendung entgegenstrebende Lebenswerk von Friedrich Beißner. Der hatte, seit 1943 schon, die Werke des Dichters Friedrich Hölderlin entziffert und ediert - und zwar auf eine Weise, die, bei aller fachlichen Kritik im Detail, doch für die Ewigkeit gemacht schien.

Diesen Prachtbau der Philologie nannte der Hobby-Hölderlinist D.E. Sattler polemisch "eine Ausgabe in der Agonie". In und mit KD Wolffs Frankfurter Kleinverlag "Roter Stern" startete er das so freche wie selbstbewußte Unterfangen "Friedrich Hölderlin. Frankfurter Ausgabe". Im nobelsten Hotel der Stadt, dem "Frankfurter Hof", mieteten die beiden zudem einen Saal und präsentierten den verblüfften Feuilletonisten bei einer Pressekonferenz den Einleitungsband mit Proben davon, wie sie das Spätwerk des Dichters herauszugeben gedachten.

Das Spätwerk, das Hölderlins Gedichte und Gedichtentwürfe aus den Jahren zwischen 1800 und 1806 umfaßt und fast ausschließlich in des Dichters sybillinischer Handschrift überliefert ist, gilt als das diffizilste, deshalb auch umstrittenste Textkonvolut der deutschen Literatur. Beißner hatte die editorischen Schwierigkeiten dadurch zu lösen versucht, daß er in einem wunderbar übersichtlichen Band fertige Gedichte oder verschiedene Fassungen eines Gedichts, wenigstens aber Bruchstücke präsentierte - und in einem anderen, eher verschlungenen Folianten die sogenannten "Lesarten" auflistete, die angesichts der scheinbar gesicherten Texte jedoch nicht über den Status minderrangiger Abweichungen und Korrekturen hinauskamen. Sattlers Einleitungsband aber führte die Handschrift im Faksimile vor und machte damit auf emphatische Weise sichtbar, daß Beißner Hölderlin nicht nur ediert, sondern auch, gerade auch interpretiert hatte: "Bestritten wird", so lautete Sattlers finaler Vorwurf, "daß es bei Hölderlin andere Verderbnisse und Entstellungen gäbe als die reinigenden Eingriffe seiner Herausgeber."

Der Einleitungsband war eine strategische Meisterleistung. Mit ihm hatte sich Sattler als Herausgeber legitimiert. Vollmundig verkündete der Verleger im Sommer 1975, binnen der kommenden fünf Jahre eine neue, zwanzig Bände umfassende historisch-kritische Ausgabe vorlegen zu können - und das alles ohne öffentliche Förderung und zu einem sensationell niedrigen Preis. Ein Coup war geglückt, ein Märchen wahr geworden. Aber nun begann die Wirklichkeit.

Sie begann äußerst vielversprechend. Schon im Herbst 1976 erschien der erste gewichtige Band der Frankfurter Ausgabe: "Elegien und Epigramme". Sattler führte dabei den Nachweis, daß er editorisch jenen Gedichten gewachsen war, die zu Hölderlins schönsten und bedeutendsten gehören, Gedichten überdies, die dem eigentlichen Spätwerk direkt vorausgehen und es schon präludieren. Zudem - und dies sollte fortan die Hauptstärke der Ausgabe sein - konnte er im Gegensatz zu Beißner getrost auf den akribischen Apparat zu den Handschriften verzichten, ganz einfach deshalb, weil er sie in technisch immer besseren, wenngleich oft verkleinerten Fotografien direkt abbildete, ihnen eine typographische Umschrift beifügte und so jede seiner editorischen Entscheidungen für den Leser überprüfbar machte.

Dann gingen die Jahre ins Land. Um 1980, als alles schon fertig sein sollte, existierten gerade mal drei weitere Bände mit editorisch zudem nicht sonderlich anspruchsvollen Texten. Es gab Mißhelligkeiten und Zank zwischen Herausgeber und Verlag, Sattler kümmerte sich vermehrt um eigene Texte, veröffentlichte etwa "Thesen zur Staatenlosigkeit" oder "144 fliegende Briefe" über seinen Dichter. Immerhin hatte er inzwischen an der Universität Bremen eine eigene Arbeitsstelle, was die universitäre Hölderlin-Philologie mit dem Außenseiter freilich kaum versöhnte: Zumal die Edition von Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen stieß auf nachgerade erbitterten Widerstand. Eine hinlängliche Versöhnung gelang mit KD Wolff. Dann ging der "Rote Stern" pleite, aus seiner Asche entstieg, mit identischem Personal und nach einem Hölderlinwort benannt, der "Stroemfeld Verlag". Sehr langsam wuchs die Ausgabe nun, aber sie wuchs. Daß aus dem Hasard des Beginns keine Katastrophe, daß aus der Begeisterung des Anfangs doch Kontinuität wurde, ist ein Wunder für sich.

Zu Höhepunkten des Frankfurter Hölderlin wurden drei ursprünglich gar nicht geplante Supplement-Bände. Sie bieten in bestechender Qualität, originaler Größe und mit sorgfältigster Umschrift die elementaren Handschriften des Dichters, die Frankfurter und Homburger Entwurfsfaszikel etwa zu den Oden "Heidelberg" und "An die Parzen", das Stuttgarter Foliobuch mit Textstufen zum Drama "Empedokles" oder zur Elegie "Der Wanderer", schließlich, sie alle krönend, das Homburger Folioheft mit den Gesängen und hymnischen Entwürfen nach 1800 - also mit dem innersten Kern des Spätwerks.

Bereits 1986 war das Faksimile dieser im konservatorisch prekären Original kaum zugänglichen Handschrift erschienen - und der gebannte Blick auf die 92 Seiten lehrte damals auch, wie schwer oder gar unmöglich selbst eine nur annähernd zweifelsfreie Edition dieses Konvoluts sein würde. Denn der Hölderlin des 1802 angelegten Folioheftes streicht kaum mehr, läßt vielmehr in mal hellerer, mal dunklerer Tinte, mal mit spitzer, mal mit stumpfer Feder seine Verse wachsen, sieht gleichsam unbeteiligt zu, wie eine Schicht des Textes von einer anderen überlagert wird, notiert Zusätze am Rand - aber sind es wirklich nur Zusätze? -, bricht ab, läßt mehrere Seiten frei, beginnt einen neuen Entwurf, um an ihm dasselbe Verfahren zu wiederholen.

Die harsche Kritik an Beißners Edition des Spätwerks hatte Sattlers Ausgabe die Rechtfertigung geliefert. Wie würde er es bei dieser Quellenlage nun selber machen - vor allem anders und besser machen, fragte man sich. Und dann wartete man Jahr und Jahr auf die Königsbände und wollte schon resignieren. Aber nun ist er da, der eigentliche Grund des Frankfurter Hölderlin, nun kann man sie prüfen, die Bände 7/8 mit den "gesängen I und II". Was taugen sie?

Es ist merkwürdig still geblieben seit ihrem Erscheinen zu Anfang April. Nur ein Kritiker hat sich sofort im Hörfunk zu Wort gemeldet und kein gutes Haar an ihnen gelassen. Eine "glatte Verweigerung aller editorischen Usancen" wirft er ihnen vor und die "totale Entmündigung der Leser", den Editor selbst sieht er gar in "eine Art Beziehungswahn von monströsem Ausmaß" verstrickt. Also doch eine Katastrophe? Daß der Kritiker Dietrich Uffhausen heißt, sagt zweierlei: Er ist ein Kenner der Materie, aber auch ein Konkurrent - seine eigene Edition, auch sie gegen Beißner gerichtet und Sattler vorgreifend, erschien bereits 1989. "Bevestigter Gesang" hatte er sie, eine Wendung Hölderlins beschwörend, programmatisch genannt. Ebenso programmatisch spricht nun Sattler in der Einleitung zu Band 8 vom "zerbrochenen gesang dieses dichters". Daß er dies wie bei all seinen kommentierenden und erläuternden Bemerkungen in konsequenter Kleinschrift tut, ist ebenso eine Huldigung an die Größe Hölderlins wie eine ziemliche Zusatzqual für den ohnehin genug geforderten Leser.

Befestigt oder zerborchen? Ja, natürlich gibt es Reinschriften etwa für die Hymne "Friedensfeier", Widmungshandschriften für "Patmos", Druckvorlagen für die "Rhein"-Hymne oder "Die Wanderung". Diese Art Befestigung unterschlägt Sattler auch keineswegs. Aber er hebt sie drucktechnisch, damit auch editorisch nicht besonders hervor. Er gibt ihnen keinen anderen Rang als all den übrigen unter den in toto 288 "segmenten", aus denen für ihn das Spätwerk besteht. Kann das ein? Die philosophische Randnotiz "Die apriorität des Individuellen / über das Ganze" soll gleiche Valenz haben wie die vollständige "Friedensfeier" mit ihrem erhabenen Beginn: "Der himmlischen, still wiederklingenden, / Der ruhigwandelnden Töne voll, / Und gelüftet ist der altgebaute, / Seeliggewohnte Saal . . ."?

Gewiß, es ist fast immer mühselig, Sattlers Versuch einer Textgenese und seinem Umgang mit "der editorisch neuen form des kumulativen textes" zu folgen, zumal das Deutsch, in dem er seine editorischen Entscheidungen herleitet und begründet, von enormer Sprödigkeit ist und von diakritischen Zeichen nur so wimmelt. In der Sache aber hat Sattler recht. Es gibt die "Friedensfeier" eben nicht vollständig, weil Hölderlin wie bei allen anderen Texten des Spätwerks nie mit Überarbeitungen aufhört und nie zu einem definitven, höchstens zu einem erschöpften Ende kommt. Was Sattler im editorischen Teil der "gesänge", eben in Band 8, unternimmt, ist die Mimesis, ist jedenfalls ein um größte Wahrscheinlichkeit bemühter Nachvollzug des dichterischen Verfahrens selbst. Wie oft er im Zuge seiner Arbeit wohl dem einst so heftig befehdeten Friedrich Beißner Abbitte geleistet, wie oft er den Vorgänger beneidet hat um dessen Entschlossenheit zur Hierarchie und zur Entscheidung darüber, was wichtigere und was unwichtigere Verse seien? Die Handschrift des Homburger Folioheftes indes, das ist fraglos einzuräumen, kommt solcher Entscheidungsfreude nicht entgegen.

Alles in allem weit über dreißig Jahre beschäftigt sich D.E. Sattler jetzt hauptsächlich mit Hölderlin. Er beschäftigt sich mit ihm, indem er sich mit ihm identifiziert. Er ist darüber Hölderlins Sachwalter, aber auch sein Prophet geworden. Es dürfte nichts geben, keine Zeile und kein biographisches Detail, was er nicht kennt. Und es sei keineswegs insinuiert, daß er darüber jede Distanz zum Gegenstand seines Forschens verloren habe. Beim dokumentarischen Teil der Gesänge, im Band 7, zeigt sich diese Distanz allenthalben: Präzise wie stets werden die Quellen abgebildet und durch Umschriften kenntlich gemacht. Mit dem editorischen Teil sollte man bis auf weiteres pragmatisch umgehen, also die Reinschriften und Druckfassungen lesen und sich von dort aus, soweit man kann und mag, mit Sattler in Hölderlins offenes, oft auch uferloses Wörtermeer hinauswagen.

Entschieden ambivalent bleibt man am Ende gegenüber der Edition der Gesänge. Denn es ist etwas Paradoxes passiert: So wissend und minutiös der Editor den Gang der gebrochenen Gesänge nachzeichnet, so sehr verdunkelt er ihn gleichzeitig. Ausgezogen einst, den Dichter von der Autorität seiner Herausgeber zu befreien, hat Sattler ihn mit seiner inzwischen erworbenen Autorität fast ganz zu seinem Eigentum gemacht - und ist im Zweifelsfall der einzige, der ihn noch versteht oder zu verstehen glaubt. Die Leser werden dafür mit jenem verschärften Akademismus konfrontiert, mit dem Sattler seine emphatische Identifikation zu kontrollieren sucht.

Herz, Kern und Gipfel des Hölderlinischen Werkes": so hatte der George-Schüler Norbert von Hellingrath einst die späten Gesänge und Hymnenfragmente genannt. Aber trifft dies überhaupt zu? Sicher ist, sie haben Hölderlins psychische Kraft aufgezehrt - am 11. September 1806 wird er von Homburg in die psychiatrische Klinik nach Tübingen transportiert. Knapp drei Jahre zuvor schreibt er an den Verleger Friedrich Wilmans: "Übrigens sind Liebeslieder immer müder Flug, . . . ein anders ist das hohe und reine Frohloken vaterländischer Gesänge." Vaterländisch: das war poetologisch als Anverwandlung griechischer Tradition, religiös als Versöhnung von antikem und christlichem Himmel und politisch im Sinn einer Veredelung des Menschengeschlechts gemeint. All den Gesängen, die aus diesem Geist entstanden oder versucht wurden, merkt man ein stets so erhaben wie auch bemüht in Verse gesetztes geschichtsphilosophisches Programm an, das den einst reinen Ursprung abendländischer Kultur erneuernd in die Gegenwart des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts zu übertragen sucht. Auch daran mußten sie scheitern. Zugleich aber bergen sie einzelne Bilder und Sentenzen von berückender Grandiosität - "Ein Rätsel ist Reinentsprungenes" etwa, "Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch", "Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander", "Was bleibet aber, stiften die Dichter".

Im Sommer 1802 stirbt Susette Gontard, die Diotima der Gedichte und die einzige Frau, bei und mit der Hölderlin Erfüllung fand. Von da an sind ihm Liebeslieder in der Tat ein müder Flug. Die Oden und Elegien, die er seit der ersten Begegnung mit Susette, die er auch über sie schrieb, sind aber selbst dann vollendet, wenn sie Fragmente blieben. In den späten Gesängen transzendiert er irdische Liebe in gewaltige Visionen der Welterlösung, aber auch in die klirrende Kälte der Abstraktion. Nimmt es Wunder, wenn er, seit Mai 1807 in Logis beim Schreinermeister Zimmer und als Wunder des Wahnsinns bestaunt, zu ganz einfachen Versformen zurückkehrt - und als eines der ersten ein Rollengedicht aus Diotimas Sicht schreibt, endend mit der Zeile: "Ja! ich gestand es, ich war die deine"?

In Hölderlins hymnischem Spätwerk aber kann man einer Sprache zuhören, die auf einsamer Höhe mit sich selber spricht und dann verstummt. Seit wir, dank D.E. Sattler und KD Wolff, die Handschrift dieser Gesänge kennen, werden wir keiner ihrer Editionen mehr wirklich trauen. So bringt die Frankfurter Ausgabe selbst bei Verlust noch Gewinn.

Friedrich Hölderlin: "Sämtliche Werke". Frankfurter Ausgabe. Gesänge I und II. Herausgegeben von D.E. Sattler. Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main/Basel 2001. 2 Bände, zus. 1024 S., geb., zus. 456, -, Subskriptionspreis 396,- DM.

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