Mit dem vorliegenden Band wird ein wichtiger Versuch unternommen, die Ereignisse vom 17. Juni 1953 in der DDR aus ihrer bislang isolierten Betrachtung zu lösen und sie zusammen mit den Protestaktionen in anderen ost- und mitteleuropäischen Staaten in eine Krisengeschichte des Sozialismus einzuordnen.
Ausgehend von neuen Erkenntnissen zum Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR und seinem unmittelbaren historischen Umfeld ordnen die Autoren die vielfältigen Protestaktionen in den anderen ost- und mitteleuropäischen Staaten in eine Krisengeschichte des realen Sozialismus ein.So werden die Juni-Erhebung und ihre Nachwirkungen mit anderen Konflikt- und Krisenkonstellationen in Beziehung gesetzt. Dies reicht vom Volksaufstand in Ungarn 1956 über den Prager Frühling 1968, die Streikbewegungen in Polen bis zu den friedlichen Revolutionen 1989/90.Behandelt werden die Fehlentscheidungen in der Wirtschaftspolitik, die Vernachlässigung wichtiger sozialer Gruppen, das fehlende Instrumentarium einer tauglichen Krisenprävention, die inneren Auseinandersetzungen in den kommunistischen Führungsgremien, die Rolle der Sicherheitsdienste und die Schlußfolgerungen der Moskauer Zentrale mit den sich daraus ergebenden neuen Strategien. In einem gesonderten Teil wird nach der Einflußnahme durch den Westen gefragt und die Rolle der Medien untersucht, auch die Reaktionen im Westen finden hier Eingang. Mit dem vorliegenden Band wird ein wichtiger Versuch unternommen, die Ereignisse in der DDR aus ihrer bislang isolierten Betrachtung zu lösen und in einen vergleichenden historischen Kontext zu stellen.
Ausgehend von neuen Erkenntnissen zum Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR und seinem unmittelbaren historischen Umfeld ordnen die Autoren die vielfältigen Protestaktionen in den anderen ost- und mitteleuropäischen Staaten in eine Krisengeschichte des realen Sozialismus ein.So werden die Juni-Erhebung und ihre Nachwirkungen mit anderen Konflikt- und Krisenkonstellationen in Beziehung gesetzt. Dies reicht vom Volksaufstand in Ungarn 1956 über den Prager Frühling 1968, die Streikbewegungen in Polen bis zu den friedlichen Revolutionen 1989/90.Behandelt werden die Fehlentscheidungen in der Wirtschaftspolitik, die Vernachlässigung wichtiger sozialer Gruppen, das fehlende Instrumentarium einer tauglichen Krisenprävention, die inneren Auseinandersetzungen in den kommunistischen Führungsgremien, die Rolle der Sicherheitsdienste und die Schlußfolgerungen der Moskauer Zentrale mit den sich daraus ergebenden neuen Strategien. In einem gesonderten Teil wird nach der Einflußnahme durch den Westen gefragt und die Rolle der Medien untersucht, auch die Reaktionen im Westen finden hier Eingang. Mit dem vorliegenden Band wird ein wichtiger Versuch unternommen, die Ereignisse in der DDR aus ihrer bislang isolierten Betrachtung zu lösen und in einen vergleichenden historischen Kontext zu stellen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.07.2005Moskaus Wille zur Macht
Aufstände im Ostblock in vergleichender Perspektive
Hendrik Bispinck/Jürgen Danyel/Hans Herman Hertle/Hermann Wentker (Herausgeber): Aufstände im Ostblock. Zur Krisengeschichte des realen Sozialismus. Ch. Links Verlag, Berlin 2004. 344 Seiten, 24,90 [Euro].
Fünfzehn Jahre nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Staatenwelt sind die Aufstände gut erforscht, die in regelmäßigen Abständen die fast fünfzigjährige Geschichte der sowjetischen Herrschaft über Ost- und Mitteleuropa immer wieder erschüttert haben. Die Krisen der Jahre 1953, 1956, 1968 und 1980/81 betrafen nicht nur das jeweilige Land, sondern waren zugleich "Krisen des gesamten sowjetischen Imperiums", wie die Herausgeber betonen, die das Ziel verfolgen, die nationalgeschichtliche Perspektive zu überwinden und die Aufstände stärker in den europäischen Kontext der Nachkriegszeit einzuordnen. Dieser Aufgabe werden die einzelnen Beiträge gerecht, auch wenn das Buch Elementares gleichgewichtig neben Marginalem plaziert. Warum finden sich in einem Werk, das Aufstände im Ostblock in vergleichender Perspektive untersucht, Überlegungen zum schwierigen Verhältnis zwischen der SED und den Schwerbeschädigten in der DDR?
Gleich mehrere Aufsätze beschäftigen sich mit dem Aufstand vom 17. Juni 1953. Trotz der wahren Flut von Büchern und Aufsätzen zum Gedenkjahr 2003 werden einige neue Erkenntnisse beigesteuert. Obwohl beispielsweise sowohl den sowjetischen Behörden als auch der SED-Führung die prekäre finanzielle Lage der DDR spätestens seit der Jahreswende 1952/53 bekannt war, versagte das Krisenmanagement und führte zu wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen. Der DDR-Ministerpräsident und SED-Vorsitzende Otto Grotewohl war ein entscheidungsschwacher, desillusionierter und 1953 vollkommen resignierter Funktionär, der nicht in der Lage war, zwischen den "Reformern" innerhalb der SED und dem Hardliner Ulbricht zu vermitteln.
Mehrere Beiträge beschäftigen sich in vergleichender Perspektive mit den Protesten in Ostmitteleuropa. Die alles entscheidende militärische Macht der Sowjetunion, so stellt Hermann Wentker in einem grundlegenden Beitrag den Entwicklungsprozeß überzeugend dar, wurde im Lauf der Zeit immer zögerlicher eingesetzt. 1953 konnte die DDR nur dank der sowjetischen Truppen stabilisiert werden, die in Moskauer Eigenregie eingesetzt wurden und der weitgehend hilflosen SED-Führung den Untergang ersparten. 1956 bemühte sich Chruschtschow in Ungarn, zunächst den Kontakt zu den Regierungen der Satellitenstaaten herzustellen, bevor er die Regierung Nagy blutig niederschlug. Die Ostblocknationen sollten "mehr Autonomie als zu Stalins Zeiten erhalten und sich allmählich in Klientenstaaten wandeln". 1968 fanden sogar mehrere Krisenkonsultationen mit den "Bruderstaaten" statt, bevor die Sowjetunion das Experiment des "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" in der Tschechoslowakei mit militärischer Gewalt beendete. Und bei den Unruhen in Polen 1980/81 konnte sich Moskau nicht einmal mehr zu einer militärischen Lösung durchringen - nicht etwa, weil auf einmal menschliche Regungen von der Kremlführung Besitz ergriffen hätten, sondern weil die KPdSU zunehmend verunsichert war. Die von Hannes Adomeit einmal als "imperial overstretch" bezeichnete weltpolitische Überbürdung behinderte die eigene Handlungsfreiheit bereits erheblich. Der damit einhergehende Verlust des Willens zur Macht ließ unter Gorbatschow die Sowjetunion weiter in die Defensive geraten.
Jürgen Danyel zeigt auf, daß die kommunistischen Machthaber in der DDR, in der Tschechoslowakei und in Ungarn durchaus lernfähig waren. Sie vermieden zunehmend offene Konflikte und verzichteten in den siebziger und achtziger Jahren auf tiefgreifende Eingriffe in das ökonomische und soziale Gefüge. Schließlich sahen sie ein, "daß es klüger war, sich in bestimmten Fragen mit der Bevölkerung zu arrangieren, anstatt sie permanent zu einem vermeintlichen Glück gemäß der ideologischen Vorgaben zu zwingen".
So sinnvoll es ist, nach den Ursachen für Krisen und Aufstände im sowjetischen Machtbereich zu fragen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten, bleibt jedoch ein grundsätzliches Problem: Welchen Anteil hatten die Aufständischen am Niedergang und Fall des kommunistischen Systems? Waren es die Oppositionellen, die das System nach langem Ringen in die Knie zwangen, oder war es nicht viel eher die Sowjetunion, die nach langen Jahren der Sklerose, der Reformunfähigkeit und des Niedergangs ihre Satelliten in die Freiheit entlassen mußte? Der Anteil der Freiheitsbewegungen am Zusammenbruch der Diktaturen im Ostblock sollte durchaus einmal kritischer unter die Lupe genommen werden, als dies bis heute opportun erscheint. Das Ansehen der Oppositionellen und mutigen Aufständischen von 1989 würde selbst dann keineswegs beschädigt, wenn man zum Ergebnis käme, daß - wäre die Sowjetunion noch zum Machterhalt willens gewesen - die Erfolgsaussichten der "Bürgerbewegungen" Ostmitteleuropas etwa so groß gewesen wären wie 1953 oder 1956.
JOACHIM SCHOLTYSECK
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aufstände im Ostblock in vergleichender Perspektive
Hendrik Bispinck/Jürgen Danyel/Hans Herman Hertle/Hermann Wentker (Herausgeber): Aufstände im Ostblock. Zur Krisengeschichte des realen Sozialismus. Ch. Links Verlag, Berlin 2004. 344 Seiten, 24,90 [Euro].
Fünfzehn Jahre nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Staatenwelt sind die Aufstände gut erforscht, die in regelmäßigen Abständen die fast fünfzigjährige Geschichte der sowjetischen Herrschaft über Ost- und Mitteleuropa immer wieder erschüttert haben. Die Krisen der Jahre 1953, 1956, 1968 und 1980/81 betrafen nicht nur das jeweilige Land, sondern waren zugleich "Krisen des gesamten sowjetischen Imperiums", wie die Herausgeber betonen, die das Ziel verfolgen, die nationalgeschichtliche Perspektive zu überwinden und die Aufstände stärker in den europäischen Kontext der Nachkriegszeit einzuordnen. Dieser Aufgabe werden die einzelnen Beiträge gerecht, auch wenn das Buch Elementares gleichgewichtig neben Marginalem plaziert. Warum finden sich in einem Werk, das Aufstände im Ostblock in vergleichender Perspektive untersucht, Überlegungen zum schwierigen Verhältnis zwischen der SED und den Schwerbeschädigten in der DDR?
Gleich mehrere Aufsätze beschäftigen sich mit dem Aufstand vom 17. Juni 1953. Trotz der wahren Flut von Büchern und Aufsätzen zum Gedenkjahr 2003 werden einige neue Erkenntnisse beigesteuert. Obwohl beispielsweise sowohl den sowjetischen Behörden als auch der SED-Führung die prekäre finanzielle Lage der DDR spätestens seit der Jahreswende 1952/53 bekannt war, versagte das Krisenmanagement und führte zu wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen. Der DDR-Ministerpräsident und SED-Vorsitzende Otto Grotewohl war ein entscheidungsschwacher, desillusionierter und 1953 vollkommen resignierter Funktionär, der nicht in der Lage war, zwischen den "Reformern" innerhalb der SED und dem Hardliner Ulbricht zu vermitteln.
Mehrere Beiträge beschäftigen sich in vergleichender Perspektive mit den Protesten in Ostmitteleuropa. Die alles entscheidende militärische Macht der Sowjetunion, so stellt Hermann Wentker in einem grundlegenden Beitrag den Entwicklungsprozeß überzeugend dar, wurde im Lauf der Zeit immer zögerlicher eingesetzt. 1953 konnte die DDR nur dank der sowjetischen Truppen stabilisiert werden, die in Moskauer Eigenregie eingesetzt wurden und der weitgehend hilflosen SED-Führung den Untergang ersparten. 1956 bemühte sich Chruschtschow in Ungarn, zunächst den Kontakt zu den Regierungen der Satellitenstaaten herzustellen, bevor er die Regierung Nagy blutig niederschlug. Die Ostblocknationen sollten "mehr Autonomie als zu Stalins Zeiten erhalten und sich allmählich in Klientenstaaten wandeln". 1968 fanden sogar mehrere Krisenkonsultationen mit den "Bruderstaaten" statt, bevor die Sowjetunion das Experiment des "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" in der Tschechoslowakei mit militärischer Gewalt beendete. Und bei den Unruhen in Polen 1980/81 konnte sich Moskau nicht einmal mehr zu einer militärischen Lösung durchringen - nicht etwa, weil auf einmal menschliche Regungen von der Kremlführung Besitz ergriffen hätten, sondern weil die KPdSU zunehmend verunsichert war. Die von Hannes Adomeit einmal als "imperial overstretch" bezeichnete weltpolitische Überbürdung behinderte die eigene Handlungsfreiheit bereits erheblich. Der damit einhergehende Verlust des Willens zur Macht ließ unter Gorbatschow die Sowjetunion weiter in die Defensive geraten.
Jürgen Danyel zeigt auf, daß die kommunistischen Machthaber in der DDR, in der Tschechoslowakei und in Ungarn durchaus lernfähig waren. Sie vermieden zunehmend offene Konflikte und verzichteten in den siebziger und achtziger Jahren auf tiefgreifende Eingriffe in das ökonomische und soziale Gefüge. Schließlich sahen sie ein, "daß es klüger war, sich in bestimmten Fragen mit der Bevölkerung zu arrangieren, anstatt sie permanent zu einem vermeintlichen Glück gemäß der ideologischen Vorgaben zu zwingen".
So sinnvoll es ist, nach den Ursachen für Krisen und Aufstände im sowjetischen Machtbereich zu fragen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten, bleibt jedoch ein grundsätzliches Problem: Welchen Anteil hatten die Aufständischen am Niedergang und Fall des kommunistischen Systems? Waren es die Oppositionellen, die das System nach langem Ringen in die Knie zwangen, oder war es nicht viel eher die Sowjetunion, die nach langen Jahren der Sklerose, der Reformunfähigkeit und des Niedergangs ihre Satelliten in die Freiheit entlassen mußte? Der Anteil der Freiheitsbewegungen am Zusammenbruch der Diktaturen im Ostblock sollte durchaus einmal kritischer unter die Lupe genommen werden, als dies bis heute opportun erscheint. Das Ansehen der Oppositionellen und mutigen Aufständischen von 1989 würde selbst dann keineswegs beschädigt, wenn man zum Ergebnis käme, daß - wäre die Sowjetunion noch zum Machterhalt willens gewesen - die Erfolgsaussichten der "Bürgerbewegungen" Ostmitteleuropas etwa so groß gewesen wären wie 1953 oder 1956.
JOACHIM SCHOLTYSECK
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Aufschlussreich findet Rezensent Joachim Scholtyseck diesen Sammelband, der die Aufstände im Ostblock in vergleichender Perspektive untersucht. Wie er berichtet, betrafen die Krisen der Jahre 1953, 1956, 1968 und 1980/81 nicht nur das jeweilige Land, sondern waren, wie die Herausgeber betonen, zugleich "Krisen des gesamten sowjetischen Imperiums". Die einzelnen Beiträge werden nach Ansicht Scholtysecks ihrer Absicht gerecht, die nationalgeschichtliche Perspektive zu überwinden und die Aufstände stärker in den europäischen Kontext der Nachkriegszeit einzuordnen. Etwas verwundert zeigt er sich allerdings über Überlegungen zum schwierigen Verhältnis zwischen der SED und den Schwerbeschädigten in der DDR, die er im Kontext des Band deplatziert findet. Er hebt hervor, dass der Band trotz der ausufernden Literatur zum Thema "einige neue Erkenntnisse" liefert, etwa in Bezug auf den Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR. Hermann Wentker zeige in einem grundlegenden Beitrag, dass die alles entscheidende militärische Macht der Sowjetunion im Lauf der Zeit immer zögerlicher eingesetzt wurde. Jürgen Danyel zeige auf, dass die kommunistischen Machthaber in der DDR, in der Tschechoslowakei und in Ungarn durchaus lernfähig waren. Einem Wunsch Scholtysecks kommen die Beiträge nicht nach - einer kritischeren Untersuchung des Anteil der Aufständischen am Niedergang und Fall des kommunistischen Systems.
© Perlentaucher Medien GmbH
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