Produktdetails
- Verlag: MITTLER & SOHN
- 6. Aufl.
- Seitenzahl: 615
- Deutsch
- Abmessung: 210mm
- Gewicht: 888g
- ISBN-13: 9783813207088
- ISBN-10: 3813207080
- Artikelnr.: 02537924
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.02.2002In Minenfeldern
Das MGFA schreibt die Geschichte
von Krieg und Gesellschaft
Unter der Oberfläche der öffentlichen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg schlummert so manches heikle Thema, Unterwasserminen gleich, denen man blind aufsitzen, die man aber auch kontrolliert zur Explosion bringen kann. Mit dem Buch über die Wilhelm Gustloff hat Günther Grass gezielt eine Diskussion um das Leid der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen entzündet. Damit hat er eine andere Mine gestreift, ohne dass sie jedoch detoniert wäre: Die Rolle der deutschen Marine im Zweiten Weltkrieg, deren bis heute sauberes Bild sich nicht zuletzt aus der „Rettung über See” in den letzten Kriegstagen unter dem Hitler-Nachfolger Großadmiral Dönitz speist.
Das Bild der sauberen Marine, die mit dem verbrecherischen Krieg nichts zu tun hatte, wird von Jörg Hillmann, Historiker und Fregattenkapitän, in Frage gestellt. Die Kriegsmarine war lange vor dem Zweiten Weltkrieg zu einem Abbild der Volksgemeinschaft geworden, zum Inbegriff des Dienens im Führerstaat. Sie kämpfte treu bis zum Schluss, und die Rettung über See ist zumindest als zentral gewollte Aktion ein Mythos.
Hillmann trug dies auf einem Kolloquium des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) in Potsdam vor, das der Vorbereitung des neunten Bandes der Reihe „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg” gewidmet war. Kriegsgeschichte ist wieder modern. Aber nicht als Geschichte der Schlachten und militärischen Operationen, sondern als Geschichte der Kriegsgesellschaft. Die Neugier der Späteren gilt dem Handeln und Erleben der Menschen, die Krieg führten und erlitten.
Weil das MGFA diesen Trend nicht allein der zivilen Zunft überlassen will, hat es für den Band „Krieg und Gesellschaft 1939 – 1945” einen bunten Haufen junger Historiker rekrutiert. Sie wollen gemeinsam die problem- und facettenreiche Geschichte der deutschen Gesellschaft im Zweiten Weltkrieg, an der Front und in der Heimat, schreiben. Jörg Echternkamp soll dieses modernste Schlachtschiff des „Weltkriegswerks” auf Kurs bringen und in den schwerfälligen Verband von zehn Bänden eingliedern, dessen erster schon 1979 vom Stapel lief.
Normalität im Krieg?
Dass der Zugriff auf „die” Gesellschaft im Krieg nicht unproblematisch ist, ging aus dem Beitrag von Rafael Zagovec hervor. Während des Krieges unterzog die amerikanische Psychological Warfare Division (PWD) deutsche Kriegsgefangene langen Verhören. Die Amerikaner, darunter namhafte Soziologen wie Edward Shils, wollten wissen, was in den Köpfen der Deutschen vorging. Sie setzten dazu die Methoden der modernen amerikanischen Sozialwissenschaft ein.
Je länger der Krieg dauerte, je mehr Daten die PWD erhob, desto unübersichtlicher wurde das Bild von der deutschen Gesellschaft. Versuche, einzelne Gruppen mit bestimmten Wahrnehmungsmustern des Krieges in Verbindung zu bringen und Anhänger des Regimes von potenziellen Trägern eines Neuanfangs zu trennen, scheiterten. Als einziger gemeinsamer Nenner ließ sich eine bis zum Ende ungebrochene nationalistische Weltanschauung feststellen: Die Deutschen kämpften weiter für ihr Vaterland, obwohl der Kampf sinnlos geworden war.
Ein Historiker kann die amerikanischen Verhörprotokolle als Quellen für die Wahrnehmungsgeschichte des Krieges nutzen, er kann sich von ihnen aber auch erkenntnistheoretisch verunsichern lassen: Wie weit kommt man mit „normalen” sozialwissenschaftlichen Methoden angesichts der radikal anderen Normalität des Krieges?
Für Tobias Jersak ist die Kriegsgesellschaft so sehr durch den Krieg bestimmt, dass der Krieg selbst die Kategorien für ihre Beschreibung liefern muss. Er unterscheidet daher die Deutschen nach ihrer wechselnden Nähe zur Front. Auf diese Weise nähert er sich dem für das Verständnis der Kriegsgesellschaft wichtigen Holocaust, der als „vorweggenommener Endkampf”, wie Hitler ihn seit 1942 verstand, selbst ein Produkt des Krieges war. Mit dem Näherrücken der Front verbreitete sich das Wissen um den Massenmord. Die schreckliche Erkenntnis, dass der Krieg trotz Ausschaltung der von der Propaganda zum Hauptfeind erklärten Juden verloren war, hatte eine lähmende Wirkung. Vielleicht war es dieses Wissen im Angesicht der Katastrophe, das die Deutschen zu jener Kriegsgesellschaft machte, die nicht mehr die Kraft besaß, sich von den Tyrannen zu befreien.
Dass die Radikalisierung und Totalisierung des Krieges ab 1942/43 eine Erklärung für die moralische Indifferenz der Deutschen sein kann, zeigte auch Karola Fings, die den Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen im Reich untersucht hat. Sie mussten Trümmer beseitigen, Bomben entschärfen, Leichen bergen. Alles unter Aufsicht der SS, doch vor den Augen der Bevölkerung. Kommunale Behörden griffen in der Not des Krieges nur zu gern auf die Arbeitskräfte zurück. Die SS half schnell und unbürokratisch.
Die Radikalisierung des Krieges gibt den Interpretationsrahmen für die historische Analyse der deutschen Gesellschaft im Zweiten Weltkrieg, eine Analyse, die methodisch offen ist und die Zivilbevölkerung einbezieht. Der neunte Band des Weltkriegswerks wird ein weites Panorama entfalten, von Menschenführung in der Wirtschaft, über die NSDAP und Widerstand bis zu Zwangsarbeit. Andere Fragen sind weiter offen. So fehlt es insbesondere an Studien zu Flucht und Vertreibung. Man darf aber gespannt sein, welche Minen die „neue” Kriegsgeschichte noch hochgehen lassen wird.
CHRISTIAN
JOSTMANN
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Das MGFA schreibt die Geschichte
von Krieg und Gesellschaft
Unter der Oberfläche der öffentlichen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg schlummert so manches heikle Thema, Unterwasserminen gleich, denen man blind aufsitzen, die man aber auch kontrolliert zur Explosion bringen kann. Mit dem Buch über die Wilhelm Gustloff hat Günther Grass gezielt eine Diskussion um das Leid der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen entzündet. Damit hat er eine andere Mine gestreift, ohne dass sie jedoch detoniert wäre: Die Rolle der deutschen Marine im Zweiten Weltkrieg, deren bis heute sauberes Bild sich nicht zuletzt aus der „Rettung über See” in den letzten Kriegstagen unter dem Hitler-Nachfolger Großadmiral Dönitz speist.
Das Bild der sauberen Marine, die mit dem verbrecherischen Krieg nichts zu tun hatte, wird von Jörg Hillmann, Historiker und Fregattenkapitän, in Frage gestellt. Die Kriegsmarine war lange vor dem Zweiten Weltkrieg zu einem Abbild der Volksgemeinschaft geworden, zum Inbegriff des Dienens im Führerstaat. Sie kämpfte treu bis zum Schluss, und die Rettung über See ist zumindest als zentral gewollte Aktion ein Mythos.
Hillmann trug dies auf einem Kolloquium des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) in Potsdam vor, das der Vorbereitung des neunten Bandes der Reihe „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg” gewidmet war. Kriegsgeschichte ist wieder modern. Aber nicht als Geschichte der Schlachten und militärischen Operationen, sondern als Geschichte der Kriegsgesellschaft. Die Neugier der Späteren gilt dem Handeln und Erleben der Menschen, die Krieg führten und erlitten.
Weil das MGFA diesen Trend nicht allein der zivilen Zunft überlassen will, hat es für den Band „Krieg und Gesellschaft 1939 – 1945” einen bunten Haufen junger Historiker rekrutiert. Sie wollen gemeinsam die problem- und facettenreiche Geschichte der deutschen Gesellschaft im Zweiten Weltkrieg, an der Front und in der Heimat, schreiben. Jörg Echternkamp soll dieses modernste Schlachtschiff des „Weltkriegswerks” auf Kurs bringen und in den schwerfälligen Verband von zehn Bänden eingliedern, dessen erster schon 1979 vom Stapel lief.
Normalität im Krieg?
Dass der Zugriff auf „die” Gesellschaft im Krieg nicht unproblematisch ist, ging aus dem Beitrag von Rafael Zagovec hervor. Während des Krieges unterzog die amerikanische Psychological Warfare Division (PWD) deutsche Kriegsgefangene langen Verhören. Die Amerikaner, darunter namhafte Soziologen wie Edward Shils, wollten wissen, was in den Köpfen der Deutschen vorging. Sie setzten dazu die Methoden der modernen amerikanischen Sozialwissenschaft ein.
Je länger der Krieg dauerte, je mehr Daten die PWD erhob, desto unübersichtlicher wurde das Bild von der deutschen Gesellschaft. Versuche, einzelne Gruppen mit bestimmten Wahrnehmungsmustern des Krieges in Verbindung zu bringen und Anhänger des Regimes von potenziellen Trägern eines Neuanfangs zu trennen, scheiterten. Als einziger gemeinsamer Nenner ließ sich eine bis zum Ende ungebrochene nationalistische Weltanschauung feststellen: Die Deutschen kämpften weiter für ihr Vaterland, obwohl der Kampf sinnlos geworden war.
Ein Historiker kann die amerikanischen Verhörprotokolle als Quellen für die Wahrnehmungsgeschichte des Krieges nutzen, er kann sich von ihnen aber auch erkenntnistheoretisch verunsichern lassen: Wie weit kommt man mit „normalen” sozialwissenschaftlichen Methoden angesichts der radikal anderen Normalität des Krieges?
Für Tobias Jersak ist die Kriegsgesellschaft so sehr durch den Krieg bestimmt, dass der Krieg selbst die Kategorien für ihre Beschreibung liefern muss. Er unterscheidet daher die Deutschen nach ihrer wechselnden Nähe zur Front. Auf diese Weise nähert er sich dem für das Verständnis der Kriegsgesellschaft wichtigen Holocaust, der als „vorweggenommener Endkampf”, wie Hitler ihn seit 1942 verstand, selbst ein Produkt des Krieges war. Mit dem Näherrücken der Front verbreitete sich das Wissen um den Massenmord. Die schreckliche Erkenntnis, dass der Krieg trotz Ausschaltung der von der Propaganda zum Hauptfeind erklärten Juden verloren war, hatte eine lähmende Wirkung. Vielleicht war es dieses Wissen im Angesicht der Katastrophe, das die Deutschen zu jener Kriegsgesellschaft machte, die nicht mehr die Kraft besaß, sich von den Tyrannen zu befreien.
Dass die Radikalisierung und Totalisierung des Krieges ab 1942/43 eine Erklärung für die moralische Indifferenz der Deutschen sein kann, zeigte auch Karola Fings, die den Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen im Reich untersucht hat. Sie mussten Trümmer beseitigen, Bomben entschärfen, Leichen bergen. Alles unter Aufsicht der SS, doch vor den Augen der Bevölkerung. Kommunale Behörden griffen in der Not des Krieges nur zu gern auf die Arbeitskräfte zurück. Die SS half schnell und unbürokratisch.
Die Radikalisierung des Krieges gibt den Interpretationsrahmen für die historische Analyse der deutschen Gesellschaft im Zweiten Weltkrieg, eine Analyse, die methodisch offen ist und die Zivilbevölkerung einbezieht. Der neunte Band des Weltkriegswerks wird ein weites Panorama entfalten, von Menschenführung in der Wirtschaft, über die NSDAP und Widerstand bis zu Zwangsarbeit. Andere Fragen sind weiter offen. So fehlt es insbesondere an Studien zu Flucht und Vertreibung. Man darf aber gespannt sein, welche Minen die „neue” Kriegsgeschichte noch hochgehen lassen wird.
CHRISTIAN
JOSTMANN
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