Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.07.1999Bomben auf friedliche Bürger
Der Guerrillakrieg macht keinen Staat mehr: Martin van Crevelds Weltgeschichte der Wehrverfassung
Staatsgedanken treffen in Deutschland auf einen anspruchsvollen Markt. Die Deutschen haben mit ihrem Staat unterschiedliche Erfahrungen gemacht und wissen nicht, ob sie ihn - zum Beispiel zugunsten Europas - aufgeben oder behalten sollen. Das zwingt zur Reflexion. Nach Martin van Creveld besteht ihr Irrtum in dem Glauben, sie könnten die Staatsfrage so oder so entscheiden. Die Geschichte hat sie bereits beantwortet. Der Staat geht unter.
Dieses Ergebnis hängt natürlich davon ab, wie man den Staat definiert. Van Creveld übernimmt die herkömmliche Beschreibung des Staates als Einheit von Gebiet, Volk, Macht und Souveränität, gibt der Souveränität aber einen Dreh, mit dem er in eine deutsche Marktlücke stößt. Zur Souveränität gehört die Möglichkeit, Krieg zu führen. Historisch leuchtet das sofort ein. Aber seit Carl Schmitts "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet", hat es hierzulande niemand mehr laut gesagt. Van Creveld ist weit davon entfernt, Schmittianer zu sein. Er will weder staatliche Machtausübung rechtfertigen - dann könnte er nicht den Untergang des Staates ankündigen - noch Begriffe zuspitzen. Er will Konsequenzen aus der weltgeschichtlichen Entwicklung der politischen Organisationen ziehen. Das Buch ist praktisch eine Welt-Verfassungsgeschichte. Seine Konsequenz ist: Die einzelnen Staaten können keine Kriege mehr führen.
Wie jeder sieht, sind die großen Kriege zurückgegangen. Atomare Sprengköpfe und Wasserstoffbomben haben das Risiko für alle Staaten so groß werden lassen, daß keiner mehr wagt, einen Krieg zu beginnen. Die Staaten sind auch nicht mehr so stark wie früher. Soziale Wohltaten müssen sie mangels Masse zurücknehmen. Die internationale Vernetzung der Technologie hat sie voneinander abhängig gemacht. Gegen Terroristen und Guerillas haben sich ihre Waffen als stumpf erwiesen. Und Regierung und Verwaltung haben an Grundvertrauen verloren. Da die Möglichkeit, Kriege zu führen, zum Wesen des modernen Staates gehört, gibt es ihn nicht mehr, wenn und soweit die Möglichkeit wegfällt. Die Menschheit wird jedoch nicht in Anarchie und Chaos stürzen. Auf Inseln des Wohlstandes könnte es den Menschen sogar bessergehen, weil sie private Sicherheitsdienste bezahlen können und nicht den Ballast staatlicher Administration mitschleppen müssen. Den ärmeren Gegenden wird allerdings die relative Fairneß des Staates fehlen.
Die Betonung der Fähigkeit zum Kriege hat nicht nur historische Gründe, sie läßt sich auch biographisch erklären. Van Creveld ist israelischer Militärhistoriker, lehrt an der hebräischen Universität in Jerusalem und berät Streitkräfte verschiedener Staaten. Sein Buch liest sich denn auch ein wenig wie ein Lagebericht. Etwa ein Fünftel besteht aus militärisch inspirierten Analysen. Aber wenn man sich das bewußtgemacht hat, wird der Standpunkt des Militärhistorikers zum staatstheoretischen Gewinn. Eigentlich ist es trivial: Die modernen Staaten haben so viele Kriege führt, daß ein distanzierter Militär sie wahrscheinlich besser versteht als ein Soziologe, Philosoph oder gar Theologe. Daß beispielsweise Brandenburg-Preußen die altständischen Vertretungen im Osten aufhob, im Westen aber bis zu den großen Reformen nach 1800 beibehielt, ist wahrscheinlich damit zu erklären, daß die westlichen Besitzungen militärisch nie ernsthaft zu verteidigen waren. Ähnlich untermauert van Creveld seine Thesen mit einer Fülle von geopolitischen, strategischen, logistischen, statistischen und wirtschaftlichen Fakten, die für das Kriegführen erheblich sind. Das ist nicht bellizistisch, sondern militärisch gedacht und weckt das Gefühl, beschützt zu werden. Soldaten haben zwar etwas gegen Administration, wissen aber, daß der Nachschub stimmen muß, auch beim Staat. Die Zahlen langweilen auch nicht, sie fesseln, weil sie in die Geschichtserzählung eingewoben und gelegentlich einfach durch Bewertungen ersetzt werden. Das Buch ist sehr gut zu lesen und ideal gegliedert. Die Gliederung macht nicht nur den Stoff durchsichtig, sie stützt sogar die Argumentation.
Aber Lagebericht und Casino liegen nicht weit auseinander. Manchmal ist die Sprache schnodderig und sind die Urteile kühn bis zum Leichtsinn. Beispiel: "Die Folterkammer und das Konzentrationslager vollendeten nur das Werk, welches das Klassenzimmer begonnen hatte." Die Verwunderung über diesen Satz legt sich erst wieder, wenn man sich klarmacht, daß er nur die Sekundärtugenden meint, die Oskar Lafontaine Helmut Schmidt vorgeworfen hat. Auch die Verklärung dynastischer Heiratsegeln eine "Form des Rassismus" zu nennen ist zu flott. Etwas schwerer wiegen Faktenschnitzer. "Amtsinhaber bürgerlicher Herkunft wie von Stein und von Hardenberg, die erst vor kurzem geadelt worden waren", passen zwar in van Crevelds Geschichtsbild, aber nicht zu der historischen Tatsache, daß Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom und zum Stein aus altem reichsfreiherrlichen Geschlecht und Karl August von Hardenberg aus hannoverschem Adel stammten. Hardenberg wurde 1814 gefürstet. Aber van Creveld hat eine material- und kenntnisreiche Welt-Verfassungsgeschichte geschrieben und kann nicht in allen Verfassungsgeschichten in gleicher Weise zu Hause sein.
Wegen der Unmöglichkeit, überall Bescheid zu wissen, beschäftigen sich die meisten Historiker nicht mit Weltgeschichte. Aber der moderne Staat verlangt eine Welt-Verfassungsgeschichte. Er ist kein nationales oder regionales, sondern ein welthistorisches Phänomen, das man nur angemessen versteht, wenn man es mit anderen Möglichkeiten der Vergesellschaftung vergleicht. Van Creveld schildert deshalb zunächst die politische Landschaft vor dem Staat: Stämme, Häuptlingstümer, Stadtstaaten, Großreiche und zeigt dann, wie sich die größeren Territorialherren gegen die Kirche, den Kaiser, den territorialen Adel und die Städte durchgesetzt, wie sie Bürokratien entwickelt, Infrastrukturen geschaffen, ihre Macht monopolisiert und das Volk diszipliniert haben. Wichtig für die aktuelle Europa-Politik. Außerhalb Nordamerikas und Europas in den Grenzen der weströmischen Kirche vor der Reformation war der moderne Staat ein glatter Mißverfolg. Preußen und Deutschland kommen in der Gesamtdarstellung selbst dann überraschend gut weg, wenn man bedenkt, daß die heute eher geringgeachteten organisatorischen und militärischen Leistungen Deutschlands einen Militärhistoriker beeindrucken müssen. Die welthistorische Perspektive schließt jedes Wort über die Einzigartigkeit der NS-Verbrechen aus. Die Erfindung des Nationalismus schreibt van Creveld allerdings Fichte zu. Dabei gebührt das Urheberrecht der Französischen Revolution.
Das wirkliche Problem der Darstellung liegt darin, daß die Gründe für die Entwicklung der Gesellschaft nicht deutlich werden, weil van Creveld die jeweiligen Grunderwartungen nicht sachangemessen versteht. Er stellt richtig fest, vormoderne Gesellschaften hätten in der Regel nicht zwischen privat und öffentlich, Person und Amt unterschieden. Dann beweist sein wiederholter Vorwurf, die vormodernen Herrscher hätten ihre Herrschaft als Privateigentum betrachtet, aber nur, daß er die vormodernen Verhältnisse durch die Brille der modernen Unterscheidung zwischen privat und öffentlich betrachtet. Wenn es diese Unterscheidung nicht gibt, kann es auch keine Privatsachen geben. Daß vormoderne Herrschaft personenbezogener und damit "moralischer" war als moderner politischer Einfluß, sieht van Creveld natürlich, nicht aber das anschließende Problem: Wie ist die Entpersönlichung der Politik zu denken? War sie für die Beteiligten nicht eher eine Katastrophe? War sie eine Katastrophe, wie kann man dann noch versuchen, "in die Zukunft des Staates zu blicken, indem ich (van Creveld) seine Vergangenheit untersuche"?
Aber der Wert eines Buches bemißt sich nicht nach möglichen Einwänden, sondern danach, ob es die Diskussion anregen kann. In dieser Hinsicht gibt es keinen Zweifel. Van Crevelds Buch regt an.
GERD ROELLECKE
Martin van Creveld: "Aufstieg und Untergang des Staates". Aus dem Englischen von Klaus Fritz und Norbert Juraschitz. Gerling Akademie Verlag, München 1999. 520 S., geb., 64,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Guerrillakrieg macht keinen Staat mehr: Martin van Crevelds Weltgeschichte der Wehrverfassung
Staatsgedanken treffen in Deutschland auf einen anspruchsvollen Markt. Die Deutschen haben mit ihrem Staat unterschiedliche Erfahrungen gemacht und wissen nicht, ob sie ihn - zum Beispiel zugunsten Europas - aufgeben oder behalten sollen. Das zwingt zur Reflexion. Nach Martin van Creveld besteht ihr Irrtum in dem Glauben, sie könnten die Staatsfrage so oder so entscheiden. Die Geschichte hat sie bereits beantwortet. Der Staat geht unter.
Dieses Ergebnis hängt natürlich davon ab, wie man den Staat definiert. Van Creveld übernimmt die herkömmliche Beschreibung des Staates als Einheit von Gebiet, Volk, Macht und Souveränität, gibt der Souveränität aber einen Dreh, mit dem er in eine deutsche Marktlücke stößt. Zur Souveränität gehört die Möglichkeit, Krieg zu führen. Historisch leuchtet das sofort ein. Aber seit Carl Schmitts "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet", hat es hierzulande niemand mehr laut gesagt. Van Creveld ist weit davon entfernt, Schmittianer zu sein. Er will weder staatliche Machtausübung rechtfertigen - dann könnte er nicht den Untergang des Staates ankündigen - noch Begriffe zuspitzen. Er will Konsequenzen aus der weltgeschichtlichen Entwicklung der politischen Organisationen ziehen. Das Buch ist praktisch eine Welt-Verfassungsgeschichte. Seine Konsequenz ist: Die einzelnen Staaten können keine Kriege mehr führen.
Wie jeder sieht, sind die großen Kriege zurückgegangen. Atomare Sprengköpfe und Wasserstoffbomben haben das Risiko für alle Staaten so groß werden lassen, daß keiner mehr wagt, einen Krieg zu beginnen. Die Staaten sind auch nicht mehr so stark wie früher. Soziale Wohltaten müssen sie mangels Masse zurücknehmen. Die internationale Vernetzung der Technologie hat sie voneinander abhängig gemacht. Gegen Terroristen und Guerillas haben sich ihre Waffen als stumpf erwiesen. Und Regierung und Verwaltung haben an Grundvertrauen verloren. Da die Möglichkeit, Kriege zu führen, zum Wesen des modernen Staates gehört, gibt es ihn nicht mehr, wenn und soweit die Möglichkeit wegfällt. Die Menschheit wird jedoch nicht in Anarchie und Chaos stürzen. Auf Inseln des Wohlstandes könnte es den Menschen sogar bessergehen, weil sie private Sicherheitsdienste bezahlen können und nicht den Ballast staatlicher Administration mitschleppen müssen. Den ärmeren Gegenden wird allerdings die relative Fairneß des Staates fehlen.
Die Betonung der Fähigkeit zum Kriege hat nicht nur historische Gründe, sie läßt sich auch biographisch erklären. Van Creveld ist israelischer Militärhistoriker, lehrt an der hebräischen Universität in Jerusalem und berät Streitkräfte verschiedener Staaten. Sein Buch liest sich denn auch ein wenig wie ein Lagebericht. Etwa ein Fünftel besteht aus militärisch inspirierten Analysen. Aber wenn man sich das bewußtgemacht hat, wird der Standpunkt des Militärhistorikers zum staatstheoretischen Gewinn. Eigentlich ist es trivial: Die modernen Staaten haben so viele Kriege führt, daß ein distanzierter Militär sie wahrscheinlich besser versteht als ein Soziologe, Philosoph oder gar Theologe. Daß beispielsweise Brandenburg-Preußen die altständischen Vertretungen im Osten aufhob, im Westen aber bis zu den großen Reformen nach 1800 beibehielt, ist wahrscheinlich damit zu erklären, daß die westlichen Besitzungen militärisch nie ernsthaft zu verteidigen waren. Ähnlich untermauert van Creveld seine Thesen mit einer Fülle von geopolitischen, strategischen, logistischen, statistischen und wirtschaftlichen Fakten, die für das Kriegführen erheblich sind. Das ist nicht bellizistisch, sondern militärisch gedacht und weckt das Gefühl, beschützt zu werden. Soldaten haben zwar etwas gegen Administration, wissen aber, daß der Nachschub stimmen muß, auch beim Staat. Die Zahlen langweilen auch nicht, sie fesseln, weil sie in die Geschichtserzählung eingewoben und gelegentlich einfach durch Bewertungen ersetzt werden. Das Buch ist sehr gut zu lesen und ideal gegliedert. Die Gliederung macht nicht nur den Stoff durchsichtig, sie stützt sogar die Argumentation.
Aber Lagebericht und Casino liegen nicht weit auseinander. Manchmal ist die Sprache schnodderig und sind die Urteile kühn bis zum Leichtsinn. Beispiel: "Die Folterkammer und das Konzentrationslager vollendeten nur das Werk, welches das Klassenzimmer begonnen hatte." Die Verwunderung über diesen Satz legt sich erst wieder, wenn man sich klarmacht, daß er nur die Sekundärtugenden meint, die Oskar Lafontaine Helmut Schmidt vorgeworfen hat. Auch die Verklärung dynastischer Heiratsegeln eine "Form des Rassismus" zu nennen ist zu flott. Etwas schwerer wiegen Faktenschnitzer. "Amtsinhaber bürgerlicher Herkunft wie von Stein und von Hardenberg, die erst vor kurzem geadelt worden waren", passen zwar in van Crevelds Geschichtsbild, aber nicht zu der historischen Tatsache, daß Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom und zum Stein aus altem reichsfreiherrlichen Geschlecht und Karl August von Hardenberg aus hannoverschem Adel stammten. Hardenberg wurde 1814 gefürstet. Aber van Creveld hat eine material- und kenntnisreiche Welt-Verfassungsgeschichte geschrieben und kann nicht in allen Verfassungsgeschichten in gleicher Weise zu Hause sein.
Wegen der Unmöglichkeit, überall Bescheid zu wissen, beschäftigen sich die meisten Historiker nicht mit Weltgeschichte. Aber der moderne Staat verlangt eine Welt-Verfassungsgeschichte. Er ist kein nationales oder regionales, sondern ein welthistorisches Phänomen, das man nur angemessen versteht, wenn man es mit anderen Möglichkeiten der Vergesellschaftung vergleicht. Van Creveld schildert deshalb zunächst die politische Landschaft vor dem Staat: Stämme, Häuptlingstümer, Stadtstaaten, Großreiche und zeigt dann, wie sich die größeren Territorialherren gegen die Kirche, den Kaiser, den territorialen Adel und die Städte durchgesetzt, wie sie Bürokratien entwickelt, Infrastrukturen geschaffen, ihre Macht monopolisiert und das Volk diszipliniert haben. Wichtig für die aktuelle Europa-Politik. Außerhalb Nordamerikas und Europas in den Grenzen der weströmischen Kirche vor der Reformation war der moderne Staat ein glatter Mißverfolg. Preußen und Deutschland kommen in der Gesamtdarstellung selbst dann überraschend gut weg, wenn man bedenkt, daß die heute eher geringgeachteten organisatorischen und militärischen Leistungen Deutschlands einen Militärhistoriker beeindrucken müssen. Die welthistorische Perspektive schließt jedes Wort über die Einzigartigkeit der NS-Verbrechen aus. Die Erfindung des Nationalismus schreibt van Creveld allerdings Fichte zu. Dabei gebührt das Urheberrecht der Französischen Revolution.
Das wirkliche Problem der Darstellung liegt darin, daß die Gründe für die Entwicklung der Gesellschaft nicht deutlich werden, weil van Creveld die jeweiligen Grunderwartungen nicht sachangemessen versteht. Er stellt richtig fest, vormoderne Gesellschaften hätten in der Regel nicht zwischen privat und öffentlich, Person und Amt unterschieden. Dann beweist sein wiederholter Vorwurf, die vormodernen Herrscher hätten ihre Herrschaft als Privateigentum betrachtet, aber nur, daß er die vormodernen Verhältnisse durch die Brille der modernen Unterscheidung zwischen privat und öffentlich betrachtet. Wenn es diese Unterscheidung nicht gibt, kann es auch keine Privatsachen geben. Daß vormoderne Herrschaft personenbezogener und damit "moralischer" war als moderner politischer Einfluß, sieht van Creveld natürlich, nicht aber das anschließende Problem: Wie ist die Entpersönlichung der Politik zu denken? War sie für die Beteiligten nicht eher eine Katastrophe? War sie eine Katastrophe, wie kann man dann noch versuchen, "in die Zukunft des Staates zu blicken, indem ich (van Creveld) seine Vergangenheit untersuche"?
Aber der Wert eines Buches bemißt sich nicht nach möglichen Einwänden, sondern danach, ob es die Diskussion anregen kann. In dieser Hinsicht gibt es keinen Zweifel. Van Crevelds Buch regt an.
GERD ROELLECKE
Martin van Creveld: "Aufstieg und Untergang des Staates". Aus dem Englischen von Klaus Fritz und Norbert Juraschitz. Gerling Akademie Verlag, München 1999. 520 S., geb., 64,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main