Mehr als ein Jahr weilte Guy Delisle mit seiner Familie im südostasiatischen Birma, das offiziell eigentlich Myanmar heißt. Während seine Frau dort für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen arbeitet, erfährt Guy Delisle die politische und soziale Realität des von einer geächteten Militärjunta beherrschten Landes. Als er die Gelegenheit erhält, birmesischen Künstlern Unterricht in Trickfilmanimation zu geben, erschließt sich ihm ein ganz persönlicher Einblick in das Leben und Leiden der einfachen Bevölkerung. Auf fast dreihundert Seiten entstehen so Aufzeichnungen aus einem familiären Mikro- und einem birmesischen Makrokosmos.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.07.2009Erziehungsurlaub im Land der Repression
Abschluss der Comic-Trilogie über asiatische Diktaturen: Die „Aufzeichnungen aus Birma” von Guy Delisle
Im Jahr 2007 demonstrierten in Birma beziehungsweise Myanmar, wie der Vielvölkerstaat von seiner Regierung genannt wird, zehntausende buddhistische Mönche friedlich gegen die brutale Militärherrschaft. Innerhalb kürzester Zeit wurden alle unabhängigen Journalisten mit einem Arbeitsverbot belegt oder ausgewiesen. Der versiegende Bilderstrom von den Ereignissen auf den Straßen hatte zur Folge, dass die Aufmerksamkeit der westlichen Öffentlichkeit daran bald drastisch abnahm. Ob tatsächlich, wie es von offizieller Seite hieß, bei den anschließenden Säuberungsaktionen der Soldaten lediglich nur zehn Menschen umkamen, bleibt damit unüberprüfbar – und weil keine Berichte hierüber oder über das Schicksal der Verschleppten und Gefolterten vorliegen, die anrühren könnten, interessiert das bis heute auch nur die wenigsten.
Da wirkt es wie Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet George Orwell, der Schöpfer einer der düstersten Dystopien der Literaturgeschichte, „1984”, am Anfang des letzten Jahrhunderts in Birma als Sergeant diente, in jenem Land also, in dem seine Vision eines geschichtsverdrehenden „Wahrheitsministeriums” nun Wirklichkeit geworden ist.
Es ist nicht bekannt, ob es in Orwells Ozeanien Comics gibt; doch es ist anzunehmen, dass, wäre er mit ihnen vertraut gewesen, er sie zum Agitationsinstrument in den Händen der geheimen Widerständler gemacht hätte. Denn seit einiger Zeit sind gerade sie es, die überall dort authentische Geschichten im Bild, dem heute wichtigsten Medium, liefern, wo Kameras der Zutritt verwehrt ist.
So fuhr der Amerikaner Joe Sacco für seine Arbeiten in die Krisenregionen Palästina und Bosnien; in den Alben „Der Fotograf” reist ein französisches Autorenteam in den 1980ern durch Afghanistan. Der Frankokanadier Guy Delisle wiederum erregte in den letzten Jahren mit seinen Comic-Reportagen „Shenzhen” und „Pjöngjang” einiges Aufsehen. Mit den umfangreichen „Aufzeichnungen aus Birma” erweitert er sie nun zu einer Trilogie über seine Aufenthalte in asiatischen Diktaturen.
Teure T-Shirts, verpönte Stars
Was Delisles Bände von anderen Comic-Reportagen unterscheidet, ist die unjournalistische Perspektive. Nach China und Nordkorea führte ihn nicht so sehr das Interesse am jeweiligen Land, sondern ein Auftrag als Trickfilmer. Die Bücher entstanden sozusagen als Nebenprodukt und drehen sich vor allem um die Schwierigkeiten der Alltagsbewältigung in der Fremde. Diese Perspektive wird in den „Aufzeichnungen aus Birma” noch verstärkt. Delisle ist dieses Mal nicht beruflich unterwegs: 2005 nutzt er den Erziehungsurlaub, um seine Frau, die für „Ärzte ohne Grenzen” arbeitet, für 14 Monate mit dem Baby nach Rangun zu begleiten.
Im Mittelpunkt stehen deshalb auch oft die typischen Erfahrungen als junger Vater, der sich um die richtige Ernährung oder einen Krippenplatz für seinen Sohn kümmern muss – was Delisle nicht davon abhält, Eindrücke der birmanischen Verhältnisse zu sammeln. So zum Beispiel, wenn er den Kinderwagen an den Absperrungen um das Haus Aung San Suu Kyis vorbeischiebt, der Friedensnobelpreisträgerin, die, seit Jahrzehnten vollkommen isoliert, der Diktatur mutig die Stirn bietet.
Die Konzentration auf das Praktische bringt es freilich mit sich, dass Delisles Blick mehr als den Repressalien, unter denen die Bevölkerung zu leiden hat, den Absurditäten des Alltags gilt, die einem westlichen Touristen ins Auge stechen. Etwa die teuren T-Shirts von offiziell verpönten amerikanischen Popstars, die sich nur die Kinder der reichen Generäle kaufen können; oder der Rechtsverkehr, der von den Machthabern zur Distanzierung von der britischen Kolonialherrschaft eingeführt wurde – wegen zahlreicher Embargos gibt es allerdings ausschließlich japanische Autos, die für den Linksverkehr ausgerichtet sind.
Zweimal unternimmt Delisle zusammen mit seiner Frau einen Ausflug in Krisengebiete Birmas. Von den ethnischen Minderheiten und den nicht versorgten Heroinsüchtigen oder Aidskranken dort erfährt er aber lediglich aus Erzählungen. „Mist, ich dachte, es wäre etwas mehr Wilder Westen”, lautet denn auch sein Fazit.
In der Tat könnte man Delisles „Aufzeichnungen” vorhalten, dass sie dem unmittelbaren Schrecken in einer Diktatur wie Birma aus dem Weg gehen und ihnen damit die bewegende humanistische Tiefe anderer Comic-Reportagen fehlt. Alle Ereignisse werden episodisch erzählt, stets mit dem Blick auf eine Pointe; ebenso reduziert gibt sich der minimalistisch-karikaturhafte Stil der Zeichnungen, bei denen Delisle im Vergleich zu seinen früheren Bänden auf jede Schraffur verzichtet, was einen noch größeren emotionalen Abstand zum Geschehen schafft. Man könnte diesen shoppenden und im Internet surfenden Autor also als typisch westlich dekadent bezeichnen.
Vor allem ist er aber eines: ein sehr ehrlicher Erzähler, der der Wahrheit vielleicht oft näher ist als jene seiner Kollegen, die die direkte Konfrontation suchen. Delisles Waffe ist seine geradezu poetische Ironie; dabei hinterfragt er sich selbst mit seinen touristischen Vorurteilen genauso wie die humanitäre Verpflichtung der „Ärzte ohne Grenzen”, die am Ende aufgrund von Schikanen seitens der Regierung das Land verlassen. So sind Delisles „Aufzeichnugen aus Birma” zu einem seltenen Glücksfall geworden: Der höchst unterhaltsame subtile Humor nimmt dem bedrückenden Hintergrund der Handlung kaum etwas von seiner Schärfe.
THOMAS VON STEINAECKER
GUY DELISLE: Aufzeichnungen aus Birma. Aus dem Französischen von Kai Wilksen. Reprodukt Verlag, Berlin 2009. 272 Seiten, 20 Euro.
Viel Abstand zum Geschehen: der Autor im exklusiven „australischen Club” Abb. aus dem bespr. Band
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Abschluss der Comic-Trilogie über asiatische Diktaturen: Die „Aufzeichnungen aus Birma” von Guy Delisle
Im Jahr 2007 demonstrierten in Birma beziehungsweise Myanmar, wie der Vielvölkerstaat von seiner Regierung genannt wird, zehntausende buddhistische Mönche friedlich gegen die brutale Militärherrschaft. Innerhalb kürzester Zeit wurden alle unabhängigen Journalisten mit einem Arbeitsverbot belegt oder ausgewiesen. Der versiegende Bilderstrom von den Ereignissen auf den Straßen hatte zur Folge, dass die Aufmerksamkeit der westlichen Öffentlichkeit daran bald drastisch abnahm. Ob tatsächlich, wie es von offizieller Seite hieß, bei den anschließenden Säuberungsaktionen der Soldaten lediglich nur zehn Menschen umkamen, bleibt damit unüberprüfbar – und weil keine Berichte hierüber oder über das Schicksal der Verschleppten und Gefolterten vorliegen, die anrühren könnten, interessiert das bis heute auch nur die wenigsten.
Da wirkt es wie Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet George Orwell, der Schöpfer einer der düstersten Dystopien der Literaturgeschichte, „1984”, am Anfang des letzten Jahrhunderts in Birma als Sergeant diente, in jenem Land also, in dem seine Vision eines geschichtsverdrehenden „Wahrheitsministeriums” nun Wirklichkeit geworden ist.
Es ist nicht bekannt, ob es in Orwells Ozeanien Comics gibt; doch es ist anzunehmen, dass, wäre er mit ihnen vertraut gewesen, er sie zum Agitationsinstrument in den Händen der geheimen Widerständler gemacht hätte. Denn seit einiger Zeit sind gerade sie es, die überall dort authentische Geschichten im Bild, dem heute wichtigsten Medium, liefern, wo Kameras der Zutritt verwehrt ist.
So fuhr der Amerikaner Joe Sacco für seine Arbeiten in die Krisenregionen Palästina und Bosnien; in den Alben „Der Fotograf” reist ein französisches Autorenteam in den 1980ern durch Afghanistan. Der Frankokanadier Guy Delisle wiederum erregte in den letzten Jahren mit seinen Comic-Reportagen „Shenzhen” und „Pjöngjang” einiges Aufsehen. Mit den umfangreichen „Aufzeichnungen aus Birma” erweitert er sie nun zu einer Trilogie über seine Aufenthalte in asiatischen Diktaturen.
Teure T-Shirts, verpönte Stars
Was Delisles Bände von anderen Comic-Reportagen unterscheidet, ist die unjournalistische Perspektive. Nach China und Nordkorea führte ihn nicht so sehr das Interesse am jeweiligen Land, sondern ein Auftrag als Trickfilmer. Die Bücher entstanden sozusagen als Nebenprodukt und drehen sich vor allem um die Schwierigkeiten der Alltagsbewältigung in der Fremde. Diese Perspektive wird in den „Aufzeichnungen aus Birma” noch verstärkt. Delisle ist dieses Mal nicht beruflich unterwegs: 2005 nutzt er den Erziehungsurlaub, um seine Frau, die für „Ärzte ohne Grenzen” arbeitet, für 14 Monate mit dem Baby nach Rangun zu begleiten.
Im Mittelpunkt stehen deshalb auch oft die typischen Erfahrungen als junger Vater, der sich um die richtige Ernährung oder einen Krippenplatz für seinen Sohn kümmern muss – was Delisle nicht davon abhält, Eindrücke der birmanischen Verhältnisse zu sammeln. So zum Beispiel, wenn er den Kinderwagen an den Absperrungen um das Haus Aung San Suu Kyis vorbeischiebt, der Friedensnobelpreisträgerin, die, seit Jahrzehnten vollkommen isoliert, der Diktatur mutig die Stirn bietet.
Die Konzentration auf das Praktische bringt es freilich mit sich, dass Delisles Blick mehr als den Repressalien, unter denen die Bevölkerung zu leiden hat, den Absurditäten des Alltags gilt, die einem westlichen Touristen ins Auge stechen. Etwa die teuren T-Shirts von offiziell verpönten amerikanischen Popstars, die sich nur die Kinder der reichen Generäle kaufen können; oder der Rechtsverkehr, der von den Machthabern zur Distanzierung von der britischen Kolonialherrschaft eingeführt wurde – wegen zahlreicher Embargos gibt es allerdings ausschließlich japanische Autos, die für den Linksverkehr ausgerichtet sind.
Zweimal unternimmt Delisle zusammen mit seiner Frau einen Ausflug in Krisengebiete Birmas. Von den ethnischen Minderheiten und den nicht versorgten Heroinsüchtigen oder Aidskranken dort erfährt er aber lediglich aus Erzählungen. „Mist, ich dachte, es wäre etwas mehr Wilder Westen”, lautet denn auch sein Fazit.
In der Tat könnte man Delisles „Aufzeichnungen” vorhalten, dass sie dem unmittelbaren Schrecken in einer Diktatur wie Birma aus dem Weg gehen und ihnen damit die bewegende humanistische Tiefe anderer Comic-Reportagen fehlt. Alle Ereignisse werden episodisch erzählt, stets mit dem Blick auf eine Pointe; ebenso reduziert gibt sich der minimalistisch-karikaturhafte Stil der Zeichnungen, bei denen Delisle im Vergleich zu seinen früheren Bänden auf jede Schraffur verzichtet, was einen noch größeren emotionalen Abstand zum Geschehen schafft. Man könnte diesen shoppenden und im Internet surfenden Autor also als typisch westlich dekadent bezeichnen.
Vor allem ist er aber eines: ein sehr ehrlicher Erzähler, der der Wahrheit vielleicht oft näher ist als jene seiner Kollegen, die die direkte Konfrontation suchen. Delisles Waffe ist seine geradezu poetische Ironie; dabei hinterfragt er sich selbst mit seinen touristischen Vorurteilen genauso wie die humanitäre Verpflichtung der „Ärzte ohne Grenzen”, die am Ende aufgrund von Schikanen seitens der Regierung das Land verlassen. So sind Delisles „Aufzeichnugen aus Birma” zu einem seltenen Glücksfall geworden: Der höchst unterhaltsame subtile Humor nimmt dem bedrückenden Hintergrund der Handlung kaum etwas von seiner Schärfe.
THOMAS VON STEINAECKER
GUY DELISLE: Aufzeichnungen aus Birma. Aus dem Französischen von Kai Wilksen. Reprodukt Verlag, Berlin 2009. 272 Seiten, 20 Euro.
Viel Abstand zum Geschehen: der Autor im exklusiven „australischen Club” Abb. aus dem bespr. Band
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Christoph Haas zeigt sich sehr eingenommen von Guy Delisles Comic-Reportage "Aufzeichnungen aus Birma", nach "Shenzen" und "Pjöngjang" über China und Nordkorea das jüngste Werk des kanadischen Zeichners. Er würdigt Delisle, der seine für "Ärzte ohne Grenzen" tätige Frau immer wieder nach Asien begleitet, als "Ostasien-Experten der internationalen Comic-Szene". Neben der Offenheit für alle möglichen Eindrücke, für Politisches wie Kulinarisches, schätzt er Delisles Talent, Details zu finden, die das Ganze erhellen. Die bedrückenden Erfahrungen einer Diktatur sieht Haas in Delisles Comics ebenso thematisiert wie ihre kuriosen Seiten. Zudem betont er, dass - im Unterschied zur Fotoreportage - der Autor und seine jeweilige Situation in der Comic-Reportage sichtbar sei: "das sensible Ich und die weite, schöne, schreckliche Welt". Besonders gefällt Haas der Zeichenstil Delisles, der sich von Band zu Band verändere. In "Aufzeichnungen aus Birma" dominieren, wie er schreibt, "deutliche Schwarz-Weiß-Kontraste, viel Weiß, feine Linien und saubere Schatten". Der Leser erfährt etwas über "die Welt hinter den Schlagzeilen", lobt Haas.
© Perlentaucher Medien GmbH
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