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Produktdetails
  • Verlag: Müller (Otto), Salzburg
  • Seitenzahl: 159
  • Deutsch
  • Abmessung: 16mm x 117mm x 195mm
  • Gewicht: 308g
  • ISBN-13: 9783701310319
  • ISBN-10: 3701310319
  • Artikelnr.: 09853347
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Autorenporträt
Christine Lavant, geb. 1915 in St. Stefan im Lavanttal, Kärnten, lebte mit Ausnahme von zwei Jahren im Geburtsort. Sie schrieb Lyrik und Prosa und erhielt zahlreiche Preise. 1954 und 1964 den Georg-Trakl-Preis für Lyrik und 1970 den Großen Staatspreis für Literatur. Die Autorin verstarb 1973.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2001

Es ist gut, verrückt zu sein unter Verrückten
Das Ziel der Verdammnis: Christine Lavants "Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus" / Von Harald Hartung

Die Entdeckung dieser verschollenen "Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus" verdankt sich einem merkwürdigen Zufall. Im November 1959 strahlte die BBC eine Funkerzählung aus. Ihr Titel war "Asylum Diary", Sprecherin die Schauspielerin Joan Plowright. Die Verfasserin des Skripts jedoch konnte die Sendung nicht mehr erleben. Nora Wydenbruck, die 1894 in London geborene und in Kärnten und Wien aufgewachsene Übersetzerin und Schriftstellerin, war wenige Monate zuvor gestorben. Bei der BBC hat sich kein Band der Sendung erhalten. Der "Asylum Diary" zugrunde liegende Text war kein Original, sondern die Übersetzung einer Erzählung Christine Lavants. Sie hätte weiter im Nachlaß der Funkautorin geschlummert, wäre es nicht - fast vierzig Jahre später - zu einer Dissertation über Nora Wydenbruck gekommen. Im Verzeichnis des Nachlasses fand sich bei den Lavant-Materialien der Eintrag: "MS deutsch ohne Titelblatt (es beginnt mit "Ich bin auf Abteilung ,Zwei'. Das ist die Beobachtungsstation für die ,Leichteren', und man kommt eigentlich für rechts wegen nur hinein, wenn man ,Drei' schon hinter sich hat . . .")."

Daß es von der Lavant ein Manuskript mit "Aufzeichnungen" gab, wußte man aus Briefen und anderen Zeugnissen. Daß für das erhaltene "MS deutsch ohne Titelblatt" der Titel "Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus" zu ergänzen ist, erfahren wir jetzt erst aus einem Brief Christine Lavants. Am 21. März 1951 schreibt sie an Nora Wydenbruck: "Um auf Ihren schönen Plan zurückzukommen: Den ersten Teil des ,dicken' Buches ergäbe das ,Krüglein', den zweiten das ,Kind' und auch der dritte wäre meines Erachtens schon da, nämlich in den ,Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus'."

Das "dicke Buch" sollte eine Trilogie aus den erwähnten Titeln werden. Nora Wydenbruck hatte dafür als Titel "The Unlettered Child. A True Story" vorgesehen, also etwa "Das ungebildete beziehungsweise unverbildete Kind. Eine wahre Geschichte". Aber trotz ihrer Bemühungen in Vorträgen und Artikeln sind weder das Buch noch einzelne dieser Texte in England erschienen.

Auf deutsch dagegen lagen zwei der Erzählungen bereits vor: "Das Kind" und "Das Krüglein" waren 1948 beziehungsweise 1949 in dem kleinen Stuttgarter Brentano-Verlag erschienen. Und auch für die 1946 geschriebenen "Aufzeichnungen" hätte sich eine Publikationsmöglichkeit geboten. In dem erwähnten Brief an Nora Wydenbruck heißt es dazu: "Mein Verleger war seinerzeit begeistert davon nur wollte er absolut einen ,frommen' Schluss dazu haben. Der ist mir allerdings bis jetzt noch nicht gelungen. Freilich trage ich mich mit der Absicht, die ,Aufzeichnungen' weiter zu führen nur bedürfte ich dazu Ruhe und Zeit weil ich nimmer wie früher überquellend von innerem Muss bin, welches sich weder um Sorgen des Alltags noch um irgendwelche seelischen Bedrängnisse kümmert. Meines Erachtens müsste der Schluss des Buches so geartet sein, dass das Ganze unter dem Titel und dem Sinne ,Das Ziel der Verdammnis' herauskommen könnte."

Der "fromme Schluß" wurde nie geschrieben, und auch aus der Erweiterung als "Ziel der Verdammnis" wurde nichts. Die Erzählung blieb Fragment. Doch gibt es im Lavant-Nachlaß offenbar zwei weiterführende Texte, die mit den "Aufzeichnungen" zusammenhängen. Warum sie jetzt nicht mitgedruckt wurden, wird nicht recht deutlich. Von ihnen heißt es in einer Anmerkung etwas sibyllinisch: "Ihr Zusammenhang wird an anderer Stelle darzustellen sein." Wie auch immer; und alle Philologie beiseite: Die Frage bleibt, warum die Lavant den Text nicht vollendet und oder zumindest in seiner fragmentarischen Form publiziert hat.

Nora Wydenbruck, die Lavants Bedeutung erstaunlich früh erkannte, hatte die "Aufzeichnungen" immerhin "die beste Ihrer Prosaarbeiten" genannt. Es war die Autorin selbst, die die Lust oder, besser, den Mut zu einer Veröffentlichung verlor und ihre Übersetzerin im Februar 1958 inständig beschwor, das einzige Manuskript, das sich in ihren Händen befand, zurückzuschicken und sogar die Übersetzung - "um Christi willen" - zu verbrennen: "Mein Leben ist ohnehin ein einziges Grauen und wenn diese Aufzeichnungen nicht aus der Welt geschafft werden muss ich auch vor der Todesstunde noch zittern."

Es waren weder literarische Gründe, etwa eine überstarke Selbstkritik, die Christine Lavant zu dieser beschwörenden Bitte bewogen, noch gar religiöse Motive. Es waren soziale Ängste; und sie waren keine Phantome, sondern durchaus gerechtfertigte Befürchtungen. Christine Habernig, geborene Thonhauser, hatte früh erfahren, was Isolation und soziale Ausgrenzung bedeuten. Als neuntes Kind in einer Bergarbeiterfamilie aufgewachsen, von Kindheit an durch Skrofulose und Lungentuberkulose behindert, in ihrer Ausbildung auf Volks- und Hauptschule beschränkt, war der passionierten Leserin die Literatur und vor allem die Lyrik Rainer Maria Rilkes zum entscheidenden Erlebnis und zum Anstoß des eigenen Schreibens geworden.

Bis auf wenige Jahre in Klagenfurt verbrachte die Dichterin ihr Leben in dem kleinen Ort St. Stefan im Lavanttal, wo sie sich und ihren Mann über Jahre durch Strickarbeiten erhielt. Das Pseudonym, das sie mit dem Namen des Tales wählte, scheint sie nicht allzu lange vor Zudringlichkeit, ja Neid und Haß der dörflichen Umwelt bewahrt zu haben. Schon 1951 bedauert sie in einem Brief an Nora Wydenbruck die bisherigen Publikationen von Erzählungen und Gedichten. Sie wagte sich nicht aufs Postamt und fürchtete die Kirchleute zu treffen. Sie schreibt: "Das ist das Schwere wenn man als Dichter nur aus der Wahrhaftigkeit etwas holen kann, dass man dann Vorgänge blosslegt und in die Öffentlichkeit bringt, die besser verborgen bleiben." Und der spätere, der beschwörende Brief vom Februar 1958 nennt sehr konkrete Gründe für den Verzicht auf die Publikation der "Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus": "Ich habe auf dieser Welt gar nichts mehr als meine Geschwister und diese würden durch die Veröffentlichung der Aufzeichnungen peinlich blossgestellt und ihre Ehen würden auch zerstört werden."

Man begreift, es war keine Übertreibung. Die Lektüre zeigt es, noch fünfzig Jahre später. Die Ich-Erzählerin und auch das andere Personal sind, für jeden Leser erkennbar, nach der Realität gezeichnet, zudem einer leicht aufschlüsselbaren. Die junge Frau, die auf Abteilung "Zwei", die Beobachtungsstation für die "Leichteren", kommt, obwohl sie von Rechts wegen dort nicht hineingehört, weil sie die obligate Station "Drei" noch nicht hinter sich hat, wird nicht nur deshalb von ihren Mitpatientinnen mit Mißtrauen verfolgt - sie ist auch sonst ein Ausnahmefall, ein Sonderfall. Sie hat Augengläser und eine Aktentasche, und die Schwestern sagen "Sie" und "Fräulein" zu ihr, und für den Primarius ist sie der erste Fall in seiner Praxis, der aus eigenem Antrieb, nämlich wegen eines Selbstmordversuchs, gekommen ist. Freilich nicht als zahlende Privatpatientin, sondern auf Kosten ihrer Heimatgemeinde, und das deklassiert sie von vornherein bei ihren Leidensgenossinnen.

Das gesellschaftliche Zwangssystem der Anstalt ist der verstärkte Reflex auf die Gesellschaft draußen. Die Zwangsjacke ist nicht Metapher, sondern Realität. Die Erzählerin, die einem Psychiater vorgeführt wird, muß befürchten, daß die Gemeinde, die für die Kosten aufkam, auch die Bestätigung einfordert, daß sie tatsächlich verrückt ist. Auf die Frage des Psychiaters, warum sie nicht arbeite, kommt die Stimme der Oberschwester: "Sie will ja nur dichten." Das darauf folgende Gelächter entspannt die Situation und lenkt die Erörterung ihres Falles auf die konventionelle Vorstellung, ein strenger Dienst in irgendeinem Haushalt sei das beste Mittel gegen Hysterie. Aber die Erzählerin weiß es anders: "Es ist gut, verrückt zu sein unter Verrückten, und es war eine Sünde, ein geistiger Hochmut, so zu tun, als wäre ich es nicht."

Sie ist nicht verrückt und tut auch nicht so, doch sie erlebt die Anfälle ihrer Leidensgenossen sympathetisch, wenngleich mit voller Klarheit und Deutlichkeit. Sie leidet mit Agnes, der Gekreuzigten, und wendet sich liebevoll dem Mädchen Renate zu, das jemand liebt, der Himmelsschuhe machen kann. Sie erklärt der Frau Cent von der schweren Abteilung Drei, aus der ein Jünger Buddhas spricht, daß es nicht bloß sieben, sondern neun Himmel gebe, und läßt sich - aus Mitleid, aber auch um sie loszuwerden -, zur Behauptung hinreißen, daß sie selbst ein Medium sei: "Nicht wahr, man schreibt ja nicht selbst, sondern irgendwer schreibt in uns, weiß Gott, was für hohe Weisheiten da noch zu Tage kommen können." Die Erzählerin ist aber kein Medium, sondern eine unbestechliche Analytikerin, deren Klarsicht durch Mitleid und Empathie ungetrübt bleibt. Es ist die Nüchternheit ihrer Beobachtung, die freilich zu äußersten Schlüssen führt, zu der Frage: "Warum, wenn es Engel gibt, obliegt keinem die Aufgabe, Dinge, die erst in der äußersten Hölle vorkommen dürften, hier auf Erden zu verhindern?"

Auf diese Frage findet der Text keine Antwort. Wohl deshalb bricht die Erzählung nach der Schilderung des sechswöchigen Aufenthalts in der Irrenanstalt ab: "Man hat mich geheilt hier. Ja, ich muß wohl annehmen, daß ich geheilt bin, denn man behält mich nicht mehr hier, obwohl der Gerichtspsychiater mir ein Jahr mindestens bewilligt hat." Christine Lavant muß eine Fortsetzung, ein größeres Ganzes im Auge gehabt haben und mit ihm den ambitionierteren Titel "Das Ziel der Verdammnis". Ihrer freundschaftlich gesinnten Londoner Briefpartnerin schreibt Lavant: "Aber merken Sie wohl, liebe gütige Dame, wie weit dieser Weg noch ist? Ich kann ja nichts Unwirkliches schreiben und müsste also vorher die Hölle hinter mich gebracht haben und dem Ziel irgendwie nahe sein."

Was die Lavant als Weg schreibend hinter sich gebracht hatte, ist durch Tatsachen belegt. Man kann sie im Nachwort nachlesen. Eine Krankenakte belegt, daß sie als Zwanzigjährige nach einem Suizidversuch im Herbst 1935 freiwillig sechs Wochen in der Klagenfurter "Landes-Irrenanstalt" gewesen ist und dort mit einer Arsenkur behandelt wurde. Und wo es solche Fakten gibt, lassen sich auch in der Personnage genügend Vorbilder nachweisen, die die Furcht der Autorin berechtigt erscheinen lassen, ihre "stückweisen Spiegelbilder" möchten als reale Wiedergänger, als Fratzen der Realität auf sie eindringen. Der Abstand von zehn Jahren und die literarische Stilisierung hätten nichts bewirkt. Auch Nora Wydenbruck sah das wohl ein und schlug der Dichterin vor, sie solle das Manuskript nicht vernichten, sondern mit dem Vermerk "Erst nach dreißig (oder fünfzig) Jahren veröffentlichen" ihrem Nachlaß einordnen. Freilich schickte sie das Manuskript nicht zurück - oder kam nicht mehr dazu.

Kommen die "Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus" nun zur rechten Zeit? Ich denke schon. Das Fragment, das wir in Händen halten, konkurriert nicht mehr mit jenem Stück Weltliteratur, das mit dem Titel "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus" prekäre Vergleiche nahelegt. Wir lesen es als ein wichtiges Dokument aus dem Schaffen einer Autorin, die damals, in den fünfziger Jahren, als das Autodafé erwogen wurde, die Prosa aufgab und sich anschickte eine große Lyrikerin zu werden. Der erste ihrer reifen Gedichtbände, "Die Bettlerschale", erschien 1956. "Ich will das Brot mit den Irren teilen, / täglich ein Stück von dem großen Entsetzen", beginnt eines dieser Gedichte, und der Vers erhebt sich über das faktisch Erlebte und prosaisch Dokumentierbare und also auch über alle sozialen Rücksichtnahmen: "Meine Flügel sind älter als deine Geduld, / Meine Flügel flogen dem Mut voraus, / der das Irren auf sich nahm."

Thomas Bernhard, dessen autobiographischer Text "Ein Kind" auf einen Titel der Dichterin anspielt, nahm das Gedicht in seine Auswahl von Lavant-Gedichten auf. "Dieses Buch" - so Bernhard seinerzeit - "ist das elementare Zeugnis eines von allen guten Geistern mißbrauchten Menschen als große Dichtung, die in der Welt noch nicht so, wie sie es verdient, bekannt ist."

Christine Lavant: "Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus". Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Annette Steinsiek und Ursula A. Schneider. Otto Müller Verlag, Salzburg 2001. 160 S., geb., 29,50 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Harald Hartung begrüßt das Erscheinen des Buches, das auf realen Erlebnissen der österreichischen Autorin in einer Irrenanstalt beruht, und er weist darauf hin, dass Christine Lavant eigentlich wollte, dass das Manuskript dieses Prosafragments vernichtet wird. Der Rezensent geht ausführlich auf die Geschichte des Manuskripts ein, das nur durch einen Zufall wiedergefunden wurde und beklagt, dass der Verlag zwei weitere Texte aus dem Nachlass, die offensichtlich mit den "Aufzeichnungen" zusammenhängen, nicht mitgedruckt hat. Hartung hält das Buch für ein "wichtiges Dokument aus dem Schaffen" Lavants, die sich später ganz der Lyrik zuwandte, und betont, dass die Autorin nicht aus künstlerischen Zweifeln heraus, sondern aus "sozialen Gründen" einer Veröffentlichung abgeneigt gewesen war.

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