"Damals beschloß ich, Georgien auf mich zu nehmen. (...) Ich vergewisserte mich im Atlas, daß es Georgien wirklich gibt. Tapfer wiederholte ich, es gibt Georgien." Der reisende Erzähler, begleitet von Giorgi und Giwi, Dolmetscher und Fahrer, von den Erzählungen Pasternaks, Majakowskis, Lermontovs oder Tolstois, bewegt sich über die von Schlaglöchern durchsetzten Straßen kreuz und quer durch das Land, durch das Georgien der "Freude, der Feste, der Gesänge und Tänze", durch das Georgien der Kriege und Bürgerkriege, des Elends und Zerfalls. Den Zufällen der Reise folgend, erzählt er merkwürdige Geschichten von Tiflis, der Millionenmetropole im Dunkeln, die nachts von brennenden Autoreifen beleuchtet wird, von Bauern der menschen- und gottverlassenen Provinz, deren Regale prall gefüllt sind mit den Werken der Weltliteratur, von der nebulösen kaukasischen Herkunft seines eigenen Ururgroßvaters, vom allgegenwärtigen Stalin, dem berühmtesten und berüchtigsten Georgier, der babylonischenVerw irrung durch Dutzende kaukasischer Sprachen und Dialekte - und fortwährend vom gewaltigen Kaukasus, der für die Griechen das Ende der Welt bedeutete.
Georgien ist Grenze und zugleich unablässige Überschreitung und Verwischung der Grenze: zwischen Orient und Okzident, Asien und Europa, Ost und West, Gestern und Heute. Scheinbar Vertrautes und Fremdes wechseln sich ab und verkehren sich. Jenseits davon blitzt eine vollkommene, nicht anverwandelbare Fremde auf - zugleich ein Versprechen und eine Bedrohung, - die dann zuweilen mehr das Ich des Erzählers meint als das "Außen", das Land. Eich erzählt von der Begegnung mit Georgien immer auch als unvorhersehbare Begegnung mit sich selbst.
Aufzeichnungen aus Georgien, Clemens Eichs letztes Buch, ist die literarische Gestaltung eines "strahlend finsteren Traums", eines "erfundenen Landes", das es doch wirklich gibt, aber ganz unwirklich ist, das, voller Widersprüche, Absurditäten, Unentschiedenheiten, kein festes Bild erlaubt, nur unentwegt Fr agen stellt. In einem eindringlichen Erzählen, einer Mischung aus Beobachtungen, Assoziationen, tagebuchartigen Notizen, Reflexionen und Exkursen wird ein "kaukasischer Teppich" geknüpft, der dem Leser das Land kunstvoll in Sprache verwandelt.
Georgien ist Grenze und zugleich unablässige Überschreitung und Verwischung der Grenze: zwischen Orient und Okzident, Asien und Europa, Ost und West, Gestern und Heute. Scheinbar Vertrautes und Fremdes wechseln sich ab und verkehren sich. Jenseits davon blitzt eine vollkommene, nicht anverwandelbare Fremde auf - zugleich ein Versprechen und eine Bedrohung, - die dann zuweilen mehr das Ich des Erzählers meint als das "Außen", das Land. Eich erzählt von der Begegnung mit Georgien immer auch als unvorhersehbare Begegnung mit sich selbst.
Aufzeichnungen aus Georgien, Clemens Eichs letztes Buch, ist die literarische Gestaltung eines "strahlend finsteren Traums", eines "erfundenen Landes", das es doch wirklich gibt, aber ganz unwirklich ist, das, voller Widersprüche, Absurditäten, Unentschiedenheiten, kein festes Bild erlaubt, nur unentwegt Fr agen stellt. In einem eindringlichen Erzählen, einer Mischung aus Beobachtungen, Assoziationen, tagebuchartigen Notizen, Reflexionen und Exkursen wird ein "kaukasischer Teppich" geknüpft, der dem Leser das Land kunstvoll in Sprache verwandelt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.06.1999Dunkle Tage in Tiflis
Clemens Eichs Reise nach Georgien · Von Thomas Medicus
Vom Schritt über die Linie erhoffte sich der im vergangenen Jahr überraschend verstorbene Clemens Eich die Plötzlichkeit des Unerwarteten. Schock, Schreck und Not sind in den postum veröffentlichten "Aufzeichnungen aus Georgien" seine Begleiter. Landschaften der Apokalypse empfindet der gnostische Erlösungswille als heimatliches Terrain. Georgien, das Eich zwischen 1995 und 1997 dreimal besuchte, war für ihn solch eine Topographie. Das auf zweihundert Seiten Umfang geplante Journal besteht aus Fragmenten, fertiggestellt wurden nicht einmal siebzig Seiten. Daraus entstand ein schmaler, aber großartiger Band, der die Umrisse eines großen Buches zu erkennen gibt.
Eichs "Aufzeichnungen" sind überwiegend das Ergebnis der letzten Reise. Die Fahrt führte in unwegsame Regionen des Kaukasus, in besiedelte ländliche Gebiete und in die Hauptstadt Tiflis. Überall sieht Eich Korrosion. Zerstörung, Krankheit und Verbrechen hüllen Georgien in einen Hauch des Todes, als dessen Statthalter Stalin nur deshalb kaum auftritt, weil das über den gebürtigen Georgier geplante Kapitel nicht mehr zustande kam. Daß ein von Sowjetisierung, Bürgerkrieg und postkommunistischen Wirren gezeichnetes Land solche Schilderungen provoziert, liegt auf der Hand. Um Verfall und Auflösung so eindringlich beschreiben zu können, wie es in diesen Aufzeichnungen aus Georgien geschieht, bedarf es mehr. Vor allem Mut: zu einer Empathie, die vor der eigenen Auflösung nicht zurückschreckt, und zum immoralistischen Eingeständnis der Lust am Desolaten.
Gleich zu Beginn seines Aufenthaltes kommt es zu einer Anverwandlung des Verfassers an die Tristesse des von täglichen Stromausfällen und Kälte geplagten Tiflis. Eine Verletzung am Auge zwingt ihn, mehrere Tage das Bett zu hüten. Umgeben von den verschimmelten Wände eines abbruchreifen Krankenhauses überkommt ihn die zweideutige Empfindung, die den Untergrund seiner Sehnsucht nach Georgien bildet, ein "leises Glücksgefühl", sich "in keinem wie auch immer gearteten Zusammenhang zu befinden". Eich fragt sich in den Fragmenten seiner Aufzeichnungen, was Zivilisation sei. Nicht irgendein Exotismus, sondern die Verwirklichung antizivilisatorischer Sehnsüchte ist das Thema des Buches. In den Notizen blickt Eich solchen Verworfenheiten ins Auge, wenn er erwägt, daß er nach Georgien "vielleicht nur . . . aus einer Sehnsucht nach Krieg, einer Lust darauf" gefahren sei. Der ausformulierte Text ist in dieser Hinsicht weniger direkt, und er ist getragen von der melancholischen Zartheit poetischer Schilderungen, wie man sie nicht oft zu lesen bekommt. Während Eich im Bett dahindämmert, fühlt er die Hand einer Frau auf seiner Stirn. Diese Schicksalsgöttin bringt die Devise seiner Reise auf den Nenner. Eich habe, meint sie, "mit allem in Georgien gerechnet, nur nicht mit sich selbst". In dem von Auflösung gezeichneten Land lockt der Abstieg in die Unterwelten des korrosionsbedürftigen Ich. Daß diese Selbstbegegnung das Ich zu einem Treffpunkt romantischer Diskurse macht, in denen das Wunderbare stets dem Unheimlichen unterliegt, ist mehr als ein perfekter Kunstgriff. Aus der als Distanzierungsmittel eingesetzten, fast parodistischen Brechnung des romantischen Musters geht eine klare, suggestive, uneitle Prosa hervor.
In Eichs gelobtem, einzigem Roman "Das steinere Meer" besaß das deutsch-österreichische Grenzland die negative Konnotation des Begrenzten. Im Reisejournal ist es umgekehrt. Zwischen Europa und Asien gelegen, mit einer Hauptstadt, die weder Paris noch Bagdad ist, stellt Georgien für Eich das verführerische Grenzland schlechthin dar. Zwar beschreibt Eich politische Phänomene. Gefahren zu imaginieren erregt ihn aber mehr. Schon während seines Fluges nach Tiflis blickt er mit Furcht und Faszination "in die Augen eines Verbrechers", bei der Ankunft wähnt er abgeführt und vor ein Erschießungskommando gestellt zu werden. Als ihn in der Provinz ein alter Mann zum Abschied umarmt, meint er die Klinge eines Dolches im Rücken zu spüren.
Solche Phantasien verwandeln Eichs Georgien in ein Todessehnsuchtsland. Wenn er Wien und Tiflis derselben kulturellen Geographie zuordnet, wird jedoch deutlich, daß sein Zivilisationsüberdruß nicht der männlichen Archaik eines Ernst Jünger, sondern der um feminine Bilder zentrierten Nervosität eines Hugo von Hofmannsthal folgt. Wie für diesen Venedig als Schnittstelle von Orient und Okzident die Ungewißheit des Ich gegenüber allen Identitäten repräsentiert, so ähnlich Georgien für Eich. Am Versuch der Selbstversöhnung, die Hofmannsthals venezianischen Eskapaden literarisch mißlang, ist Eich im Leben gescheitert. In Georgien und in Österreich hatte er mit allem gerechnet, nur nicht mit sich selbst. Den Sturz auf einer Treppe der Untergrundbahn in Wien überlebte der Vierundvierzigjährige nicht. An der Einsicht, daß er mit den georgischen Reisenotizen, seinen eigenen Nekrolog geschrieben hat, führt kein Weg vobei.
Clemens Eich: "Aufzeichnungen aus Georgien". Mit einem Nachwort von Ulrich Greiner. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1999. 125 S., geb., 28,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Clemens Eichs Reise nach Georgien · Von Thomas Medicus
Vom Schritt über die Linie erhoffte sich der im vergangenen Jahr überraschend verstorbene Clemens Eich die Plötzlichkeit des Unerwarteten. Schock, Schreck und Not sind in den postum veröffentlichten "Aufzeichnungen aus Georgien" seine Begleiter. Landschaften der Apokalypse empfindet der gnostische Erlösungswille als heimatliches Terrain. Georgien, das Eich zwischen 1995 und 1997 dreimal besuchte, war für ihn solch eine Topographie. Das auf zweihundert Seiten Umfang geplante Journal besteht aus Fragmenten, fertiggestellt wurden nicht einmal siebzig Seiten. Daraus entstand ein schmaler, aber großartiger Band, der die Umrisse eines großen Buches zu erkennen gibt.
Eichs "Aufzeichnungen" sind überwiegend das Ergebnis der letzten Reise. Die Fahrt führte in unwegsame Regionen des Kaukasus, in besiedelte ländliche Gebiete und in die Hauptstadt Tiflis. Überall sieht Eich Korrosion. Zerstörung, Krankheit und Verbrechen hüllen Georgien in einen Hauch des Todes, als dessen Statthalter Stalin nur deshalb kaum auftritt, weil das über den gebürtigen Georgier geplante Kapitel nicht mehr zustande kam. Daß ein von Sowjetisierung, Bürgerkrieg und postkommunistischen Wirren gezeichnetes Land solche Schilderungen provoziert, liegt auf der Hand. Um Verfall und Auflösung so eindringlich beschreiben zu können, wie es in diesen Aufzeichnungen aus Georgien geschieht, bedarf es mehr. Vor allem Mut: zu einer Empathie, die vor der eigenen Auflösung nicht zurückschreckt, und zum immoralistischen Eingeständnis der Lust am Desolaten.
Gleich zu Beginn seines Aufenthaltes kommt es zu einer Anverwandlung des Verfassers an die Tristesse des von täglichen Stromausfällen und Kälte geplagten Tiflis. Eine Verletzung am Auge zwingt ihn, mehrere Tage das Bett zu hüten. Umgeben von den verschimmelten Wände eines abbruchreifen Krankenhauses überkommt ihn die zweideutige Empfindung, die den Untergrund seiner Sehnsucht nach Georgien bildet, ein "leises Glücksgefühl", sich "in keinem wie auch immer gearteten Zusammenhang zu befinden". Eich fragt sich in den Fragmenten seiner Aufzeichnungen, was Zivilisation sei. Nicht irgendein Exotismus, sondern die Verwirklichung antizivilisatorischer Sehnsüchte ist das Thema des Buches. In den Notizen blickt Eich solchen Verworfenheiten ins Auge, wenn er erwägt, daß er nach Georgien "vielleicht nur . . . aus einer Sehnsucht nach Krieg, einer Lust darauf" gefahren sei. Der ausformulierte Text ist in dieser Hinsicht weniger direkt, und er ist getragen von der melancholischen Zartheit poetischer Schilderungen, wie man sie nicht oft zu lesen bekommt. Während Eich im Bett dahindämmert, fühlt er die Hand einer Frau auf seiner Stirn. Diese Schicksalsgöttin bringt die Devise seiner Reise auf den Nenner. Eich habe, meint sie, "mit allem in Georgien gerechnet, nur nicht mit sich selbst". In dem von Auflösung gezeichneten Land lockt der Abstieg in die Unterwelten des korrosionsbedürftigen Ich. Daß diese Selbstbegegnung das Ich zu einem Treffpunkt romantischer Diskurse macht, in denen das Wunderbare stets dem Unheimlichen unterliegt, ist mehr als ein perfekter Kunstgriff. Aus der als Distanzierungsmittel eingesetzten, fast parodistischen Brechnung des romantischen Musters geht eine klare, suggestive, uneitle Prosa hervor.
In Eichs gelobtem, einzigem Roman "Das steinere Meer" besaß das deutsch-österreichische Grenzland die negative Konnotation des Begrenzten. Im Reisejournal ist es umgekehrt. Zwischen Europa und Asien gelegen, mit einer Hauptstadt, die weder Paris noch Bagdad ist, stellt Georgien für Eich das verführerische Grenzland schlechthin dar. Zwar beschreibt Eich politische Phänomene. Gefahren zu imaginieren erregt ihn aber mehr. Schon während seines Fluges nach Tiflis blickt er mit Furcht und Faszination "in die Augen eines Verbrechers", bei der Ankunft wähnt er abgeführt und vor ein Erschießungskommando gestellt zu werden. Als ihn in der Provinz ein alter Mann zum Abschied umarmt, meint er die Klinge eines Dolches im Rücken zu spüren.
Solche Phantasien verwandeln Eichs Georgien in ein Todessehnsuchtsland. Wenn er Wien und Tiflis derselben kulturellen Geographie zuordnet, wird jedoch deutlich, daß sein Zivilisationsüberdruß nicht der männlichen Archaik eines Ernst Jünger, sondern der um feminine Bilder zentrierten Nervosität eines Hugo von Hofmannsthal folgt. Wie für diesen Venedig als Schnittstelle von Orient und Okzident die Ungewißheit des Ich gegenüber allen Identitäten repräsentiert, so ähnlich Georgien für Eich. Am Versuch der Selbstversöhnung, die Hofmannsthals venezianischen Eskapaden literarisch mißlang, ist Eich im Leben gescheitert. In Georgien und in Österreich hatte er mit allem gerechnet, nur nicht mit sich selbst. Den Sturz auf einer Treppe der Untergrundbahn in Wien überlebte der Vierundvierzigjährige nicht. An der Einsicht, daß er mit den georgischen Reisenotizen, seinen eigenen Nekrolog geschrieben hat, führt kein Weg vobei.
Clemens Eich: "Aufzeichnungen aus Georgien". Mit einem Nachwort von Ulrich Greiner. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1999. 125 S., geb., 28,- DM.
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