'Ich schreibe, ohne es zu sehen. Ich bin gekommen. Ich wollte Ihnen die Hand küssen. Es ist das erste Mal, das ich im Dunkeln schreibe, ohne zu wissen, ob ich Buchstaben bilde. Überall, wo nichts auf dem Blatt stehet, sollen Sie lesen, dass ich Sie liebe'. Mit diesem Zitat aus einem Brief Diderots an Sophie Volland eröffnet Jacques Derrida seinen brillanten Essay über Malerei, Zeichnung, Visionen, Blindheit, Selbstportraits, Vaterschaft, Konversionen, Konfessionen und Tränen. In den Aufzeichnungen eines Blinden geht es um das Sehen in der Malerei und Zeichnung und dessen Zusammenhang in einem Sehen jenseits der Sinne: visionäre Einsichten oder Erleuchtungen, die in der Malerei oft als Blendung und Erblinden dargestellt werden. Der Künstler sieht nicht, was er darstellt, so Derridas These, er arbeitet blind aus dem Gedächtnis und für das Gedächtnis.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.08.1997Der Rock der Theorie hat keine Taschen
Die Dekonstruktion ist mehr als eine Modeerscheinung: Jacques Derrida entwirft das Schnittmuster seines Denkens
Das Werk Jacques Derridas erscheint in Deutschland nicht nur in einer kaum noch überschaubaren Zahl verschiedener Verlage, sondern meist auch in solchen zeitlichen Abständen zum Original, daß man die vielfältigen Wandlungen seines Denkens auf deutsch nur schwer verfolgen kann. Bisweilen - wie etwa in "Die Wahrheit in der Malerei" - entschuldigen die Herausgeber ihre Verspätung mit den hohen Anforderungen an die Übersetzer, die zudem noch der scharfen Kontrolle des deutschkundigen Derrida unterliegen. Für viele Bücher kann diese Erklärung aber kaum gelten, denn Derrida ist bei weitem nicht so hermetisch, wie ihn seine Verächter sehen.
Das belegen zwei neue Bücher von ihm, die jetzt auf deutsch erschienen sind. Beide fallen dem Verdikt der Verspätung anheim. "Aufzeichnungen eines Blinden" entstammt dem Jahr 1990, das schmale Bändchen mit dem barocken Titel "Einige Statements und Binsenweisheiten über Neologismen, New-Ismen, Post-Ismen, Parasitismen und andere kleine Seismen" geht gar auf einen Vortrag von 1986 zurück. Doch gerade dieser Titel war bislang nur auf englisch in einem amerikanischen Sammelband greifbar; seine deutsche Publikation kommt somit sogar der französischen zuvor. Das ist um so verwunderlicher, als mit diesen kaum sechzig großbedruckten Seiten eine hervorragende Einführung in Derridas Theoriegebäude geboten wird, die zudem von erstaunlichem Humor durchzogen ist.
Es fängt bereits beim Titel an. Die "Seismen" (Erschütterungen) nehmen eine launige Bemerkung des Textes auf, die Kalifornien, wo der Vortrag gehalten wurde, als "Staat der Theorie" bezeichnet, von dem aus die geisteswissenschaftliche Welt erschüttert worden sei. Diese nicht ganz uneitle Feststellung - Derrida lobt hier mit seinen treuesten amerikanischen Gefolgsleuten zugleich sich selbst - geht wiederum auf eine Fehllektüre zurück, die dem gesamten Vortrag das Gerüst gibt. Das Tagungsthema "The States of ,Theory'" las Derrida als "The State of Theory".
Es ist bewundernswert, wie er am Beispiel dieses Irrtums den Entwicklungsgang des Dekonstruktivismus nachvollzieht. Derrida dekonstruiert den Titel und doch dabei auch sich selbst. "Gott dekonstruiert. Er selber - sich selber", heißt es in Derridas etwa gleichzeitig entstandenem Aufsatz "Babylonische Türme". In seinem kalifornischen Vortrag ist nun der Gott der dekonstruktivistischen Theorie am Werk, um dieses Credo vor den Augen seiner Jünger einzulösen. Er entwirft ein Selbstporträt in seinem Text. In den "Aufzeichnungen eines Blinden" heißt es etwa: "Hier also läßt einen der Signierende, der zugleich das Modell ist - Objekt und Subjekt des Selbstporträts -, be(ob)achten, daß er sich beim Betrachten des Modells zusieht . . ."
Nur wenige wollen es verstehen, aber die Dekonstruktion eines Textes will weder ihm noch seinem Verfasser übel. Sie ist vielmehr der erste Schritt in einem Prozeß, den Derrida bewußt nicht dialektisch, sondern linear verstanden sehen will. Er unterscheidet zwischen Dekonstruktion und Dekonstruktivismus. Erstere bildet die Erschütterung. Sie stellt alle Werte in Philosophie und Literatur in Frage, weil die Dekonstruktion unter die Oberfläche eines Textes geht. Mit diesem "Widerstand gegen die Theorie" evoziert die Dekonstruktion jedoch einen "stabilisierenden Entwurf", und um letzteren Begriff ist es Derrida in seinem Vortrag zu tun. Der Entwurf ist das konstruktive Element, das aus der Dekonstruktion erwächst. Im Original wird er französisch als "jetée" bezeichnet und läßt damit Heideggers "Geworfenheit" anklingen.
Der Entwurf einer Theorie liegt für Derrida nur dann vor, wenn "er beansprucht, sich selbst zu enthalten, indem er alle anderen enthält, das heißt, indem er sie überbordet, sie überschreitet, sie in sich einschreibt". Der Entwurf in diesem Sinne ist also ein Überwurf, ein Schleier, der auf alle bisherigen Theorien gebreitet wird, ihre Konturen noch nachzeichnet, aber ihre Oberflächenwahrnehmung verändert. Das scheidet den Dekonstruktivismus als Entwurf von der Dekonstruktion als Technik, die keine Überformung vornimmt, sondern eine destabilisierende Verformung.
Diese Metatheorie setzt auch Derrida selbst in ein neues Licht: Seine Beschäftigung mit Marxismus, Psychoanalyse oder neuerdings mit Kants Rechtsphilosophie ist zwar Ausformung des Dekonstruktivismus, verdankt aber ihre spezifischen Formen weniger der grundlegenden Dekonstruktion als den überformten Theorien. Auch konkurrierende Denkgebäude haben in diesem Ansatz also ihre Daseinsberechtigung, denn jeder neue Entwurf enthüllt gerade durch seine Verhüllung die in ihn eingeschriebenen Reste seiner Vorgänger, die sich unter dem theoretischen Überwurf abzeichnen.
Damit hat Derrida den blinden Glauben an die eine wahre Theorie verabschiedet, um den von wissenschaftlichen Ideologien Geblendeten das Augenlicht zurückzugeben. Das Bild des Blinden - buchstäblich verstanden - war auch der Gegenstand der ersten Ausstellung im Zyklus "Parti Pris" des Louvre, der Künstlern und Autoren verschiedener Disziplinen die Möglichkeit gewährt, aus dem riesigen Fundus des Museums eine Präsentation zu einem individuell gewählten Thema zusammenzustellen. Der opulente Bildband "Aufzeichnungen eines Blinden" druckt jetzt die von Derrida ausgesuchten Bilder, seinen Begleittext und ein Nachwort des Übersetzers Michael Wetzel ab.
Der Titel des Buches ist bereits ein Kompromiß: "Mémoires d'aveugle" könnte auch als "Erinnerungen des Blinden" übertragen werden, und tatsächlich steht als Kopfzeile über den Textseiten jeweils "Memoiren eines Blinden" - ein feiner Kompromiß bei unklarer Lage. Doch die Wahl des Buchtitels trifft Derridas Intention am genauesten. Seine These ist, daß der Maler "blind" sein muß, um zeichnen zu können; blind für das Sujet, das er nur aus dem Gedächtnis entwirft und sich damit zu eigen macht, ohne ihm seine eigentliche Form zu nehmen. Es ist wieder die Überformung, hier der Schleier des Gedächtnisses, der erst das Bild entstehen läßt.
Aus Derridas Erinnerung steigt das Bild seines Bruders, eines begabten Zeichners, hervor, den er als Kind glühend beneidete. Diese Rivalität wird zum Ausgangspunkt des eigenen Werks und besonders der "Aufzeichnungen eines Blinden" erklärt: "Ich, ich werde schreiben, ich werde mich den Worten weihen, die mich rufen. Und noch hier können Sie sehen, daß ich sie immer noch vorziehe, ich lege Netze aus Sprache um die Zeichnung, ich webe mit Hilfe von Zügen, Strichen und Buchstaben an einer Schrifttunika, die die Körper der Zeichnung umfangen und fangen soll . . ." Unter diesem übergeworfenen Sprachgewand zeichnet sich die eigentliche Form der Zeichnung ab, ganz wie die Theorie unter dem dekonstruktivistischen Schleier. Alles ist Form. Vielleicht ist es dieser abstrakte Charakter von Derridas Theorie, der ihr die breite Akzeptanz verweigert. ANDREAS PLATTHAUS
Jacques Derrida: "Einige Statements und Binsenweisheiten über Neologismen, New-Ismen, Post-Istmen, Parasitismen und andere kleine Seismen". Deutsch von Susanne Lüdemann. Merve Verlag, Berlin 1997. 63 S., br., 16,- DM.
Jacques Derrida: "Aufzeichnungen eines Blinden". Das Selbstporträt und andere Ruinen. Aus dem Französischen von Andreas Knop und Michael Wetzel. Wilhelm Fink Verlag, München 1997. 166 S., 71 Abb., br., 78,- DM.
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Die Dekonstruktion ist mehr als eine Modeerscheinung: Jacques Derrida entwirft das Schnittmuster seines Denkens
Das Werk Jacques Derridas erscheint in Deutschland nicht nur in einer kaum noch überschaubaren Zahl verschiedener Verlage, sondern meist auch in solchen zeitlichen Abständen zum Original, daß man die vielfältigen Wandlungen seines Denkens auf deutsch nur schwer verfolgen kann. Bisweilen - wie etwa in "Die Wahrheit in der Malerei" - entschuldigen die Herausgeber ihre Verspätung mit den hohen Anforderungen an die Übersetzer, die zudem noch der scharfen Kontrolle des deutschkundigen Derrida unterliegen. Für viele Bücher kann diese Erklärung aber kaum gelten, denn Derrida ist bei weitem nicht so hermetisch, wie ihn seine Verächter sehen.
Das belegen zwei neue Bücher von ihm, die jetzt auf deutsch erschienen sind. Beide fallen dem Verdikt der Verspätung anheim. "Aufzeichnungen eines Blinden" entstammt dem Jahr 1990, das schmale Bändchen mit dem barocken Titel "Einige Statements und Binsenweisheiten über Neologismen, New-Ismen, Post-Ismen, Parasitismen und andere kleine Seismen" geht gar auf einen Vortrag von 1986 zurück. Doch gerade dieser Titel war bislang nur auf englisch in einem amerikanischen Sammelband greifbar; seine deutsche Publikation kommt somit sogar der französischen zuvor. Das ist um so verwunderlicher, als mit diesen kaum sechzig großbedruckten Seiten eine hervorragende Einführung in Derridas Theoriegebäude geboten wird, die zudem von erstaunlichem Humor durchzogen ist.
Es fängt bereits beim Titel an. Die "Seismen" (Erschütterungen) nehmen eine launige Bemerkung des Textes auf, die Kalifornien, wo der Vortrag gehalten wurde, als "Staat der Theorie" bezeichnet, von dem aus die geisteswissenschaftliche Welt erschüttert worden sei. Diese nicht ganz uneitle Feststellung - Derrida lobt hier mit seinen treuesten amerikanischen Gefolgsleuten zugleich sich selbst - geht wiederum auf eine Fehllektüre zurück, die dem gesamten Vortrag das Gerüst gibt. Das Tagungsthema "The States of ,Theory'" las Derrida als "The State of Theory".
Es ist bewundernswert, wie er am Beispiel dieses Irrtums den Entwicklungsgang des Dekonstruktivismus nachvollzieht. Derrida dekonstruiert den Titel und doch dabei auch sich selbst. "Gott dekonstruiert. Er selber - sich selber", heißt es in Derridas etwa gleichzeitig entstandenem Aufsatz "Babylonische Türme". In seinem kalifornischen Vortrag ist nun der Gott der dekonstruktivistischen Theorie am Werk, um dieses Credo vor den Augen seiner Jünger einzulösen. Er entwirft ein Selbstporträt in seinem Text. In den "Aufzeichnungen eines Blinden" heißt es etwa: "Hier also läßt einen der Signierende, der zugleich das Modell ist - Objekt und Subjekt des Selbstporträts -, be(ob)achten, daß er sich beim Betrachten des Modells zusieht . . ."
Nur wenige wollen es verstehen, aber die Dekonstruktion eines Textes will weder ihm noch seinem Verfasser übel. Sie ist vielmehr der erste Schritt in einem Prozeß, den Derrida bewußt nicht dialektisch, sondern linear verstanden sehen will. Er unterscheidet zwischen Dekonstruktion und Dekonstruktivismus. Erstere bildet die Erschütterung. Sie stellt alle Werte in Philosophie und Literatur in Frage, weil die Dekonstruktion unter die Oberfläche eines Textes geht. Mit diesem "Widerstand gegen die Theorie" evoziert die Dekonstruktion jedoch einen "stabilisierenden Entwurf", und um letzteren Begriff ist es Derrida in seinem Vortrag zu tun. Der Entwurf ist das konstruktive Element, das aus der Dekonstruktion erwächst. Im Original wird er französisch als "jetée" bezeichnet und läßt damit Heideggers "Geworfenheit" anklingen.
Der Entwurf einer Theorie liegt für Derrida nur dann vor, wenn "er beansprucht, sich selbst zu enthalten, indem er alle anderen enthält, das heißt, indem er sie überbordet, sie überschreitet, sie in sich einschreibt". Der Entwurf in diesem Sinne ist also ein Überwurf, ein Schleier, der auf alle bisherigen Theorien gebreitet wird, ihre Konturen noch nachzeichnet, aber ihre Oberflächenwahrnehmung verändert. Das scheidet den Dekonstruktivismus als Entwurf von der Dekonstruktion als Technik, die keine Überformung vornimmt, sondern eine destabilisierende Verformung.
Diese Metatheorie setzt auch Derrida selbst in ein neues Licht: Seine Beschäftigung mit Marxismus, Psychoanalyse oder neuerdings mit Kants Rechtsphilosophie ist zwar Ausformung des Dekonstruktivismus, verdankt aber ihre spezifischen Formen weniger der grundlegenden Dekonstruktion als den überformten Theorien. Auch konkurrierende Denkgebäude haben in diesem Ansatz also ihre Daseinsberechtigung, denn jeder neue Entwurf enthüllt gerade durch seine Verhüllung die in ihn eingeschriebenen Reste seiner Vorgänger, die sich unter dem theoretischen Überwurf abzeichnen.
Damit hat Derrida den blinden Glauben an die eine wahre Theorie verabschiedet, um den von wissenschaftlichen Ideologien Geblendeten das Augenlicht zurückzugeben. Das Bild des Blinden - buchstäblich verstanden - war auch der Gegenstand der ersten Ausstellung im Zyklus "Parti Pris" des Louvre, der Künstlern und Autoren verschiedener Disziplinen die Möglichkeit gewährt, aus dem riesigen Fundus des Museums eine Präsentation zu einem individuell gewählten Thema zusammenzustellen. Der opulente Bildband "Aufzeichnungen eines Blinden" druckt jetzt die von Derrida ausgesuchten Bilder, seinen Begleittext und ein Nachwort des Übersetzers Michael Wetzel ab.
Der Titel des Buches ist bereits ein Kompromiß: "Mémoires d'aveugle" könnte auch als "Erinnerungen des Blinden" übertragen werden, und tatsächlich steht als Kopfzeile über den Textseiten jeweils "Memoiren eines Blinden" - ein feiner Kompromiß bei unklarer Lage. Doch die Wahl des Buchtitels trifft Derridas Intention am genauesten. Seine These ist, daß der Maler "blind" sein muß, um zeichnen zu können; blind für das Sujet, das er nur aus dem Gedächtnis entwirft und sich damit zu eigen macht, ohne ihm seine eigentliche Form zu nehmen. Es ist wieder die Überformung, hier der Schleier des Gedächtnisses, der erst das Bild entstehen läßt.
Aus Derridas Erinnerung steigt das Bild seines Bruders, eines begabten Zeichners, hervor, den er als Kind glühend beneidete. Diese Rivalität wird zum Ausgangspunkt des eigenen Werks und besonders der "Aufzeichnungen eines Blinden" erklärt: "Ich, ich werde schreiben, ich werde mich den Worten weihen, die mich rufen. Und noch hier können Sie sehen, daß ich sie immer noch vorziehe, ich lege Netze aus Sprache um die Zeichnung, ich webe mit Hilfe von Zügen, Strichen und Buchstaben an einer Schrifttunika, die die Körper der Zeichnung umfangen und fangen soll . . ." Unter diesem übergeworfenen Sprachgewand zeichnet sich die eigentliche Form der Zeichnung ab, ganz wie die Theorie unter dem dekonstruktivistischen Schleier. Alles ist Form. Vielleicht ist es dieser abstrakte Charakter von Derridas Theorie, der ihr die breite Akzeptanz verweigert. ANDREAS PLATTHAUS
Jacques Derrida: "Einige Statements und Binsenweisheiten über Neologismen, New-Ismen, Post-Istmen, Parasitismen und andere kleine Seismen". Deutsch von Susanne Lüdemann. Merve Verlag, Berlin 1997. 63 S., br., 16,- DM.
Jacques Derrida: "Aufzeichnungen eines Blinden". Das Selbstporträt und andere Ruinen. Aus dem Französischen von Andreas Knop und Michael Wetzel. Wilhelm Fink Verlag, München 1997. 166 S., 71 Abb., br., 78,- DM.
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