Dieses Jahrhundertbuch der russischen Literatur war künstlerisches Ereignis und Politikum zugleich. In seiner Verbindung stilistischer Virtuosität mit humanistischer Emphase - nämlich zugunsten der Aufhebung der Leibeigenschaft -, machte es den Autor auf einen Schlag weltberühmt. «Dostoevskij ist ein gewaltiger Dichter, aber in Turgenev ist die vollkommenste Magie des Künstlerischen.» (Hugo von Hofmannsthal)
Ivan Turgenevs (1818-1883) meisterliche Komposition von fünfundzwanzig Erzählungen rundet sich zu einem subtilen Epochenbild Rußlands zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Landleben, wie es sich dem umherstreifenden Jäger darbietet, ist alles andere als ein beschauliches Idyll. Elend, Unmenschlichkeit und Gewalt werden schonungslos als Resultat der herrschenden Verhältnisse entlarvt.
Der harmlos klingende Titel sollte suggerieren, es gehe in diesem Buch um landläufiges Jägerlatein. Doch die Zensurbehörde des Zaren ließ sich nicht lange hinters Licht führen und verbot das Buch noch im Erscheinungsjahr. Die Schil¬derung menschenverachtender Zustände, die aufklärerisch-realistische Figurenzeichnung vom Leibeigenen bis zum Gutsbesitzer, in ihrer Drastik verschärft durch die ironische Erzählhaltung, wirkten als Sprengstoff in der Diskussion um die Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland.
Peter Urban, ausgewiesener Kenner und Vermittler russischer Weltliteratur, erschließt in seiner Neuübersetzung den Bedeutungs- und Nuancenreichtum des Werks. Für diese Ausgabe hat er zudem drei Erzählungen aus dem Umfeld der «Aufzeichnungen» erstmals ins Deutsche übertragen.
Ivan Turgenevs (1818-1883) meisterliche Komposition von fünfundzwanzig Erzählungen rundet sich zu einem subtilen Epochenbild Rußlands zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Landleben, wie es sich dem umherstreifenden Jäger darbietet, ist alles andere als ein beschauliches Idyll. Elend, Unmenschlichkeit und Gewalt werden schonungslos als Resultat der herrschenden Verhältnisse entlarvt.
Der harmlos klingende Titel sollte suggerieren, es gehe in diesem Buch um landläufiges Jägerlatein. Doch die Zensurbehörde des Zaren ließ sich nicht lange hinters Licht führen und verbot das Buch noch im Erscheinungsjahr. Die Schil¬derung menschenverachtender Zustände, die aufklärerisch-realistische Figurenzeichnung vom Leibeigenen bis zum Gutsbesitzer, in ihrer Drastik verschärft durch die ironische Erzählhaltung, wirkten als Sprengstoff in der Diskussion um die Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland.
Peter Urban, ausgewiesener Kenner und Vermittler russischer Weltliteratur, erschließt in seiner Neuübersetzung den Bedeutungs- und Nuancenreichtum des Werks. Für diese Ausgabe hat er zudem drei Erzählungen aus dem Umfeld der «Aufzeichnungen» erstmals ins Deutsche übertragen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Hocherfreut zeigt sich Rezensent Wolfgang Schneider über diese Neuübersetzung von Iwan Turgenjews Erzählband "Aufzeichnungen eines Jägers", mit dem ihm 1852 der Durchbruch gelang. Wie er berichtet, wurde die erste Ausgabe der "Aufzeichnungen" verboten, zu brisant erschien den Machthabern Turgenjews Thematisierung sozialer Missstände wie der Leibeigenschaft oder des Alkoholismus in Russland. Schneider hebt allerdings hervor, dass die Erzählungen mit Verelendungsliteratur, wie man sie aus dem deutschen Naturalismus kennt, nichts zu tun hat. Mit "dokumentarischer Genauigkeit" schildere Turgenjew die "Degradierung des Menschen", ohne je in einen Ton bloßer Anklage zu verfallen, befindet Schneider. "Nie ist Gesellschaftskritik so wirkungsvoll und so dezent zugleich vorgetragen worden." Stilistisch sieht er Turgenjew Puschkins Ideal der Knappheit und Genauigkeit verpflichtet, einer Schlichtheit, die von Übersetzern bisher oft aufgebläht wurde. Peter Urbans Neubersetzung würdigt Schneider dagegen als "herausragend" - abgesehen davon, dass er bei speziellem Vokabular für Kleidung, Berufe oder Fahrzeuge um der Treue zum Original willen den russischen Ausdruck beibehält. Die "Aufzeichnungen" kommen zur Freude Schneiders nun "erstaunlich frisch daher". Insbesondere Turgenjews Komik sei "sehr viel deutlicher" herausgearbeitet als bei den bisherigen Übersetzungen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.2018Der zärtliche Jupiter der russischen Natur
Weiblich sensibel und männlich stark: Drei Meisterwerke von Iwan Turgenjew in neuen Übersetzungen.
Von Kerstin Holm
Iwan Sergejewitsch Turgenjew, der elegante Weltbürger unter den russischen Klassikern, war auf seine Art Russlands erster Feminist. Der Schriftsteller, der die Frauen anzog und in ihrer Gegenwart auflebte, erklärte der Liebe gegenüber skeptischen französischen Kollegen, nur dieses Gefühl könne den Menschen wirklich erblühen lassen, und sein ganzes Wesen sei vom Femininen durchdrungen. Er schätzte weiblichen Esprit und Unabhängigkeit, Küchendüfte an einer Frau stießen ihn entschieden ab. Der hochgewachsene, dabei zaghafte und mit dünner Stimme versehene Turgenjew kultivierte eine "weibliche" Zartheit und Empfindsamkeit - als glänzend gebildeter, vermögender Mann, der große Teile seines Lebens in Baden-Baden und Paris zubrachte, freilich aus einer Position der Stärke.
Dem verdanken sich seine Klarsicht ebenso wie eine zunehmende Entfremdung vom ruppigen Vaterland. Denn auch seine politischen Romane wie "Väter und Söhne" oder "Am Vorabend", in denen er erstmals einen russischen Nihilisten und einen bulgarischen Revolutionär porträtierte, sind durch das Prisma seines Glaubens ans Ewig-Weibliche geschrieben. Die Helden entfalten ihre Überzeugungen vor allem im Gespräch mit Damen der guten Gesellschaft und sterben im Bett, bevor sie in den Kampf ziehen können. Turgenjew, der 1848 die Februarrevolution in Paris miterlebt hatte, hasste und fürchtete Gewalt und Umstürze. Zugleich wollte er als aktueller Schriftsteller anerkannt werden. Doch Russlands progressive Kritik spottete über seine Fixierung auf Liebesfragen. Aber auch für Heutige liest sich seine engagierte Prosa mit ihren Endlosdialogen zäh. Turgenjews Stärke ist die psychophysiologische Schilderung von Mensch, Tier und Natur. Hier war er wirklich Avantgardist, wie drei neuübersetzte Meisterwerke vorführen, die zu Turgenjews zweihundertstem Geburtstag herauskommen.
Berühmt wurde der Autor durch die 1852 erschienene Erzählungssammlung "Aufzeichnungen eines Jägers", die Vera Bischitzky, unterstützt vom Deutschen Übersetzerfonds und dem russischen Institut für Übersetzung, nun in ein nuancenreich schillerndes, beschwingt fließendes Deutsch übertragen und mit einem Nachwort sowie hilfreichen Anmerkungen versehen hat. Der weiche Turgenjew war gleichwohl ein leidenschaftlicher Jäger, der mit seinen Hunden tagelang durch die eigenen und die Ländereien seiner Gutsnachbarn streifte. Während er Haselhühner und Schnepfen schoss, offenbarten sich ihm Schönheiten der bezeichnenderweise fast immer als sommerlich beschriebenen Natur, die naturnahen Leibeigenen eingeschlossen, die vor ihm kein Prosaautor so erfasst hat. Wie ihn das duftende Dickicht lockt, der Waldboden unter seinen Füßen federt, der nackte Zweig der jungen Birke zittert, darin liegt eine zauberhafte Erotik, wie sie nur ein zärtlicher Jupiter wahrnehmen kann. Wenig später wird sie einem in der Landschaftsmalerei eines Iwan Schischkin (1832 bis 1898) wiederbegegnen.
Erstmals erfasst hier ein Literat auch die leibeigenen Bauern in ihrer Intelligenz und Würde, ganz ohne soziale Sentimentalität. Meisterhaft sein Doppelporträt des wortkargen, klugen Wirtschafters Chor im Gebiet Kaluga, der sich bewusst nicht freikauft, um nicht von Staatsbeamten abhängig zu werden, und dessen Freundes, des musisch schwärmerischen Kalinytsch, der Bienen züchtet, heilkundig ist, singt und Balalaika spielt. Turgenjew, dessen Prosa Zeitgenossen als heilkräftig empfanden, erblickte in Kalinytsch offenbar einen Seelenverwandten, lässt sich aber gern von Chor über die Fährnisse des Dorfkapitalismus belehren.
Nach einer wahren Protagonistin ist auch die "Lebende Reliquie" gezeichnet, jene junge Bäuerin, die nach einem Wirbelsäulentrauma infolge extremer Muskelverhärtung zu einem kleinen starren Körper zusammenschrumpfte, sich aber von Gott geliebt fühlt und ihn nur bittet, die Abgaben der Leibeigenen zu verringern. In den "Aufzeichnungen" erlebt man, wie Gutsbesitzer Bauern aus Bosheit umsiedeln und sie mit modernen Verwaltungsmethoden nur effizienter auspressen.
Wegen dieses Buchs, das Turgenjew fern der Heimat bei Paris schrieb, wurde er von Zar Nikolaus I. ins Gefängnis geworfen und anschließend auf sein Gut verbannt. Der bekennende Europäer erklärte fortan die Leibeigenschaft zu seinem Erzfeind. Wie seine Romanhelden kämpfte er allerdings nicht gegen diesen Feind. Vielmehr distanzierte er sich von seinem zwischen Retroabsolutismus und Revolution schwankendem Vaterland, was die russischen Schriftstellerkollegen empörte. In neuerer Zeit lobte der Literaturkritiker Stanislaw Lesnewski Turgenjews Werk daher als "Fenster nach Russland", weil des Autors Distanz ihm eine Gesamtschau ermöglicht habe, die den Akteuren verwehrt gewesen sei.
Turgenjews Erfolgsroman "Das Adelsgut", das jetzt in einer vorzüglichen Neuübertragung von Christiane Pöhlmann mit einem luziden Nachwort von Michail Schischkin erschienen ist, entstand ebenfalls ferndiagnostisch, in Rom. Es ist ein vielfiguriges Gesellschaftsgemälde aus dem goldenen Herbst der Land und Leute besitzenden Aristokratie mit leichtsinnigen Gutsherren, strengen Matronen, charmant von sich eingenommenen Jungbeamten, wie sie nur Turgenjew mit so feinem Kennerblick, durchschauender Sympathie und niemals herablassend zu zeichnen verstand. Der Held ist der letzte Spross eines alten Geschlechts, ein reicher Erbe, den sein hochwohlgeborener Vater mit einer Leibeigenen zeugte. Turgenjew hat hier eine eigene Affäre mit der Gesindemagd seiner Mutter verarbeitet, aus der eine Tochter hervorging, die er in der Ersatzfamilie seiner Freundin Pauline Viardot erziehen ließ und die ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, nur im Unterschied zu ihm gänzlich unmusisch war. Zutiefst berührend schildert er das Schicksal der Magd, die im Roman von ihrem Verführer geheiratet wird, de facto aber eine Bedienstete bleibt und deren stille Ergebenheit an die "Lebende Reliquie" gemahnt. Ihr Sohn ist in seiner Suche nach dem (weiblich) Schönen ein Alter Ego des Autors. Wie er sich von einer wonnigen Braut angeln, ausnehmen, betrügen und trotz Trennung weiter ausnehmen lässt, das wirkt wie eine Selbstparodie Turgenjews, der vielen Leuten Geld gab, auch wenn diese sich, wie manche Schriftstellerkollegen, deswegen mit ihm zerstritten. In der Tochter seiner Gutsnachbarin begegnet dem Sohn eine jener idealistischen, bescheidenen, aber innerlich starken Heldinnen, die Turgenjews besseres weibliches Alternativ-Ich verkörpern, weshalb die Wissenschaft sie "Turgenjew-Mädchen" nennt. Wie bei diesem Autor üblich, verfehlen sich die Liebenden - wobei die Frau, sich dem Höchsten weihend, ins Kloster geht, der Mann aber, dem die Kreativität seines Schöpfers fehlt, als Landwirt bodenständig wird.
Ein Juwel ist die autobiographisch grundierte Erzählung "Erste Liebe", die, wiederum von Vera Bischitzky neu übersetzt, die unfreiwillige Hellsichtigkeit des Liebenden vorführt. Wie er da dem entflammten Jüngling die Welt erblühen und ihn dann in die Leidenschaft der Angebeteten für seinen Vater, in die Abgründe des reifen Gefühls und der menschlichen Existenz hineinblicken lässt, damit hat Turgenjew sich tief in die Zukunft hineingeschrieben.
Iwan Turgenjew: "Aufzeichnungen eines Jägers".
Hrsg. und aus dem Russischen von Vera Bischitzky. Hanser Verlag, München 2018. 640 S., geb., 38,- [Euro].
Iwan Turgenjew: "Das Adelsgut". Roman.
Aus dem Russischen von Christiane Pöhlmann. Manesse Verlag, München 2018. 384 S., geb., 25,- [Euro].
Iwan Turgenjew: "Erste Liebe".
Aus dem Russischen von Vera Bischitzky. Verlag C. H. Beck, München 2018. 110 S., br., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Weiblich sensibel und männlich stark: Drei Meisterwerke von Iwan Turgenjew in neuen Übersetzungen.
Von Kerstin Holm
Iwan Sergejewitsch Turgenjew, der elegante Weltbürger unter den russischen Klassikern, war auf seine Art Russlands erster Feminist. Der Schriftsteller, der die Frauen anzog und in ihrer Gegenwart auflebte, erklärte der Liebe gegenüber skeptischen französischen Kollegen, nur dieses Gefühl könne den Menschen wirklich erblühen lassen, und sein ganzes Wesen sei vom Femininen durchdrungen. Er schätzte weiblichen Esprit und Unabhängigkeit, Küchendüfte an einer Frau stießen ihn entschieden ab. Der hochgewachsene, dabei zaghafte und mit dünner Stimme versehene Turgenjew kultivierte eine "weibliche" Zartheit und Empfindsamkeit - als glänzend gebildeter, vermögender Mann, der große Teile seines Lebens in Baden-Baden und Paris zubrachte, freilich aus einer Position der Stärke.
Dem verdanken sich seine Klarsicht ebenso wie eine zunehmende Entfremdung vom ruppigen Vaterland. Denn auch seine politischen Romane wie "Väter und Söhne" oder "Am Vorabend", in denen er erstmals einen russischen Nihilisten und einen bulgarischen Revolutionär porträtierte, sind durch das Prisma seines Glaubens ans Ewig-Weibliche geschrieben. Die Helden entfalten ihre Überzeugungen vor allem im Gespräch mit Damen der guten Gesellschaft und sterben im Bett, bevor sie in den Kampf ziehen können. Turgenjew, der 1848 die Februarrevolution in Paris miterlebt hatte, hasste und fürchtete Gewalt und Umstürze. Zugleich wollte er als aktueller Schriftsteller anerkannt werden. Doch Russlands progressive Kritik spottete über seine Fixierung auf Liebesfragen. Aber auch für Heutige liest sich seine engagierte Prosa mit ihren Endlosdialogen zäh. Turgenjews Stärke ist die psychophysiologische Schilderung von Mensch, Tier und Natur. Hier war er wirklich Avantgardist, wie drei neuübersetzte Meisterwerke vorführen, die zu Turgenjews zweihundertstem Geburtstag herauskommen.
Berühmt wurde der Autor durch die 1852 erschienene Erzählungssammlung "Aufzeichnungen eines Jägers", die Vera Bischitzky, unterstützt vom Deutschen Übersetzerfonds und dem russischen Institut für Übersetzung, nun in ein nuancenreich schillerndes, beschwingt fließendes Deutsch übertragen und mit einem Nachwort sowie hilfreichen Anmerkungen versehen hat. Der weiche Turgenjew war gleichwohl ein leidenschaftlicher Jäger, der mit seinen Hunden tagelang durch die eigenen und die Ländereien seiner Gutsnachbarn streifte. Während er Haselhühner und Schnepfen schoss, offenbarten sich ihm Schönheiten der bezeichnenderweise fast immer als sommerlich beschriebenen Natur, die naturnahen Leibeigenen eingeschlossen, die vor ihm kein Prosaautor so erfasst hat. Wie ihn das duftende Dickicht lockt, der Waldboden unter seinen Füßen federt, der nackte Zweig der jungen Birke zittert, darin liegt eine zauberhafte Erotik, wie sie nur ein zärtlicher Jupiter wahrnehmen kann. Wenig später wird sie einem in der Landschaftsmalerei eines Iwan Schischkin (1832 bis 1898) wiederbegegnen.
Erstmals erfasst hier ein Literat auch die leibeigenen Bauern in ihrer Intelligenz und Würde, ganz ohne soziale Sentimentalität. Meisterhaft sein Doppelporträt des wortkargen, klugen Wirtschafters Chor im Gebiet Kaluga, der sich bewusst nicht freikauft, um nicht von Staatsbeamten abhängig zu werden, und dessen Freundes, des musisch schwärmerischen Kalinytsch, der Bienen züchtet, heilkundig ist, singt und Balalaika spielt. Turgenjew, dessen Prosa Zeitgenossen als heilkräftig empfanden, erblickte in Kalinytsch offenbar einen Seelenverwandten, lässt sich aber gern von Chor über die Fährnisse des Dorfkapitalismus belehren.
Nach einer wahren Protagonistin ist auch die "Lebende Reliquie" gezeichnet, jene junge Bäuerin, die nach einem Wirbelsäulentrauma infolge extremer Muskelverhärtung zu einem kleinen starren Körper zusammenschrumpfte, sich aber von Gott geliebt fühlt und ihn nur bittet, die Abgaben der Leibeigenen zu verringern. In den "Aufzeichnungen" erlebt man, wie Gutsbesitzer Bauern aus Bosheit umsiedeln und sie mit modernen Verwaltungsmethoden nur effizienter auspressen.
Wegen dieses Buchs, das Turgenjew fern der Heimat bei Paris schrieb, wurde er von Zar Nikolaus I. ins Gefängnis geworfen und anschließend auf sein Gut verbannt. Der bekennende Europäer erklärte fortan die Leibeigenschaft zu seinem Erzfeind. Wie seine Romanhelden kämpfte er allerdings nicht gegen diesen Feind. Vielmehr distanzierte er sich von seinem zwischen Retroabsolutismus und Revolution schwankendem Vaterland, was die russischen Schriftstellerkollegen empörte. In neuerer Zeit lobte der Literaturkritiker Stanislaw Lesnewski Turgenjews Werk daher als "Fenster nach Russland", weil des Autors Distanz ihm eine Gesamtschau ermöglicht habe, die den Akteuren verwehrt gewesen sei.
Turgenjews Erfolgsroman "Das Adelsgut", das jetzt in einer vorzüglichen Neuübertragung von Christiane Pöhlmann mit einem luziden Nachwort von Michail Schischkin erschienen ist, entstand ebenfalls ferndiagnostisch, in Rom. Es ist ein vielfiguriges Gesellschaftsgemälde aus dem goldenen Herbst der Land und Leute besitzenden Aristokratie mit leichtsinnigen Gutsherren, strengen Matronen, charmant von sich eingenommenen Jungbeamten, wie sie nur Turgenjew mit so feinem Kennerblick, durchschauender Sympathie und niemals herablassend zu zeichnen verstand. Der Held ist der letzte Spross eines alten Geschlechts, ein reicher Erbe, den sein hochwohlgeborener Vater mit einer Leibeigenen zeugte. Turgenjew hat hier eine eigene Affäre mit der Gesindemagd seiner Mutter verarbeitet, aus der eine Tochter hervorging, die er in der Ersatzfamilie seiner Freundin Pauline Viardot erziehen ließ und die ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, nur im Unterschied zu ihm gänzlich unmusisch war. Zutiefst berührend schildert er das Schicksal der Magd, die im Roman von ihrem Verführer geheiratet wird, de facto aber eine Bedienstete bleibt und deren stille Ergebenheit an die "Lebende Reliquie" gemahnt. Ihr Sohn ist in seiner Suche nach dem (weiblich) Schönen ein Alter Ego des Autors. Wie er sich von einer wonnigen Braut angeln, ausnehmen, betrügen und trotz Trennung weiter ausnehmen lässt, das wirkt wie eine Selbstparodie Turgenjews, der vielen Leuten Geld gab, auch wenn diese sich, wie manche Schriftstellerkollegen, deswegen mit ihm zerstritten. In der Tochter seiner Gutsnachbarin begegnet dem Sohn eine jener idealistischen, bescheidenen, aber innerlich starken Heldinnen, die Turgenjews besseres weibliches Alternativ-Ich verkörpern, weshalb die Wissenschaft sie "Turgenjew-Mädchen" nennt. Wie bei diesem Autor üblich, verfehlen sich die Liebenden - wobei die Frau, sich dem Höchsten weihend, ins Kloster geht, der Mann aber, dem die Kreativität seines Schöpfers fehlt, als Landwirt bodenständig wird.
Ein Juwel ist die autobiographisch grundierte Erzählung "Erste Liebe", die, wiederum von Vera Bischitzky neu übersetzt, die unfreiwillige Hellsichtigkeit des Liebenden vorführt. Wie er da dem entflammten Jüngling die Welt erblühen und ihn dann in die Leidenschaft der Angebeteten für seinen Vater, in die Abgründe des reifen Gefühls und der menschlichen Existenz hineinblicken lässt, damit hat Turgenjew sich tief in die Zukunft hineingeschrieben.
Iwan Turgenjew: "Aufzeichnungen eines Jägers".
Hrsg. und aus dem Russischen von Vera Bischitzky. Hanser Verlag, München 2018. 640 S., geb., 38,- [Euro].
Iwan Turgenjew: "Das Adelsgut". Roman.
Aus dem Russischen von Christiane Pöhlmann. Manesse Verlag, München 2018. 384 S., geb., 25,- [Euro].
Iwan Turgenjew: "Erste Liebe".
Aus dem Russischen von Vera Bischitzky. Verlag C. H. Beck, München 2018. 110 S., br., 16,- [Euro].
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«Ein Meisterwerk der kleinen Form: Großartige kleine Geschichten, die man wunderbar im Strandkorb lesen kann.» Götz Alsmann in der Sendung «Lesen!»
Leidenschaftlich, schonungslos, hart, mit einer Intensität, die den Leser hineinzieht in eine vergangene Welt: russische Weltliteratur, neu übersetzt von Vera Bischitzky." Melanie Mühl, F.A.Z., 05.12.18
"Geschichten aus dem vorrevolutionären Russland, mit allem, was dazugehört: Schnee, Grausamkeit, Schönheit." Iris Radisch, Die Zeit, 22.11.18
"Wer das heutige Russland verstehen will, lese dieses Buch! Iwan Turgenjew wollte seiner Heimat als Vermitteler dienen. Vera Bischitzky setzt mit einer grandiosen Neuübersetzung des Klassikers das Werk des russischen Europäers fort." Mareike Ilsemann, WDR 5, 10.11.2018
"Geschichten aus dem vorrevolutionären Russland, mit allem, was dazugehört: Schnee, Grausamkeit, Schönheit." Iris Radisch, Die Zeit, 22.11.18
"Wer das heutige Russland verstehen will, lese dieses Buch! Iwan Turgenjew wollte seiner Heimat als Vermitteler dienen. Vera Bischitzky setzt mit einer grandiosen Neuübersetzung des Klassikers das Werk des russischen Europäers fort." Mareike Ilsemann, WDR 5, 10.11.2018