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Der 16. Juni 1995 ist, ein Tag wie jeder Tag, der dreißigste Geburtstag von weltweit ungefähr zweihundertundfünftausend Menschen. In dieser Masse "aufgehoben und wunderbar vernichtet" lebt in Zürich eine Frau, die sich Aleks Martin Schwarz nennt. Dieser Tag bildet den Hintergrund für einen Roman, der Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit einer Liebe und zweier weitverzweigter Familien erzählt, fragmentarisch und präzis zugleich.

Produktbeschreibung
Der 16. Juni 1995 ist, ein Tag wie jeder Tag, der dreißigste Geburtstag von weltweit ungefähr zweihundertundfünftausend Menschen. In dieser Masse "aufgehoben und wunderbar vernichtet" lebt in Zürich eine Frau, die sich Aleks Martin Schwarz nennt. Dieser Tag bildet den Hintergrund für einen Roman, der Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit einer Liebe und zweier weitverzweigter Familien erzählt, fragmentarisch und präzis zugleich.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.11.1998

Trauer in der Wintersonne
Augen zu, Uhr kaputt: Ruth Schweikerts Manierismen

Das Reflexivum "sich" wird von Ruth Schweikert nachgestellt: "Meistens vergaß Aleks, zu Hause in der Paradiesstraße 62 nur in Pantoffeln sich zu bewegen." Dafür rückt ein Verb im Nebensatz schon mal nach vorn: "Dazu kam, daß sie die einzige Erbin war ihrer Eltern und Brüder." Ein solcher Satzbau wirkt nicht kunstvoll, nicht kritisch, sondern künstlich, ebenso die Zeitangaben und das wiederholte "zum Beispiel": "Louna Frater war nie in jenem Kontinent gewesen, den man auf den ersten Blick am späteren Vormittag dieses sechzehnten Juni 1995 in der Straßenbahn stadteinwärts zum Beispiel ihr ansah." Reflexiva lassen sich nachstellen, die Poesie nicht, sie ist auf und davon, vielleicht mit der Straßenbahn, stadtauswärts.

Der Aufbau von Ruth Schweikerts Roman "Augen zu" überzeugt; auch der Schwung, mit dem der Leser in einen Strudel von Schicksalen gezogen wird. Am dreißigsten Geburtstag der Protagonistin zeigen Vor- und Rückblenden ihr Leben und das der Menschen, mit denen sie in Berührung steht. Biographien werden verwoben. Die Mutter, die im Zweiten Weltkrieg ihre Familie verlor, der Sohn einer Jüdin, der Vater, der von der Vergangenheit nichts wissen will; sie sollen über das Individuelle hinaus exemplarische Einwohner der Schweiz sein. Im Zentrum steht Aleks Martin Schwarz mit ihrer "unbestimmten Traurigkeit".

Mit schwarzen Jungshosen, dem gerippten Unterhemd des Vaters und Wunden an den Knien weigert sie sich, ein Mädchen zu sein, und gibt sich schon als Kind einen Männernamen. Nach der Schule beginnt sie drei Ausbildungen, zur Sozialarbeiterin, Schauspielerin, Psychiatrieschwester; sie ist auf der Suche. Als sie zu malen anfängt, wird diese Suche mit vorgefertigten Worten kommentiert: "Der Antrieb für ihre Arbeit schien ihr bloß ein Mangel zu sein; geboren aus der Unfähigkeit, sich selbst zu begreifen, die eigene Geschichte und die Geschichten dieser Welt."

Darauf, daß sie die Welt nicht versteht, ist Aleks stolz. Denn sie kämpft gegen die "herrschsüchtige Chronologie in unseren Köpfen". Sie will "Uhren zertrümmern in Bahnhöfen, Einbauküchen und Flughäfen". Als Vernunft- und Ordnungskritikerin richtet sich die Künstlerin gegen jene "Insassen" von "Einfamilienhäusern, deren Kinder mehrheitlich geplant zur Welt kamen als zukünftige Kantonsschülerinnen, Maturanden, Hausbesitzer". Ruth Schweikert verzichtet zwar darauf, in die Klage über die Enge der Schweiz einzustimmen, reiht sich aber bereitwilliger in eine allgemeine Kritik der bürgerlichen Welt ein. Hausmeister kontrollieren unerlaubt abgestellte Damenfahrräder, Schulfreundinnen heiraten Männer mit BMW und Rolexuhren. Wozu braucht die Autorin diese Staffage? Aleks dagegen hat zwei uneheliche Kinder, lebt nicht länger als zwei Jahre an einem Ort und geht keine Ehe ein, sondern einen "lebenslänglich sich erneuernden Coup de foudre".

Gelungen ist der Roman dort, wo aus der unbestimmten Traurigkeit der Protagonistin eine begründete Trauer wird. Sie ist von ihrem Geliebten schwanger und verliert das Kind. Die Untersuchung, die abschweifenden Gedanken von Ärztin und Patientin, die Agonie und der Tod des Ungeborenen sind beklemmend, ebenso der Blick auf den nun überflüssigen Erinnerungszettel: Aufbaukalk für die Knochen, Saft für den erhöhten Eisenbedarf. Das Leid wird greifbar, wo es konkret zu fassen ist und keinem allgemeinen Unwohlsein entspringt. Das gilt nicht nur für den zentralen Erzählstrang um Aleks Martin Schwarz, sondern auch für die anderen Schicksale des geschickt komponierten Romans. Das gilt für das Leben der Mutter, deren Kindheit im Luftschutzkeller endete, als sie die Familie verlor, und für ihren Alkoholismus. Mit zwölf findet die Tochter sie das erste Mal bewußtlos im Schlafzimmer: "Die Mutter stöhnte leise, und aus ihrem Mund stieg ein scharfer, beißender Geruch."

Diese reale und tragische Figur droht durch die Fülle ungewöhnlicher Gestalten und Lebensläufe nivelliert zu werden. Das gesamte Personal des Romans weist leibliche oder seelische Defekte und Sonderbarkeiten auf; die Halbschwester ist somnambul und der Dermatologe hautkrank. Und wenn Leute sich gegenseitig "beelenden" sowie "Frührentner" schließlich "bis in die letzten Schlupfaugenwinkel ausgeleuchtet in der Wintersonne" herumstehen, dann ist das zuviel des Guten. SANDRA KERSCHBAUMER

Ruth Schweikert: "Augen zu". Roman. Ammann Verlag, Zürich 1998. 157 S., geb., 36,- DM.

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